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Gefangen im Dazwischen zweier Welten

1987 veröffentlicht Carlo Bernasconi, Koch und Autor, seinen Roman «Der Italiener». Nun wurde das Buch posthum neu herausgegeben und bezeugt, dass das literarische Zeitdokument einer Migrationsgeschichte nichts an Aktualität eingebüsst hat.

Von Sabrina Buonvicino
9. Oktober 2023

Der Italiener spielt Ende der 60er Jahre zwischen der Schweiz und Italien und erzählt von einem Dolmetscher italienischer Herkunft, der unbedingt Koch werden will und von Zürich aus beschliesst, einige Cousins in der Region Veneto zu besuchen. Der Aufenthalt in dem Dorf, wo die Familie seiner Grosseltern lebte, gestaltet sich als eine Reise in die Vergangenheit, die ihm mehr und mehr seine eigene Herkunft entdeckt. Es ist die Geschichte einer seiner Tanten, die den Rahmen für die Erlebnisse absteckt, die der Erzähler über seine Vorfahren berichtet.

Zum Autor

Carlo Bernasconi, geboren 1952, verstorben 2016 in Zürich, war Journalist, Restaurateur und Koch. Er war ein erfolgreicher Kochbuchautor und hat sich mit seinen literarischen Werken als Chronist seiner Generation einen Namen gemacht. Zu seinen Lyrik- und Prosaveröffentlichungen gehören u.a. der Gedichtband »Die Liebenden« (1987) sowie die Romane »Der Mann« (1983) und »Mann ohne Schatten« (1996). «Der Italiener» ist 1987 erstmals erschienen und wurde 2023 im Telegramme Verlag neu aufgelegt.

Zu den wichtigsten Themen gehört in erster Linie die Verhinderung, die Blockade des Weges zum Glück, der damals darin bestand, einen Platz zum Ausruhen und einen sicheren Arbeitsplatz zu haben, der den Lebensunterhalt garantierte. In diesem Fall ist das Fremdsprachenproblem die entscheidende Ursache für das Scheitern der aktiven sozialen Integration. Dementgegen stellt sich das Bedürfnis, den Mitbürgerinnen und Einwohnern des neuen Heimatlandes die eigenen Ideen und sozialpolitischen Positionen mitteilen zu wollen, was trotz aller Mühsal eine Kapitulation verhindert. Im Hinblick auf den historischen Kontext fehlt es nicht an Hinweisen auf die politischen Spannungen in Italien, aber auch unter den emigrierten Italiener*innen in der Schweiz. Der Druck der Mussolini-Diktatur und die Angst, dass auch in der Schweiz jederzeit ein Angriff des nationalsozialistischen Deutschlands zu befürchten war, spiegeln sich in den Erzählungen der Vorfahren. Die Geschichte der Tante, die zunächst indirekt durch die Worte der Mutter erzählt wird, und die Geschichte des Erzählers kreuzen sich erst spät in der Gesamterzählung und profitieren von der detailreichen Schilderung, die das so zusammengefügte Familienportrait realistisch und glaubwürdig scheinen lassen. Dabei erzählt der Roman die Entstehung eines migrantischen Bewusstseins als eine Errichtung von «Stellwänden», die zunächst den Blick verstellen, die blockieren und quälen und schliesslich jegliche Heiterkeit versiegen lassen. Schliesslich bleibt eine spürbare Leere, die dem Emigrantendasein immanent ist und unüberwindbar bleibt. Am Ende seiner Reise steht die Vision eines Lebens, in dem alles endet, aber nichts vergessen wird. Die Grenze zwischen Herkunftsland und dem Land, in dem man gelebt hat, ist nicht mehr greifbar.

Zwei prominente Motive, die in diesem Buch überlagert werden, sind Sprache und Gastronomie. Selbst für die erzählende Hauptfigur, den in der Schweiz aufgewachsenen Italiener, ist die Sprache des Veneto, der Dialekt, in manchen Fällen unverständlich; andererseits ist die deutsche Sprache wiederum eine Sprachparriere par excellence für seine Vorfahren aus Italien und deren Kinder. Typographisch sind Wörter und Sätze im Italienischen wiederohlt durch grammatikalische Fehler gekennzeichnet und in einigen Fällen handelt es sich um typische Dialektausdrücke. Auch dies fügt sich ein in die Mangelerfahrungen, die die Person mit Migrationshintergrund sich als unvollständig wahrnehmen lässt. Der Protagonist interessiert sich zwar sehr für die italienische Küche, möchte aber vornehmlich die traditionellen Gerichten seiner Herkunftsfamilie lernen. Es sind ebendiese Gelegenheiten, in denen regionaltypische Speisen und Menüs zubereitet werden, bei denen der Kontakt mit der fremden Sprache gesucht wird. Die Verbindung zum Essen ist denn auch autobiographisch verbürgt, erlangte Bernasconi doch grosse Bekanntheit für seine Kochbücher.

Ein weiteres Thema, das nach der Lektüre des Romans einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt, ist die Nostalgie. Die AuswandererInnen vermissen ihr Heimatland unablässig. Wenn sie jedoch in ihr Land zurückkehren, erleben sie ambivalente Gefühle. Die Gründe für eine endgültige Rückkehr sind vielfältig, doch am Ende fällt es trotz der Nöte in der Fremde schwer, den Schritt zurückzumachen und an den Ausgangspunkt zurückzukehren. Vielleicht aus Stolz, vielleicht aus anderen Bedürfnissen heraus. Nostalgie ist ein Gefühl, das einen zermürbt und auf Dauer jeden Bezug zur eigenen Jugend, zur eigenen Herkunftsfamilie unterdrückt. Es ist ein Gefühl, das immer noch im Herzen und manchmal im Magen bleibt und diejenigen, denen die Anpassung nicht ganz gelingt, schmerzt und beunruhigt.

Jahre später, trotz des Generationswechsels, hat sich wenig im Kern des Daseins der Emigrant*innen verändert. Dieser Roman liefert den Beweis dafür, er ist die Dokumentation einer Realität aus einer scheinbar fernen Vergangenheit. Geschichte und Kultur verweben sich zu einer komplexen Erzählstruktur, der rote Faden wird durch Abschweifungen und plötzliche oder alltägliche Ereignisse kurzzeitig aus den Augen verloren. Mit Der Italiener hat Carlo Bernasconi einen Roman geschrieben, der ein breites Publikum anspricht, der sowohl für Jugendliche als auch für Erwachsene geschrieben ist und kulturgeschichtliche Ereignisse in eine überzeugende Geschichte mit einem gelungenen Spannungsbogen vermittelt.

Carlo Bernasconi: Der Italiener. 170 Seiten. Zürich: Telegramme 2023, ca. 15 Franken.

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