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Gegenwartssprechen und Herkunftsnachklang

Ivna Žics Neuerscheinung «Wahrscheinliche Herkünfte» ist in jeglicher Hinsicht hybrid: In einer Komposition aus Roman- und Tagebuchelementen unternimmt der Text die Suche nach den Stimmen seiner Ahnen und reflektiert zugleich das kindliche Verhältnis zur Sprache.

Von Lidija Dragojevic
2. Oktober 2023

Addierte Sprachvielzahl

«Ich muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein, noch vor der Einschulung, denn dort wurde dann alles, was ich hier beschreibe, zurechtgerückt.» Die Ich-Erzählerin wühlt infolge des Umzugs ihrer Eltern nach Zagreb in ihrer Vergangenheit und findet dabei ihre ersten Versuche, ein Buch und ihren Namen zu schreiben. Die Buchstaben ähneln zwar dem konventionellen Alphabet, folgen allerdings einer eigenen Logik, einer Kindeslogik womöglich, und gerinnen für die Erzählerin zum Sinnbild ihrer Vielsprachigkeit. Eine Kette aus (Be)Deutungen beginnt: Wann wurde die Vielsprachigkeit «zurechtgerückt»? Warum gibt es Risse zwischen den Generationen, deren Sprachen nachklingen, und jenen, die «perfekten Dialekt» sprechen? Inwiefern soll eine «Perspektive des und und und. Des: dazu» eingenommen werden?

Zur Autorin

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Sie lebt in Zürich und Wien.
Foto: © Katharina Manojlovic

Grosselternpoetiken

«Wahrscheinliche Herkünfte» begegnet diesen Fragen mit einer Suche nach den Geschichten der Grossmütter und des Grossvaters und überführt diese in literarische Schreibverfahren. Obwohl es sich bei den Grosseltern nicht etwa um ehemalige Autor*innen handelt, scheinen ihre persönlich gefärbten Erzählweisen, die die Ich-Erzählerin sorgfältig beschreibt, formal durch die Zeilen hindurch. Die Grossmutter-Poetik ist fragmentarisch, setzt auf Highlights, aber sie kennt auch kämpferische sowie zarte Töne. Mit viel Aufwand muss sie ausgegraben und aufgearbeitet werden, denn in ihrer Recherchearbeit begegnen der Erzählerin eine Fülle von Informationslücken. Dabei versucht sie nicht etwa anstelle ihrer Grossmütter deren Geschichten zu erzählen, sondern erinnert sich der Gespräche, der Wohnorte und ihres damaligen Bildes der Grossmütter. So übersetzt sie ihre gemeinsamen Wirklichkeiten nach ihrem Tod in einen Text, der zu einem Speicher von Erinnerungen gerät.

Im Grossvater-Kapitel nimmt der Text einen ganz anderen Ton an: Als Leser*in bewegt man sich plötzlich gemeinsam mit der Ich-Erzählerin auf einem Feld, dessen Ereignisse trotz der inzwischen vertieften historischen Aufarbeitung des Jugoslawienkriegs bis anhin unerzählt geblieben sind. Das Setting ist also ein anderes, die literarische Aufarbeitung von Verlusten dieselbe: «Stelle dir immer wieder nichts vor und suche doch weiter, suche für den Großvater Sprachen, finde Sprachen, ändere Sprachen […]».

Erzählen, um zu begegnen

Der Motor dieses ständigen Recherchedrangs erschliesst sich erst gegen den Schluss des Buchs. Sichtbarkeit, Empörung und Sensibilisierung können in den Augen der Erzählerin vor allem durch Sprache und Erzählen erreicht werden: «Wir haben das gemacht, Bashir. Niemand bewegt etwas allein. Das ist Vervielfachung, die in Bewegung ist. Das ist Begegnung.» Genau diese bewegte Vielfachheit schlägt im Buch in Vielfältigkeit um und kombiniert erzählerische Mittel mit lyrischen, um dem Appell der Erzählerin Nachdruck zu verleihen. Žic entwirft einen mehrsprachigen Text mit vielen Identitäten, die weiter sprechen und erzählen werden müssen. Immer wieder.

Ivna Žic: Wahrscheinliche Herkünfte. 217 Seiten. Berlin: Matthes & Seitz 2023, ca. 29 Franken.

Weitere Bücher