KW39

Von den Strapazen einer Selbstfindung

Luise Maier erzählt in ihrem zweiten Roman «Ehern» eine Familienchronik als eine verschlungene Suche nach Identität und Herkunft.

Von Simona Savić
25. September 2023

Ein fremdes Leben

Gefühle, Träume und Ängste, die sie nicht einordnen kann, verfolgen Ida ihr Leben lang. Immer wieder gerät sie in Situationen, die sie nicht deuten kann und versteht nicht, warum sie von heftigen Gefühlsausbrüchen überrascht wird. Sie lebt unentschlossen, sprunghaft und sucht nach Antworten auf Fragen, die sie selbst nicht kennt. Luise Maier schickt in ihrem 2023 erschienen Roman ihre Hauptfigur Ida auf eine Identitäts- und Herkunftssuche, die sie immer wieder an ihre Grenzen bringt. Verfolgt von einer inneren Unruhe, gerät Ida fortlaufend in Schlaufen altbekannter Verhaltensmuster, auf der Flucht vor ihrem dauerrotierenden Gedankenkarussell – extreme Reisen, ausgiebige Partynächte und ständig wechselnde Affären sind fester Bestandteil ihres Lebens. Als sie jedoch Antoine und seine beiden Töchter kennenlernt, wird ihr klar, dass sie ihren Ängsten nachspüren muss. Die Liebe zu Antoine tut Ida gut und obwohl sie mehrmals daran denkt, sich wieder auf belanglose Affären einzulassen, bleibt sie Antoine treu.

Zur Autorin

Luise Maier, geb. 1991 in Schardenberg (Österreich), studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und seit 2020 Freie Kunst am Institut Kunst in Basel. Sie arbeitet als bildende Künstlerin und ist Autorin. Für ihren Debütroman «Dass wir uns haben» (2017) erhielt Maier den Berner Literaturpreis. Mit «Ehern» veröffentlichte sie 2023 ihren zweiten Roman. Luise Maier lebt in Biel.
Foto: © Lucas Dubuis

Stattdessen fasst sie nun den Mut, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen – mit einer Vergangenheit, die von familiären Dramen und allerhand Geheimnissen geprägt ist. Ihre Grossmutter Magdalena spielt in dieser Familiengeschichte die Hauptrolle. Es wird spekuliert, ob sie eine Liebelei ihrer Schwester gemeldet habe und ihre Schwester Anna deswegen ins Gefängnis kam. Die Geschichte der beiden Schwestern erweist sich als einigermassen kurios: Als Anna nach ihrem Gefängnisaufenthalt Anton heiratet und Kinder mit ihm bekommt, stirbt sie kurz darauf. Daraufhin heiratet Annas Schwester Magdalena ihren Schwager Anton, sie wird zur Stiefmutter ihrer Nichten und zeugt obendrauf noch weitere Kinder mit Anton – darunter Idas Mutter. Die Familie lebt fortan unter der erzieherischen Autorität Magdalenas, die fasziniert ist von Johanna Haarers nationalsozialistischer Pädagogik. Ihre Erziehung ist unter anderem der Grund für die transgenerationellen Traumata, die ihre Kinder und Kindeskinder zu tragen haben.

Gezielte Desorientierung

Luise Maier erzählt in Ehern eine Familiengeschichte, die geprägt ist von historischen Ereignissen und familiären Dramen. Als Leser*in ist man von Anfang an Teil der sprunghaften Gedanken und Erinnerungen der Protagonistin Ida. Im ersten Teil des Romans wird man in die verschiedenen Gedankenströme Idas hineingezogen. Der österreichischen Autorin gelingt es, Idas Sprunghaftigkeit auf die sprachliche Ebene zu überführen: Wesentliche Informationen werden ausgespart, ständige Ortswechsel sorgen bei den Lesenden für Orientierungslosigkeit und das grosse Figurenpersonal erhält im Einzelnen nur ein schwaches Charakterprofil. Luise Maier schafft es jedoch, Idas Gefühl des Dazwischen-Seins erzählerisch greifbar zu machen. Da man als Leser*in zu Beginn bloss eine ungeordnete Menge an Bruchstücken vorliegen hat, muss man sich gemeinsam mit der Protagonistin auf die Suche nach dem grossen Zusammenhang begeben.

Happy End

Was das Ziel von Idas Suche ist, das wird schliesslich im zweiten Teil des Romans aufgeklärt. Darin erfahren wir von der Familiengeschichte von Idas Mutter im Detail und von den Hintergründen der einzelnen Figuren, die uns im Roman begegnen. In diesem familienhistorischen Teil des Romans finden Ida und somit auch die Lesenden endlich Antworten auf die Fragen der Vergangenheit. Während der zweite Teil des Romans den Figuren eine familienbiographische Tiefendimension hinzufügt, werden im dritten Teil schliesslich die Auswirkungen dieser Familiengeschichte auf Ida und ihre Familie in der Gegenwart aufgezeigt. Idas Suche kommt damit zu ihrem Ende und damit zu einem Happy End, denn nun kann sie sich auf ihr Leben im Hier und Jetzt fokussieren und sich zum ersten Mal auf ihre Liebe mit Antoine einlassen.

Luise Maier schickt die Leser*innen in Ehern auf eine innere Reise, in der man gemeinsam mit Ida eine Entwicklung von der Orientierungslosigkeit, über die Selbsterkenntnis hin zur Akzeptanz mitgeht. Sich auf diese Reise mit der Protagonistin einzulassen, lohnt sich für die Leserschaft allemal – die geheimnisvolle Familienchronik bietet mitreissende und dramatische Erzählepisoden, die das Lesen spannungsreich und unterhaltsam gestalten.

Luise Maier: Ehern. 166 Seiten. Göttingen: Wallstein Verlag 2023, ca. 33 Franken.

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