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«Damit das niemals vergessen geht»

Geboren wurden sie in verschiedenen europäischen Ländern. Getroffen hat sie Simone Müller in der Schweiz, etwa acht Jahrzehnte später. Sie alle haben etwas gemeinsam: ihre Kindheit wurde geprägt vom Zweiten Weltkrieg und der Verfolgung durch das NS-Regime.

Von Jacqueline Marlies Kalberer
27. Januar 2023

In ihrem neuen Buch «Bevor Erinnerung Geschichte wird» porträtiert Simone Müller 15 Überlebende des NS-Regimes. Das Besondere: die porträtierten Personen gehören zur jüngsten und gleichzeitig einzigen Generation, die über eine Zeitpanne von 80 Jahren auf das nationalsozialistische Terrorregime zurückblickt. Als sogenannten Child Survivors wurde ihnen während Jahrzehnten wenig Beachtung geschenkt. Es wurde angenommen, dass sie die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit schnell vergessen würden. Sie selbst versuchten häufig, genau das zu tun und ein normales Leben zu führen. Heute stellen viele fest, dass die Erinnerungen noch immer da sind, dass sie ihr Leben geprägt haben und mit zunehmendem Alter sogar wieder stärker werden.

Schmerzhafte Erinnerungen

Die Erzählungen aus zahlreichen Begegnungen und Gesprächen fügt Simone Müller zu Bildern zusammen, in denen Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen. Sie portioniert den Schrecken der Erinnerungen durch Zwischentitel und umrahmt ihn mit Beschreibungen der Erzählsituation. Auch lässt sie die Porträtierten durch eine konsequente Einbindung von O-Tönen selbst zu Wort kommen und vermittelt so deren Umgang mit der eigenen Erinnerung.

Zur Autorin

Geboren 1967 in Boston (USA), aufgewachsen in Bern, ist freie Journalistin und Autorin in Bern. Sie studierte Germanistik und Ethnologie in Bern und Wien. Von 2003 bis 2005 lebte sie in London, 2015 veröffentlichte sie eine Biografie «Über London und Neu­seeland nach Eggiwil. Die Geschichte der Claire Parkes-­Bärfuss». 2017 erschien ihr Buch «Alljährlich im Frühjahr schwärmen unsere jugen Mädchen nach England» mit 59 Fotografien von Mara Truog. Ihr Buch «Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute – 15 Porträts» erschien im Herbst 2022.

Durch die Struktur der Porträts macht Simone Müller immer wieder deutlich, welchen Einfluss die Erlebnisse ihrer Kindheit auch heute noch auf die porträtierten Menschen haben, wie quälend das erfahrene Leid, aber auch die ungeklärten und unklärbaren Fragen der Vergangenheit heute noch sind. Gleichzeitig ermutigt Simone Müller ihre Leser:innen dazu, sich über die historischen Fakten zu informieren. Ein Glossar und eine Zeittafel bieten dafür eine erste Gelegenheit und verweisen an weiterführende Quellen, die zudem durch ein Literaturverzeichnis ergänzt werden.

Sprechende Bilder

Umrahmt werden die Erinnerungen auch von Fotografien von Annette Boutellier. Genau wie die schriftlichen Erzählungen gewähren auch die Fotografien Einblicke in die Vergangenheit und Gegenwart, in die Lebensumstände und Eigenheiten der Porträtierten. Durch die Bilder wird besonders deutlich, wie unterschiedlich diese Menschen mit ihrer Vergangenheit umgehen. So zieht es eine Person beispielsweise vor, ihr Gesicht hinter einer Fotografie von sich selbst als kleines Mädchen zu verbergen; mehrere lassen sich unter einem Pseudonym porträtieren. Die Art der Selbstdarstellung verdeutlicht, wie tief manche Porträtierten ihre Erinnerungen an die eigene Kindheit vergraben haben, wie sie diese bis heute von ihrem aktuellen Ich zu trennen versuchen.

Für eine bessere Zukunft

Die bruchstückhafte Erzählweise, die sowohl in der Erinnerung als auch in der Erzählgegenwart immer wieder Zeitsprünge enthält, macht es mir als Leserin teilweise schwer, die Chronologie der Ereignisse zu verstehen. Trotzdem gelingt es Simone Müller mit ihrem Buch, das Wissen um die Vergangenheit auf eine Art und Weise zu vermitteln, die berührt. Die persönlichen Erlebnisse und Erinnerungen der Porträtierten schaffen gerade für jüngere Leser:innen einen Bezug zu den unvorstellbaren Schrecken, die bereits mehr Teil der Geschichte als der eigenen Lebenswelt sind. Dennoch werden diese Schrecken durch die Erzählung nicht banalisiert, denn häufig fehlen den Porträtierten selbst die Worte für ihre schlimmsten Erfahrungen. Die Leerstellen in den Erzählungen lassen Raum für das Grauen, für das es keine Worte gibt. Gerade jetzt, da in Europa wieder Krieg herrscht, sensibilisiert dieses Buch erfolgreich für die Schicksale derjenigen, die schlecht auf sich selbst aufmerksam machen können und deshalb häufig übersehen werden – die Kinder.

Simone Müller: Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des NS-Regimes in der Schweiz heute – 15 Porträts. Mit einem Vorwort von Raphael Gross und Eva Lezzi. 256 S. Zürich: Limmat Verlag 2022. ca. 38 Franken.

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