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Geschichte einer «phobischen Zerstörungswut»

Am 27. November 1998 erhält Mariella Mehr die Ehrendoktorwürde von der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Basel für ihre literarische sowie aktivistische Arbeit. «Von Mäusen und Menschen» heisst die Rede, die sie vor versammelter Fakultät hält und die am 27. Oktober 2022 – nur wenige Wochen nach ihrem Tod – beim Limmat Verlag erschienen ist.

Von Vera Zimmermann
16. Januar 2023

Die Gewalt des Hilfswerks

Mit Von Mäusen und Menschen liefert Mariella Mehr eine scharfe Analyse der Verbrechen, die unter dem Deckmantel der Fürsorgearbeit in der Schweiz des 20. Jahrhunderts an Jenischen begangen wurden – eine Geschichte, die sie keineswegs für beendet erklärt. Täter und Taten kennt Mehr und macht sie entlang ihrer eigenen Biografie sichtbar. Zusammen mit über 600 Kindern wurde Mehr Opfer des Hilfswerks Kinder der Landstrasse von Pro Juventute, in dessen Namen zwischen 1926 und 1973 in der Schweiz jenische Kinder ihren Familien entrissen und in Erziehungsanstalten gesteckt wurden. Im Brief an ihre Mutter, der den zweiten Teil der Rede ausmacht, schreibt Mehr dazu: «Später werden sie den Kinderraub, als notwendige Fürsorgemassname getarnt, in die Annalen ihrer phobischen Zerstörungswut einreihen.» An Belegen für die «phobische Zerstörungswut» mangelt es nicht, allzu deutlich sind deren Spuren. Sie zeigen sich in unzähligen Gewaltakten gegen Jenische, die Mehr in ihrer Rede klar benennt und damit gegen das Festschreiben in den Annalen kämpft und sowohl an die Verantwortung als auch die Menschlichkeit der Zuhörenden appelliert.

Zur Autorin

Mariella Mehr, geb. 1947 in Zürich, wuchs in Heimen, bei Pflegeeltern, in Erziehungsanstalten auf und war Betroffene der Zwangsmassnahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse». Ab 1975 publizierte Mehr journalistisch und verfasste Essays. Ihr literarisches Debüt veröffentlichte sie 1981 mit dem Roman «Steinzeit». Ihr literarisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen honoriert, darunter der Bündner Literaturpreis (2016) und der Pro-Litteris-Preis (2012). Für ihr publizistisches Engagement für unterdrückte Minderheiten erhielt sie 1998 die Ehrendoktorwürde der Universität Basel. Mariella Mehr verstarb am 5. September 2022.
Foto: © Ayse Yavas

Unwissen und Mitschuld

Mit «Sehr geehrte Damen und Herren» beginnt Mariella Mehr ihre Rede, mit «[l]iebe Anwesende» leitet sie den letzten Absatz ihrer Ansprache ein. Der Übergang von der anfänglich höflich-distanzierten Haltung in das vertraute «liebe Anwesende» drückt zum einen Mehrs Hinwendung zum Publikum aus – eine Geste, mit der sie ihre geforderte Solidarität zum Ausdruck bringt. Zum anderen zeigt sich im nuancierten Changieren der Anredeformel auch Mehrs präziser Einsatz von Sprache. Ihm liegt das Wissen um eine andere Verwendung von Sprache zugrunde, welche die Verbrechen an Jenische begleitet und legitimiert. So eignet sich Mehr beispielsweise auch das Täterwort «Fürsorge» an und markiert genau damit die Macht der Fürsorge-Praktiken, wenn sie im Brief an ihre Mutter schreibt: «Dauerversorgt wurde Deine Herkunft, Deine Erbmasse und Dein Makel, überhaupt zu sein.» Mit dieser semantischen Revision der Fürsorgearbeitet verfolgt Mehr zwar auch die Sichtbarmachung des Missbrauchs, sie geht jedoch noch einen Schritt weiter. Indem sie in ihrer Rede einen anderen Vortrag wiederholt, die sie einige Jahre zuvor in der Psychiatrischen Kantonsklinik St. Urban gehalten hat, klagt sie die ausgebliebene Wirkung ihrer damaligen Rede an. Obwohl sie damals die Verbrechen an Jenische in Psychiatrien sowie konkrete Akteure deutlich benannt hat, muss sie feststellen, dass die Evidenz und Sichtbarkeit allein nicht gegen die Weiterführung und -finanzierung von diskriminierenden Praktiken ausreichen. Entsprechend geht Mehr den Netzwerken nach, die öffentlich wirksam den grausamen Umgang mit Jenischen legitimieren und richtet sich dabei direkt an das versammelte akademische Publikum.

Die Gewalt der Wissenschaft

Von Mäusen und Menschen ist keine Serviceleistung, obwohl Mehr die Verknüpfungen zwischen öffentlichen Geldern, herabwürdigenden Publikationen und ausgebliebener Aufarbeit darlegt. Vielmehr nutzt Mehr gerade das Moment der Wissensvermittlung, um an die Verantwortung des Publikums zu erinnern, das sich als Teil des Netzwerks denken soll: «Unwissen schützt nicht vor einer gewissen Mitschuld, da dieses Unwissen beim heutigen, freien Zugriff auf alles Geschriebene nur als Folge einer grenzenlosen Gleichgültigkeit gewichtet werden kann.» Zugleich bindet Mehr die Zuhörenden – im Publikum sind es vor allem Historiker*innen – in das von ihr beschriebene Netzwerk ein. In der unreflektierten Übernahme und Weiterschreibung vermeintlich wissenschaftlicher Forschung, die ihre eigenen Schwerpunkte und Bewertungen nicht überprüft, erkennt Mehr die mögliche Gewalt akademischer Arbeit: «Der Begriff ‹Wertfreiheit› in der Wissenschaft kaschiert nichts anderes als die institutionalisierte Verantwortungslosigkeit.» Mit der Veröffentlichung der Rede gut 20 Jahre später wird der Pendelstab in dieser Stafette der Aufarbeitungs- und Revisionsarbeit weitergegeben. Die Verantwortung liegt nun bei den Lesenden, die der Entwicklung ab 1998 nachgehen und ihre eigene Position überdenken sollen.

Mariella Mehr: Von Mäusen und Menschen. 56 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2022, ca. 22 Franken.

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