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Es wächst ein Karussell

Ein 50-jähriger Mann flüchtet in eine selbstkonstruierte Identität, um dem erbarmungslosem Leben zu entkommen. Anaïs Meiers tragikomische Kriminalgeschichte «Mit einem Fuss draussen» unterläuft die gängigen Gattungskonventionen und überzeugt insbesondere durch seine originelle Sprache.

Von Silvan Preisig
21. Februar 2022

Die Auflösung des Rätsels präsentiert die Autorin auf der allerletzten Seite, nach dem Schluss der Geschichte. Natürlich soll sie hier nicht verraten werden, denn das Buch ist schliesslich ein knallharter Kriminalroman. Diese Behauptung würde man zumindest dem Ich-Erzähler des Textes, Kommissär Gerhard, unterstellen. In seinem Mikrokosmos, dem Egelseepark, wird diese Fantasie lebendig. Denn Gerhard findet einen abgetrennten Fuss in einem kleinen See und vermutet ein Verbrechen. So beginnt die Geschichte. Im Verdacht hat er die Anglerfischer, die vor allem durch dumme Sprüche und Bier trinken auffallen. Dann ist da noch die Securitasangestellte Rita Blüehler, die im Park die Aufsicht hat, aber der steht die Faulheit ins Gesicht geschrieben. Also nimmt sich Gerhard, besorgt um die Idylle in seinem geliebten Park, der Sache an. Und auf den ersten Blick hat die Geschichte alles, was es für einen Taschenkrimi braucht: Eine Leiche im See, ein einsamer Ermittler, ein bisschen Sex und viel Whiskey. Doch den Lesenden wird schnell klar, dass es sich hier nicht um einen klassischen Krimi handelt.

Zur Autorin

Anaïs Meier, geb. 1984 in Bern, studierte Literarisches Schreiben in Biel. Seit 2020 ist sie schriftstellerisch tätig, veröffentlicht Kurzgeschichten und Prosa und schreibt eine Kolumne für die Fabrikzeitung. Meiers Debütroman «Mit einem Fuss draussen» erschien 2021 und wurde für den Literaturpreis Magic, Pop und Ewigkeit nominiert sowie mit dem Förderpreis Komische Literatur 2022 ausgezeichnet.
Foto: © Enrico Meyer

Supergerhard: Hart, klug, potent

Die Hauptfigur, der selbsternannte Kommissär, eifert berühmten fiktiven Ermittlern nach und inszeniert sich nach deren Vorbild. So legitimiert er seinen Whiskey-Konsum, indem er ihn «Whiksy» nennt, wie in Friedrich Glausers Erzählung Der Chinese. Um an Informationen für seinen Fall zu gelangen, versucht er Frau Blüehler zu verführen. Ganz nach dem Motto: Ein Kommissär muss auch mal mit Agentinnen schlafen – Vorbild, na klar, 007. Aufgrund der Schreibweise muss man auch unweigerlich an ‹Kommissär› Bärlach denken. Wie Bärlach ist Gerhard ein intuitiver und einsamer Ermittler. Das Eingangszitat von Anaïs Meiers Roman ist dafür passend ausgewählt: «I’m a loner / Been a loner since high school / And a loner ain’t no fool» (aus Daniel Johnstons Song Loner). Es eröffnet den Zugang zum Selbstverständnis von Gerhard. Die Einsamkeit nagt zeitweise an seinem Gemüt, doch kann er sich stets auf seine Intelligenz verlassen. «Supergerhard, du. Das bin ich», versucht er sich selbst zu überzeugen. Tatsächlich scheint er übernatürliche Fähigkeiten zu haben. Nach Vorbild eines romantischen Ideals steht Gerhard in Kontakt zum Universum – zu den Dingen. Er macht es sich zur Aufgabe, die Balance seiner Umgebung aufrechtzuerhalten. Als hypersensibles Medium kommuniziert er mit der Natur, freundet sich mit der Ente an und der See bittet ihn um Hilfe, da der Fuss dessen Gleichgewicht stört.

Wer ist eigentlich der Gegner?

Die Suche nach dem Fuss zieht sich bis zum Schluss, und trotzdem ist der eigentliche Konflikt ein anderer. «Ich muss nur herausfinden, wer genau mein Gegner ist», reflektiert Gerhard seine Lage. Der Text führt uns vor, wie Gerhard zwischen Selbsttäuschung und Selbstaufgabe schwankt. Niemand scheint es gut mit ihm zu meinen: «Nie dankt mir jemand. Im Auftrag der Welt handle ich, und die Welt macht nichts und lacht mich aus». Einzig mit den Tieren und Frau Blüehler versteht er sich. So werden dann menschliche Attribute wie Empathie und Hilfsbereitschaft in das Verhalten der Tiere gelegt und die Menschen umgekehrt animalisiert. Als Leser*in fragt man sich, ob man es hier mit einer Ironisierung eines Randständigen zu tun hat. Dafür liefert der Sound des Textes aber zu wenig Boden. Die Freundschaft zu den Tieren scheint für Gerhard vielmehr eine Flucht vor seiner Einsamkeit zu sein. Ob sie nur in seinem Kopf stattfindet oder nicht, bleibt unklar. So ist der eigentliche Gegner nicht nur das gesellschaftliche System, in dem sich Gerhard nicht zurechtfindet, sondern er selbst.

Kinderbuch für Erwachsene

Anaïs Meier gelingt es, mit einer anrührenden Sprache die Perspektive eines Mannes zu zeigen, der zwischen Obdachlosigkeit, Alkoholsucht und sozialer Ausgrenzung sein Selbstwertgefühl und seinen Platz in der Gesellschaft sucht. Darin liegt die Stärke des Textes. Manchmal scheint es, man lese ein unschuldiges Kindermärchen, nicht nur wegen der Phantastik, sondern Sätzen wie diesen: «Es wächst ein Karussell über dem Kopf» oder «Ich muss ja in das Internet hineingehen». Aber auch eine melancholische Stimmung drückt immer wieder durch, die jedoch stets ins Leichte und Spielerische aufgehoben wird: «Es ist, als würde mein Bewusstsein rechts aus meinem Ohr steigen und dann flattert es wie ein Ballon über meinem Kopf. Und ich sehe mich selbst von dort, von meinem Bewusstsein aus, von oben».

Gerhards selbstkonstruierte Phantasiewelt, in der er als Held figuriert, ist weder lächerlich noch naiv, sondern überlebensnotwendig. Auch seine steigende Zuneigung für Rita Blüehler ist von einer kindlichen Reinheit. Erst ganz am Schluss gesteht er sich und ihr seine Gefühle ein. Ein etwas kitschiges Ende, aber Gerhard darf das, er hat es sich verdient und die Leser*innen auch. Anaïs Meier konnte es nicht lassen, uns die Lösung des Kriminalfalls, kompakt und auf dem Kopf stehend, wie in einem Rätselbuch im Anhang des Textes mitzugeben. Das passt zum Kinderbuchstil des Romans, wäre aber nicht nötig gewesen. Die Illusion, die Ungewissheit, macht den Text erst interessant. Man möchte das Rätsel nicht gelöst wissen – sondern lieber weiter mit Gerhard in seinem Kopf und den Gesprächen mit der Ente lauschen.

Anaïs Meier: Mit einem Fuss draussen. 128 Seiten. Berlin: Voland & Quist 2021, ca. 25 Franken.

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