KW34

«… die soziale Zirkulation von schlechtem Gewissen.»

Yael Inokai

Yael Inokais «Mahlstrom» gehörte im vergangenen Jahr sicherlich zu den interessantesten Schweizer Texten. Im Rahmen der Solothurner Literaturtage führte Shantala Hummler mit der Autorin ein ausführliches Gespräch über Dorfgemeinschaften, Höflichkeitskultur und Gewalt.

Von Redaktion Buchjahr
26. August 2018

Yael, Dein Roman handelt von etwas Unerwartetem und Unkontrollierbaren: Er beginnt mit dem Begräbnis der Figur Barbara, die sich das Leben genommen hat. Ihr Suizid bricht als ein überraschendes Ereignis in die Ordnung der Dorfgemeinschaft, aus der sie stammt, ein. Es ist genau genommen der erste Gewaltakt, von dem Mahlstrom erzählt. Zwar wirkt sich Barbaras Suizid durchaus auf die einzelnen Mitglieder des Dorfes und ihren Umgang untereinander aus. An den Strukturen und dem Zusammenleben der Gemeinschaft ändert sich jedoch nichts, das Leben geht weiter wie zuvor. Hat das exemplarischen Charakter?

Mich interessierten primär zwei Dinge: Zum einen wollte ich etwas erzählen, das die Erwartung bei den Leser*innen weckt, dass nach einem so tragischen Ereignis etwas von aussen kommen muss. Dies trifft jedoch nicht ein, was bedingt, dass etwas von innen, von der Gemeinschaft her geschehen muss. Zum anderen wollte ich von einem Zustand erzählen, der unhaltbar ist und unmöglich so weitergehen kann, dann aber doch so weitergeht. Derart wirkt Barbaras Suizid, als ob man für einen Moment die Nadel von der Platte genommen hätte, um sie dann sogleich weiterspielen zu lassen.

Diese Veränderungsresistenz, die jene Dorfgemeinschaft kennzeichnet, weist auf eine äusserst kulturpessimistische Weltsicht hin. Erzählt Mahlstrom von einer grundlegenden Hoffnungslosigkeit?

Nein, ganz im Gegenteil. Zumindest nicht für mich. Es ist nun mal, wie es ist, manchmal sind Veränderungen so klein, dass man sie mit bloßem Auge nicht erkennen kann. Und natürlich ist es hoffnungslos, wenn man merkt, wie machtlos man Gewalt und Sprachlosigkeit häufig ausgesetzt ist. Aber man ist eben nicht völlig machtlos. Es kann nur gut sein, dass man von der Arbeit, die man investiert, selbst nicht viel hat. Man darf es also nicht nur für sich machen und schon gar nicht, weil man denkt, es wird einem gedankt. Dass ich eine Frau bin, die schreiben und wählen und lieben kann, wen ich will, ist nicht mein Verdienst. Dafür haben andere ihr Leben gegeben. Meiner Ansicht nach erzähle ich also durchaus von der Hoffnungslosigkeit, aber auch von der Hoffnung darin. Von Möglichkeiten. Von der Zukunft.

Beschreiben diese zwei Strukturmomente sozialer Gemeinschaften etwas wesentlich Schweizerisches?

Es beschreibt sicher etwas, das man als Schweizerisch bezeichnen kann. Wesentlich Schweizerisch ist sicher der Mechanismus vom Nicht-Reden-dürfen, keine Sprache dafür zu haben, was man sagen möchte. Trotzdem verspürt man den Drang in sich, etwas zu erzählen, was dazu führt, dass man irgendwie an diesem Schweigen und dieser konstruierten Sprache vorbeikommen muss, um zu dem zu finden, was man in sich hat und mitteilen will. Mahlstrom erzählt von unterschiedlichen Versuchen, dies zu bewältigen.

Zur Autorin

Yael Inokai, geb. 1989 in Basel, lebt in Berlin. Studium der Philosophie in Basel und Wien sowie Drehbuch und Dramaturgie in Berlin. Nach ihrem vielbeachteten Debüt «Storchenbiss» (2012) erhielt Inokai für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» (2017) den Schweizer Literaturpreis 2018. «Ein simpler Eingriff» ist ihr dritter Roman und wurde mit dem Anna Seghers Preis 2022 ausgezeichnet.
Foto: © Constantin Campean

Was genau meinst du mit konstruierter Sprache?

Das ist tatsächlich etwas Schweizerisches, das ich aus Berlin nicht kenne. In der Schweiz ist es beispielsweise wirklich schwierig zu sagen, wenn einen etwas stört. Wir haben eigentlich keine Sprache dafür. Du gehst nicht zu jemandem hin und sagst: «Hey, weisst du was, das stört mich wirklich.» Vielmehr baut man eine seltsame Konstruktion auf: Zuerst versucht man ganz nett zu sein, sagst etwas, wartet ab, sagt nochmals etwas ganz Nettes usw. Ein Shit-Sandwich eben. Und eigentlich ist man total wütend und das müsste artikuliert werden. Das führt zu einem Ressentiment in den Menschen, das sich aufbaut und die Leute verhärtet. Ausserdem fehlt es im Schweizerdeutschen an Worten dafür, um intensive Gefühle mitzuteilen. Mir scheint das Deutsche da mehr aus dem Bauch heraus zu sein, oder auch das Englische, mit seinen vielen Färbungen. Oft habe ich das Gefühl: Die Schweizer*innen sind zwar sehr höflich, aber nett sind sie nicht wirklich. Sie halten einen höflich auf Distanz. Diese Kultur der Höflichkeit hat jedoch ihre ganz eigenen Tücken: Man muss beständig doppelte und dreifache Böden beachten. Und wahrscheinlich ist es deshalb so, dass ich das Gefühl habe, etwas falle von mir ab, wenn ich in Berlin bin. Ich bekomme einfach eine ehrlichere Antwort als in der Schweiz, wenn ich jemanden etwas frage.

Siehst du auch Vorteile in der Schweizerischen Höflichkeitskultur?

Es gibt eine große Sorgfalt. Ich weiß nicht, ob das zusammenhängt, aber ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie liebevoll Veranstaltungen hier bspw. gemacht werden, wie die Leute sich Mühe geben, zuhören, da sind … das ist wirklich schön, und gibt einem das Gefühl, dass die Arbeit, die man leistet, von Bedeutung ist.

Im sozialen Alltag spielen unterschiedliche Faktoren zusammen, die unser Verhalten und Empfinden bestimmen, persönliche wie auch kulturelle. Ein Blick von aussen kann ein Stück weit helfen, dies aufzuklären und zu differenzieren, wenn auch nie abschliessend. Hat dir der Umzug nach Berlin einen anderen Blick auf die Schweiz ermöglicht?

Definitiv. Was mir beispielsweise aufgefallen ist: Ein Mittel, das wir in der Schweiz oft im Umgang mit anderen einsetzen, ist Schuld. Wenn du etwas gemacht hast, das jemand anderem nicht recht ist, wird das zwar nicht offen artikuliert, man sorgt aber auf eine subtile Art und Weise dafür, dass du dich schuldig fühlst und ein schlechtes Gewissen hast. Einmal war ich auf einem Fest und die Gastgeberin hat sich den ganzen Abend hindurch merkwürdig mir gegenüber verhalten. Als ich nachfragte, meinte sie, dass alles in Ordnung sei. Tage später eröffnete mir eine andere Bekannte, dass es die Gastgeberin gestört habe, dass ich die Schuhe nicht ausgezogen hatte. Dann habe ich natürlich ein schlechtes Gewissen bekommen, obwohl sie es ja einfach hätte ansprechen können. Extreme Höflichkeit ist oftmals zwiespältig: Man teilt etwas Negatives mit, verhält sich zugleich aber sehr nett. Ist man mit dem Code vertraut, versteht man natürlich sofort, dass das nicht nett gemeint war. Daraufhin fühlt man sich in die Irre geführt und weiss nicht, wie man reagieren soll. Ausserdem nimmt es den Menschen die Möglichkeit, souverän mit der Situation umzugehen. Durch diese Höflichkeit ist man gezwungen, sich unterzuordnen. Das gehört stark zur Schweizer Kultur: Nicht-sagend etwas zu sagen und die soziale Zirkulation von schlechtem Gewissen. Unausgesprochenes wirkt jedoch in einem latenten Zustand fort und entlädt sich dann an einem anderen Ort oder in passiv-aggressivem Verhalten.

Ist man als Frau dem Zwang dieser kulturellen Praxis nicht besonders stark unterworfen?

Absolut, denn Frauen werden derart sozialisiert, dass sie für das Herstellen von Harmonie und Einvernehmen in einer Gemeinschaft verantwortlich sind und man trägt die Erwartungen an sie heran, dass sie sich freundlich und nett verhalten. «Lächle doch mal», ich kann nicht zählen, wie oft ich das in meinem Leben schon gehört habe. Gewiss, wir zählen zwar zu einer neuen Generation von Frauen, doch wir tragen diese Rollenbilder nach wie vor in uns. Bis sich Stereotypen und deren Realität wie auch die Mentalität einer Kultur verändern, vergeht viel Zeit. An Podien oder Lesungen erlebe ich immer wieder Alltagssexismus, aber auch mein eigenes stereotypisch weibliches Verhalten. Das ist so tief verankert, dass ich mich frage: Wie komme ich jetzt an eine andere Verhaltensweise ran? Das macht mich ratlos. Das ist auch eine Form von Sprachlosigkeit, ein Unvermögen, etwas nicht zur Sprache bringen zu können.

Fällt Barbara dieser Kultur zum Opfer?

Man kann es so sehen. Aber sie ist bestimmt nicht die einzige. In einer derartigen Ordnung ist kaum eine/r frei.

Der weibliche Wassersuizid ist ein kultureller Topos, der in der westlichen Literatur mit der Figur der Ophelia aus Shakespeares Hamlet populär geworden ist und ab der Mitte des 19. Jahrhundert sowohl in den bildenden Künsten als auch der Literatur eine äusserst produktive Rezeption erfahren hat. Wie reiht sich die Figur der Barbara in diese Tradition?

Darin liegt etwas sehr Problematisches: In weiblichen Biographien wird der Suizid oft als einzige Möglichkeit beschrieben, um etwas zu sagen, als Ausrufezeichen am Ende des eigenen Lebens sozusagen. Frauenfiguren erfahren Repressalien und nehmen sich als Revanche das Leben, so läuft dieses Narrativ. Ähnlich verlaufen biographische Erzählungen über homosexuelle Menschen. Die Message ist: Das kann nicht funktionieren. Diese narrative Dynamik hat mich sehr beschäftigt. Barbara nimmt sich das Leben ja nicht aus Rache, sie ist aber auch keine Märtyrerfigur à la Virginia Woolf. Ich glaube aber schon, dass sie andere Möglichkeiten gehabt hätte, das sagt sie ja auch selber. Im Abschiedsbrief an ihren Bruder schreibt sie: «Es wäre mehr möglich gewesen.» Nichtsdestotrotz wusste ich, dass dieser Tod meiner Figur entspricht. Für mich gab es keine Geschichte, in der Barbara am Schluss noch am Leben ist. Ich habe es echt versucht.

Bedenkt man aber Barbaras soziale Herkunft und ihr Umfeld, kommt man kaum umhin, ihren Suizid nicht als Ausdruck der Repressionen zu lesen, die sie in ihrem Leben erfahren hat. In der Dorfgemeinschaft herrschen konservative patriarchale Strukturen, ihr werden sowohl Privatsphäre als auch Aufstiegs- und somit Ausstiegsmöglichkeiten verweigert und ihr Körper ist wiederholt Objekt sexistischer und abwertender Zuschreibungen. Lädt man den (weiblichen) Suizid zu sehr mit Bedeutung auf?

Der Punkt ist, dass man nichts Anderes mehr hat. Wie kann man einen Suizid nicht versuchen sinnfällig zu machen? Man kommt nicht darum herum, dieses Ereignis in ein bestimmtes Licht zu setzen. Es ist nicht falsch, die Ursachen in der Biographie oder den sozialen Strukturen zu suchen. Doch ein Suizid lässt sich nie gänzlich in den eigenen Sinnhorizont überführen. Im Endeffekt sind es bloss Zuschreibungen und es bleibt eine Leerstelle. Und mittels Auslassungen kann man viel erzählen. Beispielsweise redet niemand über Barbaras Sexualität. Es ist, als hätte sie diese einfach nicht, weil sie so eigenartig aussieht und sich so eigenwillig benimmt.

Zudem geht man von einer Selbstdurchsichtigkeit aus, die schlichtweg nicht gegeben ist. Hierbei gibt es verschiedene Ansätze: Einige sagen, jemand bei klarem Verstand würde sich nie das Leben nehmen. Andere hingegen sagen, nur wer bei wirklich klarem Verstand ist, kann so einen Akt ausüben. Allein dass es diese hermeneutische Polarität gibt, finde ich spannend. Es gibt ja keine grössere Gewalt, die man sich selbst gegenüber ausüben kann, als sich das Leben zu nehmen. Es ist ein so unvorstellbarer Akt.

Diese narrative Aneignung des Suizids wird ja stark in deinem Buch verhandelt. Man folgt den einzelnen Figuren, wie sie versuchen, das Geschehene zu rationalisieren. Dadurch wird aber offenbar, dass das Aneignen von Geschichten immer auch ein Gewaltakt ist.

Genau darum geht es, wer die Rede- und Deutungshoheit hat und wie diese permanent ausgehandelt werden. Die Frage ist: Wen lässt man reden? Und wer redet am lautesten? Viele sagten, Adam, der Bruder von Barbara, sei die spannendste Figur und habe die schillerndsten Textzeilen. Das ist aber nur der Fall, weil er sich das herausnimmt. Er ist einfach laut. Und das ist ein Merkmal patriarchaler Gesellschaften, dass Männer Redevorrang haben. Die Rückseite davon ist das konventionelle Überschreiben von weiblichen Lebensläufen, das auch bei Barbaras Geschichte zum Tragen kommt. Ihr Suizid ist nur einer von vielen Gewaltakten und die Erzählung eröffnet Schritt für Schritt die Perspektive auf ein ganzes Geflecht von Gewalt- und Machtstrukturen. Es spielt keine Rolle, in welcher sozialen Schicht man sich bewegt. Gewalt nimmt einfach verschiedene Gestalten an. Alles ist von Gewalt und Macht und dem Ringen darum durchdrungen.

Das Schweigen als etwas Gewaltsames nimmt eine eminente Stellung in deiner Erzählung ein. Birgt die Literatur das Potential, das Schweigen zu brechen?

Ich wünsche es mir. Sie hat sicher die Kraft, Stimmen zu transportieren. Gerade lese ich viel von James Baldwin. Das ist unbändige, poetische, hoch politische Prosa. Aber manchmal, fürchte ich, ist man in einem ganz kleinen Kreis unterwegs und die meisten bleiben unberührt. Vielleicht nicht alle. Ich hoffe, nicht alle.

Dürfen wir bald mit einem neuen literarischen Werk von dir rechnen?

Ich schätze mal in zwei bis zehn Jahren. Es hilft mir ehrlich gesagt, dass ich nie wirklich einen anderen Beruf gelernt habe, auf den ich zurückfallen kann, wenn es nicht läuft. Dafür wollen die Leute dann oft über meine drohende Altersarmut mit mir sprechen. Aber das ist eine andere Geschichte. Allerdings: Wenn ich mir anschaue, was an Text jetzt da ist, halte ich es für absolut unmöglich, dass daraus ein Buch wird. Ich bin auch schon gescheitert. Ich bin dann wirklich eine schlimme Chefin, die Texte knallhart einstampft, auch wenn ich Jahre daran geackert hab. Also deshalb: zwei bis zehn Jahre. Aber vielleicht lieber zwei. Wegen der Altersarmut.

Das Gespräch führte Shantala Hummler.

Yael Inokai: Mahlstrom. 180 Seiten. Zürich: Rotpunkt 2017. 26 CHF.

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