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«Danach kommt das grosse Vergessen – so wird es für alle von uns sein»

alborghetti conrad

In seinem Versepos «Maiser (L’uomo del mais)» erzählt Fabiano Alborghetti die Geschichte von Bruno - eines aus Umbrien stammenden halbanalphabetischen Bauers, der in den Fünfzigern ins Tessin immigriert, um seine Familie überleben zu lassen. Gianna Conrad hat den Autor für das Buchjahr in Chiasso getroffen und sprach mit ihm über die Arbeit im Archiv, das Fremde, die Vergänglichkeit und über seine Lieblinge der Literatur.

Von Redaktion Buchjahr
13. August 2018

Fabiano, bevor wir in die Tiefe gehen noch etwas Betriebliches: Kam der Schweizer Literaturpreis für Dich überraschend?

Ich habe sehr auf den Preis gehofft, schliesslich stirbt die Hoffnung ja bekanntlich zuletzt. Als dann der Anruf kam, gab es diesen Moment der Stille, der sehr lange andauerte, weil ich geschockt war. Mein erster Gedanke war jedoch nicht «Ich habe den Preis gewonnen», sondern vielmehr ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits gab es dieses ausgeprägte Gerechtigkeitsgefühl gegenüber jenen Menschen, die – wie die Hauptcharaktere in meinem Buch – ins Tessin oder gar in die Deutsch- und Westschweiz ausgewandert sind. Andererseits war da noch Anna Felder, die mir sagte: «Schau an, das Tessin kann über jeden und jede reden und nicht nur über das Eigene», d.h. das Bewusstsein darüber, dass wir im Namen eines ganzen Kantons sprechen. Demnach ist der Preis also eine Gemeinschaftssache und gehört nicht mir alleine.

Hier will ich dann auch gleich Dein Buch heranziehen, das mit einer rhetorischen Frage endet, die in die gleiche Richtung zielt: «E dicendo di quell’uno / di quanti altri avrai parlato?» («Und wenn du von diesem Einen sprichst / von wie vielen Anderen wirst du geredet haben?») Maiser ist ja ebenfalls ein Text, der den Blick auf individuelle Befindlichkeit und kollektive Geschichte eröffnet.

Absolut. Grosse Geschichten – nicht nur im literarischen, sondern auch im historischen Sinn – entstehen aus individuellen, kleinen, einzigartigen und auch für das schärfste Auge oft unsichtbaren Geschichten. Es ist dann die Gesamtheit dieser kleinen Erzählungen über Menschen, die innerhalb ihres kleinen Kosmos ihre eigene Existenz vorantreiben und sich mit Alltagssituationen konfrontieren müssen, welche wiederum das grosse Bild ausmachen. Mir kam die Idee für den Text 2009. Damals hatte ich gerade eben meinem Schreibprozess zu Registro dei fragili. 43 canti («Das Register der Zerbrechlichen. 43 Gesänge») beendet, als diese neue Geschichte – Maiser – bereits an meine Türe klopfte. Ihr inhaltlicher Ursprung liegt in der Familiengeschichte meiner Frau. Ihre Eltern sind in den Fünfzigerjahren aus Italien ausgewandert und haben in vielerlei Hinsicht genau das erlebt, was die Figuren in Maiser erzählen. Es ist ebenso wenig ein Zufall, dass die beiden Hauptfiguren Bruno und Fermina die Namen meines Schwagers bzw. meiner Schwägerin tragen. Die restlichen Gestalten sind dagegen fiktiv, auch wenn sie Charakterzüge, Gewohnheiten oder Dinge in sich vereinen, welche sich mit den Leuten, die ich auf meiner Reise getroffen und interviewt habe, überblenden. Wenn ich schreibe, versuche ich diese kleinen Geschichten wie Mosaiksteine zusammenzufügen.

Zum Autor

Fabiano Alborghetti, 1970 in Mailand geboren, lebt in Rancate (TI). Bekanntheit erlangte Alborghetti insbesondere als Lyriker; zu seinen bisherigen Veröffentlichungen zählen u.a. «Verso Buda»(2004), «L’opposta riva» (2006),
«Registro dei fragili» (2009), «Supernova» (2011) und «L’opposta riva – dieci anni dopo» (2013). Für seinen Versroman «Maiser» erhielt er 2018 den Schweizer Literaturpreis. Daneben war er Co-Leiter des Festivals «PoesiaPresente», arbeitete als Redaktionsleiter der Literaturzeitschrift «Atelier» und ist derzeit für das wissenschaftliche Komitee des «Babel»-Festivals tätig.
© Foto: Ladina Bischof

Die Individualität in der Schlichtheit wird paradigmatisch durch Bruno verkörpert, der somit in vielerlei Hinsicht zu einem epischen Antihelden wird.

Das stimmt natürlich. Gerade das wollte ich mit dieser Figur erreichen. Denn es ist doch viel zu einfach, die Tugenden eines epischen Helden zu bewundern, oder? Es ist hingegen viel schwieriger und komplexer, einen wahren Helden zu erkennen, der nicht zum Emblem wird, sondern sich einfach nur sein eigenes Leben geschaffen hat. Bruno lebt für seine Frau und seine Kinder, setzt sein Dasein im Stillen fort und hat mit den gleichen Problemen im Leben zu kämpfen wie wir. Wir können uns in ihn als Person einfühlen, mit ihm mitfühlen. Das Mitleiden wird also zu einer grundsätzlichen und wesentlichen moralischen Empfindung. Klassische, epische Helden hingegen machen mich eher wütend.

Vor allem setzt sich Dein Text auch mit dem Thema der italienischen Auswanderung nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Während wir über die damalige Emigration von Italiener/innen in die Deutschschweiz sehr gut Bescheid wissen, ist die zeitgleich erfolgende italienische Einwanderung ins Tessin bis heute eher unbeleuchtet geblieben.

Das ist auch mitunter der Grund, weshalb ich diese Geschichte erzählen wollte. Ich bin ja selbst vor zwölf Jahren aus Italien emigriert und habe mich persönlich ausführlich mit diesem Thema beschäftigt. Vom Tessin wusste ich anfänglich jedoch nichts, aber wenn du dich dann auf die Suche in die Archive begibst, siehst du ihn plötzlich vor dir, diesen Berg an historischem Material, welchen man problemlos mit jenem auf der anderen Seite des Gotthard-Tunnels gleichsetzen kann. Die Bedeutung der Auswanderung war im Tessin jedoch eine andere: An die Stelle der absoluten Stille und der totalen Entfremdung (in der Deutschschweiz) trat hier die sprachliche und kulturelle Verbindung, obwohl die Tessiner/innen in ihrem jeweiligen Dialekt kommunizierten. Mich interessierte dieses (Un-)Heimliche, das Fremde sowie die Biografien der Menschen, welche aus Italien ins Tessin kamen und nicht weiter nach Norden zogen. In anderen Büchern spricht man viel und oft über die «Frontalieri», über den Wirtschaftsboom der Sechziger Jahre, aber von dem, was in den Jahren davor passiert ist, wird nicht gesprochen. Genau da wollte ich mit meinem Schreiben ansetzen: Ein Roman in Versen zur italienischen Einwanderung ins Tessin ab den Fünfzigern bis in die Gegenwart. Fast sieben Jahre vergingen da zwischen der Suche nach bildlichem und textlichem Kulturgut im Archiv zum einen, und dem Verfassen von Maiser zum anderen.

Dein Text hat also eine sehr lange Entstehungsgeschichte.

Eher schon, ja (lacht). Zuerst habe ich eine storyline entwickelt, wie sie für Prosatexte oder für Filme üblicherweise verwendet wird. Dafür habe ich im Archiv herumgestöbert, mich durch die Unterlagen und «nach vorne» gegraben. Manchmal fühlte ich mich dabei wie in einem unendlichen Irrgarten, dessen Wege sich ins Unendliche verzweigten. Deshalb habe ich dann angefangen, etwas bewusster zu suchen: nach Jahr, nach Thema und nach Personen. Dann war da noch der direkte Austausch mit den italienischen Einwanderern, die diese intensive Zeit selbst erlebt haben. Ich traf mich mit diesen Menschen zum Austausch, auch in der Deutschschweiz. In gewissem Sinne fing ich also an diesem Punkt an, ‹rückwärts› zu graben.

Die Handlungslinie war also da. Was kam dann?

Dann kam der Titel. Ich schreibe wie ein Prosaschriftsteller. Für mich kalibriert der Titel dann die gesamte Erzählung, er nimmt für mich die Funktion eines riesigen Behälters ein, in dem ich meine Gedanken sammeln kann. Nachher kommt das sogenannte «Wäsche aufhängen» (an der Wand meines Ateliers). Hier habe ich mein ganz eigenes System mit Haftnotizen: Die aus der Archivrecherche erhaltenen Informationen platziere ich auf der Vertikalen, die Zeitspanne auf der Horizontalen. Irgendwann sind dann die Wände komplett zugekleistert und niemand kann mehr in mein Atelier eintreten. Hin und wieder nicht einmal mehr ich selbst. Später folgt die Suche nach der passenden Erzählstimme. In der ersten Version verfasste ich Maiser in Terzinen, und somit war der Text näher an meinen üblichen und bereits veröffentlichten Lyrikbänden, und ich dachte dabei das Richtige zu tun. Doch dann erschien der Text auf formaler Ebene so streng und erzwungen, und die Stimme klang falsch. Ich begann noch einmal von Neuem.

Eine echte experimentelle Herausforderung.

Das Spiel mit den Terzinen wurde zu einem künstlerischen Käfig. Ich änderte also meine Taktik und begann den Text zu Maiser laut vor mich hin zu rezitieren. Zuerst sprach ich, und wenige Sekunden danach antwortete mir der Text. Es ist also ein Buch, das zuerst mündlich und dann erst schriftlich geboren wurde. Das gefiel mir. Nicht zuletzt aus dem Grund, da ich mit Maiser eine Tradition aufleben lassen wollte, welche wir in unserer literarischen Kultur etwas verloren haben: Ein mündlich überlieferter Roman in Versen. Nicht ein klassisches Epos, sondern vielmehr ein ländlicher Versroman mit viel Liebe zum Detail, zu den kleinen Dingen im Leben und zu Italien.

Um noch einmal auf das auch in unserer Zeit brisante Thema der Einwanderung zurückzukommen. Würdest du die «Italianità» in der Schweiz als ein Modell der erfolgreichen Integration verstehen wollen?

Oft wird ja gesagt, dass die Geschichte in der Realität von einem Moment in den anderen fliessend übergeht, doch ich denke, sie ist wohl eher kreisend; ähnlich einer Spirale, weil alles wieder zu uns zurückkehrt und sich wiederholt. Während einmal die Italiener, Portugiesen, Spanier oder Leute aus dem Balkan diejenigen waren, welche beispielsweise in die Schweiz, nach Kalifornien oder nach Argentinien auswanderten, ist «der Fremde» heute jemand anderes. Mit Blick auf die Integration der aus Italien stammenden Einwanderer lässt sich doch viel Positives erkennen: Jetzt sind wir bereits bei der dritten Generation angelangt, die sich vollumfänglich innerhalb des helvetischen sozialen Gefüges assimiliert hat. Doch in dieser Generation überleben natürlich auch die Erinnerungen an das Vergangene, diese Menschen haben eine eigene Stimme und können das bereits Geschehene überliefern, auch wenn sie oft nicht einmal mehr Italienisch sprechen. Doch das ist ein anderes Problem.

In Deinem Buch wird ebenfalls die Tochter zur Erinnerungsträgerin des Erlebten und zum Sprachrohr mehrerer Generationen.

Eben. In ihr überlebt die Erinnerung an den Vater Bruno, der nach dem Tod wieder zum Schweigen verurteilt ist und dessen Name nur noch auf dem Grabstein geschrieben steht. Das ist auch der Motor, der mich dazu angetrieben hat, Maiser zu schreiben, mit dem Ziel, sowohl der Gegenwart als auch der Vergangenheit gegenüber Rechenschaft ablegen zu können. Solange es Menschen gibt, wird es Erinnerungen geben. Danach kommt das grosse Vergessen. So wird es für alle von uns sein. Unsere Namen werden dann in einen Grabstein geritzt sein und wir werden – als Antihelden – zur Unsichtbarkeit und zum Schweigen verurteilt sein. Wird unsere Identität uns etwas abfordern, wenn wir tot sind? Und die Kinder, wem gehören sie an? Den familiären Erinnerungen – oder dem Umfeld, in dem sie aufgewachsen sind und das sie geformt hat? Welchen Identitätsaufspaltungen muss man sich dann stellen? Das sind alles Fragen, die mich persönlich beschäftigen und mit denen sich die Literatur auseinandersetzen sollte. Sie muss in jenen Löchern graben, vor denen andere ihre Finger sauber halten möchten.

In Deinem Buch geht es um eine unverfälschte Darstellung und Beschreibung des Wahrgenommenen, was mich stark an den Stil der italienischen Veristen, insbesondere an Giovanni Vergas Sizilianische Novellen («Vita dei campi») erinnert.

Verga war zwar in gewisser Weise ein Schnösel – er stammte aus einer wohlhabenden Familie und lebte zu Hause mit Köchen und Kellnern -, aber die literarische und kulturelle Strömung, die mich geprägt hat, ist in der Tat die der Veristen, neben Autoren wie Cesare Pavese. Einer der Orientierungspunkte meiner Texte – und hier bin ich Verga sehr ähnlich – ist, dass ich mich für Maiser unter jene Leute mischte, von denen ich dann in meinem Buch zu sprechen begann. Ich wurde sozusagen eins mit meinem Text, denn ich muss zu dem werden, was ich schreiben möchte, sonst funktioniert es nicht. Für alle meine bisher veröffentlichten Werke gibt es zuerst einmal eine – meine – persönliche Lebenserfahrung, an welche meine Texte anknüpfen. Dieses Eintauchen in das Erlebte eröffnet mir einen Blickwinkel, der nicht nur literarischer, sondern auch persönlicher Natur ist, da ich meine Geschichten immer am eigenen Leib miterlebe.

Wie intensiv ist der Austausch mit anderen Autoren und Autorinnen? Und orientierst Du Dich an literarischen Vorbildern?

Literarische Vorbilder? Ich habe meine Lieblinge der Literatur, aber keine Vorbilder. Wenn man es genau nimmt, bin ich ein Hybrid aus vielen verschiedenen Literaturen. Ich mag die Werke von Piergiorgio Bellocchio und Elio Pagliarini, insbesondere Das Mädchen Carla («La ragazza Carla»). Weiter gefallen mir auf dem Feld der englischsprachigen Literatur die Versromane von Dorothy Porter oder die Gedichte von Charles Reznikoff; begeistert bin ich auch von der visionären Ausdruckskraft der Dichtung Tahar Ben Jellouns, des für mich wichtigsten literarischen Vertreters aus dem arabischen Kulturraum. Es kommt jedoch selten vor, dass ich mich in das Gesamtwerk eines Autors bzw. einer Autorin verliebe, oft gefallen mir bestimmte Auszüge aus ihrem literarischen Schaffen. Die einzigen Autoren, die ich in ihrer Ganzheit liebe, sind Fabio Pusterla, Alberto Nessi, Giovanni Raboni und Cesare Pavese. Schliesslich stehe ich aber auch stets in einem konstanten Ideen Austausch und Dialog mit der jungen Generation von Schriftstellern, die in den Achtzigern und Neunzigern geboren wurde: Yari Bernasconi, Flavio Stroppini, Andrea Fazioli und Matteo Fantuzzi. Ich bin eine Art Rekonstruktion aus all diesen Personen und Texten.

Um dann zum Schluss noch einmal auf Dich persönlich zu sprechen zu kommen: Maiser ist bereits ins Französische übersetzt worden, bald erscheint auch die deutsche Fassung. Momentan reist du mit deinem Buch quer durch die Schweiz, Italien und Frankreich. Findest Du da noch die Zeit für neue Projekte?

Das nächste Projekt ist bereits da: Es wird eine bergamaskische Geschichte über die Walser. Wenn meine Lesetour mit Maiser vorbei ist, werde ich mich zu Fuss auf eine Reise von Bosco Gurin in Richtung Formazzatal begeben, vorbei an den historischen Walsersiedlungen, um mit jenen Leuten zu sprechen, die noch in diesen Orten wohnen. Und ebenso um das zu erleben, was die Generationen vor ihnen an ihrer Stelle gesehen, gefühlt und gelebt haben in diesen Dörfern, diesem metaphorischen Grenzland zwischen Einsamkeit und Gemeinsamkeit. Das ist das, was mir am Herzen liegt und was ich zu erzählen habe, das, wofür ich mich in den nächsten Monaten an mein Schreibpult setzen werde.

Das Gespräch führte Gianna Conrad.

Fabiano Alborghetti: Maiser (L’uomo del mais). Milano: Marcos y Marcos 2017. 238 Seiten. Eine deutsche Fassung von Maiser (L’uomo del mais) erscheint im 2019 beim Limmat Verlag in Zürich.

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