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Hoffnung im Zweifeln

«Ein simpler Eingriff» der Schweizer Autorin Yael Inokai zeichnet sorgfältig nach, wie eine Krankenschwester durch neue Freundschaften und der Liebe zu einer anderen Frau an ihrer Arbeit und damit auch an sich selbst zu zweifeln beginnt.

Von Rahel Staubli
9. Mai 2022

Meret ist eine privilegierte Krankenschwester in einer Klinik, in der operative Eingriffe im Kopf von psychisch krank geltenden Frauen durchgeführt werden – mit der Absicht, sie zu heilen. Der Alltag als Krankenschwester ist durchgetaktet, die Regeln klar, die Zukunft sicher. Diese Arbeit ist für Meret nicht nur ein Beruf, sondern ihre Lebensaufgabe, in der sie Sinn und Anerkennung findet. Privilegiert fühlt sie sich, weil ihr bei der Betreuung der Patientinnen vor, während und nach dem Eingriff als Einzige eine besondere Rolle zukommt. Sie wurde vom leitenden Arzt für diese Aufgabe auserwählt aufgrund ihrer ausserordentlichen Gabe, Mitleid zu empfinden und – wie es heisst – es zu «beherrschen». Die potenzielle Gefahr in der Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen zu können, flackert erst auf, nachdem der Eingriff bei einer Patientin misslingt: Die aufkommenden Zweifel an ihrer Arbeit bedeuten unweigerlich auch Zweifel an der eigenen Identität. Diesen Zweifeln versucht die Hauptfigur krampfhaft auszuweichen. Nach und nach verliert sie jedoch den Glauben an die Legitimität des ‹simplen Eingriffs›. Als einzigen Ausweg aus den starren Strukturen der Klinik bleibt ihr nur die Flucht.

Zur Autorin

Yael Inokai, geb. 1989 in Basel, lebt in Berlin. Studium der Philosophie in Basel und Wien sowie Drehbuch und Dramaturgie in Berlin. Nach ihrem vielbeachteten Debüt «Storchenbiss» (2012) erhielt Inokai für ihren zweiten Roman «Mahlstrom» (2017) den Schweizer Literaturpreis 2018. «Ein simpler Eingriff» ist ihr dritter Roman und wurde mit dem Anna Seghers Preis 2022 ausgezeichnet.
Foto: © Constantin Campean

Empathie spielt auch hinsichtlich der Erzählweise in Ein simpler Eingriff  von Yael Inokai eine bedeutende Rolle: Mitfühlend und gleichzeitig überlegt und klar wird aus der Perspektive der Krankenschwester Meret berichtet. Mit geschickt eingebauten Vor- und Rückblenden greift die Ich-Erzählerin in ihre eigene Geschichte ein, erklärt ihre früheren Überzeugungen und bricht sie auf. Wie schmerzhaft und gleichzeitig befreiend diese Entwicklung des Ichs ist, fühlt man lesend mit. Der Roman beginnt bedrückend und endet hoffnungsvoll – und dies, obwohl die Hauptfigur den Glauben an den ‹simplen Eingriff› verliert. Meret ist sich nach der radikalen Abkehr von ihrer identitätsstiftenden und haltgebenden Arbeit in der Klinik näher als zuvor und blickt zuversichtlich in eine ungewisse Zukunft. In dem Sinne handelt der Roman weniger von einer Ich-Findung, sondern vielmehr von einer Ich-Suche, in der sich scheinbare Gegensätze nicht einfach konträr gegenüberstehen. Es ist gerade das Simple, das einfache Schwarz-Weiss-Denken, das durch das Mitgefühl unterlaufen wird. Im Einnehmen anderer Perspektiven sehen Meret – und die Lesenden – die Ereignisse durch andere Augen und erfahren dadurch neues Wissen, das den naiven Glauben an die vorherrschenden Strukturen untergraben kann.

Stark ist das Buch also darin, die Entwicklung der Hauptfigur nachvollziehbar, ja gar erfahrbar zu machen. Die anderen Figuren wirken hingegen weniger fein ausgearbeitet, teils blass. Dies ist wohl der ambitionierten Weite der Erzählung geschuldet: Die Entwicklung Merets verläuft den drei Erzählsträngen Freundschaft, Familie und Liebe entlang, in denen wiederum zahlreiche brisante Themen wie patriarchale Machstrukturen, Homophobie, prekäre Familienverhältnisse sowie die ethische Diskussion über psychische Gesundheit bzw. Krankheit eingepackt sind. Obwohl dicht und präzis erzählt wird und die unterschiedlichen Themen organisch miteinander verwoben werden, wirkt der Roman inhaltlich überfrachtet: Auf den knapp 200 Seiten können die einzelnen Themen teils nur angeschnitten werden oder werden frühzeitig wieder fallen gelassen. So scheint insbesondere die Familiengeschichte zu kurz geraten oder das Potenzial in Begegnungen mit Nebenfiguren wie der Patientin Vera nicht ausgeschöpft. Der Roman zerfranst an den inhaltlichen Rändern, ist aber in seinem Kern – der Ich-Suche der Hauptfigur – ausdrucksstark und stimmig.

Yael Inokai: Ein simpler Eingriff. 192 Seiten. Berlin: Hanser Berlin 2022, ca. 30 Franken.

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