KW32

(K)ein Buch für den Zug

Kulm

Ein schmaler Erzählband führt uns zum klassischen Heterotopos der Moderne: ins Hotel. (Und ins Engadin.)

Von Julien Reimer
7. August 2018

Frustration in St. Moritz. Eine Frau hat die Polizei ins Luxushotel Kulm gerufen, braucht sie nun aber plötzlich doch nicht mehr. Die Polizisten sind genervt, aber nicht überrascht: «Miar händ ztua und könnt do nit jedara Spinnarai vo dena Riiche noo goh. Unverschämt sind’s und hetzend ai durch dLandschaft, für nüt…»

Anna Hitz’ Erzählung «Der Schwindel» ist eine Hotelerzählung mit allem, was dazugehört: Privater Chauffeur, überbordendes Frühstücksbuffet, verzogene Kinder. Und – man denke an Miss Marple oder «Emil und die Detektive» – einem Kriminalfall. Gekommen sind die Polizisten zu Natalia Kamińska, die nicht zum ersten Mal im Hotel Kulm übernachtet. Vielleicht aber zum letzten Mal, denn diesmal ist alles anders als sonst. Ihr millionenschwerer Geliebter ist nicht dabei. Dafür ein Mann der sich für ihn ausgibt.

Das Setting der Erzählung erinnert ein wenig an Alfred Hitchcocks Film «Der unsichtbare Dritte», in dem ein Mann in einem Hotel mit jemandem verwechselt und in kriminelle Machenschaften verwickelt wird. Doch während sich der Mann bei Hitchcock gegen die Verwechslung wehrt, spielt Anna Hitz‘ Protagonist bereitwillig mit. Jan Nowak ist nützlich für Natalia Kamińska, denn er sieht ihrem Geliebten zum Verwechseln ähnlich.

Zur Autorin

Anna Hitz, geboren 1983 in Baden AG, hat an der Universität Zürich Germanistik, Kunstgeschichte und Nordistik sowie an der SAL Literarisches Schreiben studiert. Sie schreibt Reportagen, Kurzgeschichten und Gedichte. Sie lebt mit ihrer Familie in Beinwil am See. «Der Schwindel» ist ihr Debütroman.
Foto: © Rolf Imoberdorf

Es bleibt für Jan nicht bei einer Massage mit «organischem Sandelholz-, Sesam- und Lavendelöl» und einem ausgiebigen Essen in der Hotelsuite – schnell wird er in das Leben seines Doppelgängers hineingezogen. Hinter dem Titel des Buches steckt also eine raffinierte Doppeldeutigkeit: Einerseits steht «Schwindel» für die Lüge, die Täuschung, die Jan vollzieht, als er sich als reicher Hotelgast ausgibt. Andererseits bezeichnet das Wort den Taumel, in den Jan durch sein Verwechslungsspiel gerät. Jan schwindelt und ihm wird schwindelig.

Anna Hitz’ Debüt lebt nicht zuletzt von der Passion für seinen Schauplatz: das Hotel Kulm, «die Primadonna» unter den Hotels in St. Moritz, wie es am Anfang des Buches heisst, «die einzig wahre Künstlerin zwischen diesen strengen Herrschaften». Das echte Hotel Kulm in St. Moritz stand Pate für das Buch – und nicht allein die Danksagung am Ende lässt erahnen, wie sehr die Autorin von diesem Ort fasziniert sein muss. Sichtlich hat sie Spass daran, die Sprache der Hautevolee zu imitieren. Als das Essen serviert wird, kommentiert dies der Kellner: «Unser Koch Claude hat für Sie eine Sinfonie aus den Geschmäckern Frankreichs und den Zutaten der Engadiner Alpen zubereitet. Sie beginnen mit einem Soufflé de Homard.» Und die hoteleigene Ankleiderin verkündet: «Wir haben uns die Freiheit genommen, Ihnen etwas zusammenzustellen, und hoffen, dass Sie mit dieser Auswahl zurechtkommen.»

Der Text kommt fast ohne Innerlichkeiten aus. Meist beschreibt er schlichtweg, was passiert – in den Kopf der Figuren blickt es nur selten. Die Momente, in denen Gedanken und Gefühle wiedergegeben werden, fallen stilistisch seltsam aus dem Rahmen. An einer Stelle heisst es beispielsweise: «Der Schmerz räumte jeden Gedanken beiseite.» Aber gleich darauf ist doch wieder ein Gedanke da: «Seine Knie waren Gelee, doch Jan zwang sich zum Halten. Konzentrierte sich. Richtete seine ganze Kraft auf einen Gedanken.»

Hin und wieder gibt es solche kleinen sprachlichen Ungenauigkeiten in der Erzählung. An einer anderen Stelle heisst es: «Sachte legte er seine Arme um sie. Seine Finger gruben sich in die Seidenfalten, fühlten, wie ihr Bauch sich hob und senkte.» Dabei sind die Wörter «sachte» und «graben» doch eher gegensätzlich als miteinander vereinbar. «Der Schwindel» ist also kein Buch, das sich durch stilistische Perfektion auszeichnet – es konzentriert sich vielmehr auf den Plot. Diesen verfolgt man als Leserin und Leser eher distanziert und ohne grössere emotionale Beteiligung. Dennoch macht es Freude, ihm zu folgen – die Erzählung liest sich im positiven Sinne schnell weg.

Das Buch wäre eigentlich ein guter Zeitvertreib bei einer Zugfahrt. Wäre da nicht dieser an Jan gerichtete Hinweis zu Beginn des Buches, als er nach St. Moritz fährt: «Geniessen Sie die Landschaft. Ich bin zwar durchaus vertraut mit diesen kleinen Rechnern. Den Smartphones, wie Sie es nennen. Trotzdem würde ich diesen Geräten nie den Vorzug geben, wenn ich in einem luxuriösen Panoramawagen durch eine außergewöhnliche Landschaft fahre.» Auch die mobilen Endgeräte namens Buch dürften bei dem Herrn im Zug nicht besser ankommen. Für den Weg nach St. Moritz ist «Der Schwindel» also eher kein guter Reisebegleiter – ausser vielleicht im Albula-Tunnel.

Anna Hitz: Der Schwindel. Basel: Zytglogge 2018, 96 S., 24 CHF.

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