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Ein bewegter Mann

Grünfelder

Der Electroboy ist zurück. Oder gerade nicht? Einige Jahre nach dem viel beachteten Dokumentarfilm über seinen rauschhaften Aufstieg zum Model, Snowboarder, Internetpionier und Partyveranstalter meldet sich Florian Burkhardt mit seiner eigenen Version der vermeintlich besten Zeit seines Lebens zu Wort. Das Ergebnis trägt den Titel «Das Gewicht der Freiheit» und ist eine aberwitzig schnelle und wendungsreiche éducation sentimentale, die sich weniger für literarische Effekte als für die Effekte des Literarischen interessiert.

Von Christoph Steier
27. Juli 2018

Brüder/Zur Sonne

Am Anfang war die Enge. Zum einen die vielfach beklagte Enge der Schweiz. Burkhardt findet dafür das bissige Bild einer in Millionen «Kleingärten» aufgeteilten Parzelle, die von frierenden Liegestuhlhockern unter klirrenden Schweizerfahnen bevölkert wird. Zum anderen ist da aber jene ganz spezielle Enge, der Burkhardts erster Roman Das Kind meiner Mutter ein beklemmendes Andenken bewahrt hat: Nach dem Unfalltod eines älteren Bruders wurde der junge Florian nicht allein in die Rolle des Ersatzkindes gedrängt, sondern auch von allen Aussenkontakten weitgehend isoliert.

Mit Anfang 20 flieht der bildschöne, im besten Sinne weltfremde Traumwandler nun aus dem verhassten Lehrerseminar nach Hollywood, um Schauspieler zu werden. Zunächst begleitet von einem väterlichen Freund aus der Zürcher Schwulenszene, findet er unter der kalifornischen Sonne endlich die ersehnte Weite. Die eigene Homosexualität wird den Eltern per Brief mitgeteilt, eine «Verbindung» erschiene dem von allen Hofierten aber lediglich als «Einschränkung» seiner Freiheit: «Ich war jetzt offen schwul, wollte aber keinen Sex.» Und tatsächlich wird es dem Protagonisten bis zum Ende gelingen, das Begehren der mächtigen, meist älteren Männer für das eigene Fortkommen zu nutzen, ohne ihren Wünschen nachzukommen.

Glory of the Nineties

Als die Schauspielkarriere wegen Passproblemen zu scheitern droht, wird Florian eher zufällig als Modell entdeckt und reist «als Vertreter seines Körpers» semiglamourös, aber höchst erfolgreich durch Europa und die USA. Die rastlose Bewegung erscheint ihm zunehmend als Selbstzweck, die Flucht vor der Flucht wird zum Prinzip: Auf dem Laufsteg ein «Gott», der «bereit war, es mit der ganzen Welt auf einmal aufzunehmen» und dabei zunehmend die «Bodenhaftung» verliert, dazwischen eine Art C-Promi, der sich mit Model-WGs, Klatschreportern, Schaumparties und zudringlichen Promotern herumschlagen muss. Und so lange glücklich ist, wie er nirgends «ankommen» muss und sich darin als Vorboten einer «neuen Zeit» sehen darf.

Zum Autor

Florian Burkhardt wurde 1974 geboren und wuchs in der Innerschweiz auf. Er war Snowboardpionier, ging mit 21 nach Hollywood und arbeitete als internationales Topmodel. Ende der Neunziger avancierte er zum Internetpionier und etablierte sich unter dem Namen Electroboy als Veranstalter in der Zürcher Clubszene, ehe Burkhardt an einer schweren Angststörung erkrankte und sich in die Psychiatrie einweisen liess. Seine Biografie wurde 2014 von Regisseur Marcel Gisler unter dem Titel «Electroboy» verfilmt. 2017 folgte Burkhardts erster, ebenfalls autobiographischer Roman «Das Kind meiner Mutter», der vom beklemmend überbehüteten Aufwachsen nach dem Tod eines älteren Bruders handelt.
Foto: © Christoph Schaller

Dass die scheinbare Epiphanie eines Einzelnen, der in der Vorläufigkeit der eigenen Existenz bereits ein Leben jenseits von Religionen, sexuellen Orientierungen oder leidiger Fronarbeit aufscheinen sieht, sehr genau in die popmoderne Samplingkultur der Neunzigerjahre passt, scheint den Autor indessen weder damals noch heute besonders zu beunruhigen. Zumindest zieren die Fotos, die ihn als prototypischen Vertreter des androgynen heroin chic der späten Neunzigerjahre zeigen, seinen zweiten Roman gleich vierfach. Das ist bestürzend schön anzusehen. Und ein wenig bestürzend in seiner offenbar rein illustrativ gemeinten Funktion – läge doch in der Analyse der hinter diesen Bildern stehenden Verwertungslogik durchaus ein Schlüssel zu dem, was der Roman als biographisches Verhängnis zu verhandeln sucht.

Spannweiten

Das Verhängnis, um das herum der Roman auf verschiedenen Zeitebenen durchaus geschickt konstruiert ist, lautet «Angststörung» und wartet bereits hinter den anderthalb biographischen Haken, die das junge Model bei seinem Versuch, «schneller zu sein als die Gegenwart», noch zu schlagen hat.
Da ist zum einen die Liebe zu Jonas, einem Bauernjungen aus der Region Zürich, die Florian das Modeln zum Verdruss seiner Vertriebspartner abrupt aufgeben lässt. Da ist zum anderen die Arbeit in der Internetagentur, die inmitten der Dotcomblase Homepages für 1 Million Franken baut und Florian die nächste Karriere als autodidaktischer Art Director ermöglicht. Auch hier regiert wieder das Sampling- und Überbietungsprinzip: «Ich fuhr mit einem riesigen Lastwagen voller Ideen, Visionen und Vorsätzen auf der Überholspur.» Das Zauberwort lautet abermals «Lifestyle», neu kommt das «Netzwerk» dazu. Wie schon beim Modeln darf und soll alles aussehen wie ein Spiel, unverbindlich, selbstbestimmt, im Zweifelsfall erstmal «Rohmaterial».
Und auch hier steht hinter dem scheinbar Zwanglosen, Vorläufigen auch in der Agentur eine gigantische Verwertungsmaschine, die grösstes Interesse an einer Ausweitung der Kombinations- und damit eben Vermarktungsmöglichkeiten hat. Und ihrer seit den Neunzigern unter der Lizenz der ironischen Affirmation fröhlich zwischen Trash und Luxus switchenden Kundschaft am effektivsten solche Kippfiguren vorsetzt, die zu jeder Marke immer schon die Gegengeschichte (mit)erzählen – dem Mutterkonzern war es schliesslich schon immer egal, auf welche Ironiestufe Barbour gerade getragen wird.
Eine Kippfigur wie den jungen Florian also. Der in jedem seiner zahlreichen Talente und Vorzüge stets deren Negation durchscheinen lässt und im Jahr 2001 vor dem Zürcher Hauptbahnhof zusammenbricht. Burkhardt selbst wählt das Bild des Ikarus, der der Sonne des Erfolgs zu nahe kam und monatelang in seiner Zürcher Wohnung sitzt, ehe er sich in die Psychiatrie einweisen lässt: «Ich ertrug keine Reize, ich ertrug keine Sonne, ich ertrug nichts mehr.»

Dieser eher quantitativen Ausdeutung der Überforderung durch ein blosses Zuviel wäre vielleicht eine eher qualitative an die Seite zu stellen: Als schüchterner Gott, keuscher Verführer, fauler Workaholic oder zielstrebiger Tagträumer ermöglicht die Figur des Florian zwar alle denkbaren «Projektionen», droht aber an der eigenen Spannweite zu zerreissen. Das Problem des Ikarus wären dann weniger die Strahlen der Sonne als die eigenen Flügel.

No Show

Ins Spiel käme mit dieser Wendung dann eher die Figur des Janus. Eine Figur der Spätzeit notabene, die erst die Römer erdachten. Eine Doppelgestalt, die die strukturelle Schizophrenie popmoderner Verwertungslogiken vielleicht noch genauer trifft als die Ausnahmefigur des Ikarus. Ein Gott ferner auch des Anfangs und des Endes, so dass abzuwarten und durchaus zu wünschen bleibt, ihm in einem möglichen dritten Teil von Burkhardts autofiktionalem Projekt an prominenterer Stelle zu begegnen. Mit einem Hinweis auf die ausgesparte Berliner Zeit in den Nullerjahren endet das Buch, und es dürfte durchaus erhellend sein, im Memoirenchor robusterer Naturen wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Tom Kummer oder Joachim Meyerhoff auch die eher zurückhaltende Stimme von Florian Burkhardt zu hören. Die sich weniger für literarische Effekte interessiert als für die Effekte des Literarischen. Nicht zuletzt auf und für sich selbst, und so bleibt der Roman anschaulich und interpretationswürdig auch dort, wo er selbst ins Erklären und Interpretieren gerät. Und dass die alte Schreibschulregel «Show, don’t tell» für einen, der sich gerade vom Zeigen aufs Erzählen verlegt hat, in einige Schieflage gerät, gehört ohnehin zu den feineren Ironien des ganzen Projekts.

Florian Burkhardt: Das Gewicht der Freiheit. Dübendorf: Wörterseh Verlag 2018, 192 S., 34.90 CHF.

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