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Ein grosser Haufen Kuriositäten

Rebecca Gislers Debütroman «Vom Onkel» beeindruckt mit eigenwilliger Sprache und sonderbarem Figureninventar.

Von Larissa Waibel

Der Onkel lebte vor der «unvorhergesehenen Wohngemeinschaft» mit seiner Nichte und seinem Neffen zwanzig Jahre lang allein im Haus seiner Kindheit in der Bretagne. Die nahe Umgebung ist schnell erzählt: Es gibt einen Garten, das Meer und den Supermarkt, in dem sich der Onkel am liebsten Cola und Süssigkeiten kauft. Er trägt Superheldenshirts und bleibt stundenlang in seinem Zimmer – das ausser ihm niemand betreten darf! –, wo er fernsieht und Wurst-Sandwiches isst, oder er stellt Maulwurfsfallen im Garten auf. Dies ist der Aktionsradius des Onkels, denn mit der Metallplatte in seiner Hüfte schafft er den steilen Weg ans Meer schon lange nicht mehr.

Zum Autor

Rebecca Gisler, geb. 1991 in Zürich, studierte Literarisches Schreiben in Biel und Paris. Sie arbeitet als Übersetzerin und freischaffende Autorin. Gisler schreibt Lyrik und Prosa und ist Mitorganisatorin der Reihe «Teppich» im Literaturhaus Zürich. Für ihren ersten Roman «D’Oncle» (2021) wurde sie mit dem Schweizer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet. Rebecca Gisler lebt in Zürich und Paris.
Foto: © Noémi Bräm

Vom Onkel – Rebecca Gislers Debüt, letzten Herbst bereits bei Editions Verdier auf Französisch erschienen, – verspricht auf den ersten Blick vor allem kauzige Figuren und eine aussergewöhnliche Erzählweise, offenbart jedoch bald ungemütliche Wahrheiten und verrät immer wieder Fetzen einer merkwürdigen Familiengeschichte. Die junge Ich-Erzählerin, die erwachsene Nichte des Onkels, schildert ihr Zusammenleben mit dem Onkel und ihrem Bruder, dem Neffen.

In der «unvorhergesehenen Wohngemeinschaft», die durch den Pandemieausbruch verlängert wird, beginnt die Nichte, den Onkel eingehend aus der Nähe zu betrachten. Aufs Genaueste werden seine Bewegungen und Essgewohnheiten beschrieben, als handle es sich um ein seltenes Tier, das alles, was ihm in die Quere kommt, gierig verschlingt und Körperhygiene programmatisch verweigert. Erzählend umkreist die Nichte den Onkel, entdeckt dabei ständig Neues und eines immer wieder: Der Onkel schert sich nicht um Ästhetik. Seine Gewohnheiten sind längst zu Hindernissen für einen normalen Alltag geworden, sie sind Zeichen eines einsamen Lebens im Verborgenen.

Vom Onkel ist mit seiner exakten, sorgfältigen Sprache eine Kombination aus Detektivgeschichte, Tagebucheinträgen und Forschungsjournal. Man findet den Onkel gleichermassen abstossend wie faszinierend und kann es deshalb nicht lassen, ihn weiter zu beobachten, zumal sich die Beschreibungen des Onkels immer wieder mit amüsanten Familienanekdoten abwechseln. An schrulligen Figuren mangelt es nicht: ein Grossvater, der bis zu seinem Tod nackte Frauen vor Strandhintergrund malte und ein chaotisches Atelier hinterliess, eine Grossmutter, die behauptete, in den frühen Filmen Brigitte Bardot gedoubelt zu haben, und eine Mutter – die Schwester des Onkels –, die alles an die Pflege ihrer beiden Katzen mit Schilddrüsenüberfunktion setzt.

Seinen dramaturgischen Höhepunkt erreicht der Roman mit dem massiv verschlechterten Gesundheitszustand des Onkels. Während dessen Aufenthalt im Krankenhaus überschreiten die Nichte und der Neffe die letzte verbleibende Grenze der Dreisamkeit: die Türschwelle des Onkels. Es ist keinesfalls so, dass der Inhalt des Zimmers irgendwen überrascht – eine ekelerregende Vorahnung hat schon im Ton der Erzählung gelauert. Im Zimmer befinden sich ein stinkender Haufen Müll, eine fleckige Matratze, schimmelnde Lebensmittel und Spinnweben: «Kein Organismus hätte in diesem Zimmer überleben können, sagte mein Bruder, kein einziger, außer dem Onkel».

In dieser Geschichte wirken die Figurenrollen wie vertauscht. Die Nichte und der Neffe werden zu den Erwachsenen, der Onkel wird zum Kind: schutzbedürftig, auf Hilfe angewiesen, unselbstständig. Um von dieser Absurdität und Tragik zu erzählen, hat sich Rebecca Gisler einen eigenwilligen, erfrischenden Sound zugelegt: Die Sätze sind lang und mit Kommata gespickt, aber abwechslungsreich. Mal sind sie schwerfällig, wie der Onkel, wenn er beim Gehen ein Bein nachzieht, mal anmutig, wie der Onkel, wenn er in Socken auf dem Parkettboden Schlittschuh läuft. Gislers Stil verbindet wissenschaftliche Distanz und naive Faszination gegenüber dem Gegenstand – dem Onkel – mit intimer Besorgtheit um ein Familienmitglied, das nach dem Freilegen einiger Schmutzschichten einen liebenswerten, durch und durch menschlichen Kern offenbart.

Vielleicht war es nötig, beim Erzählen in ironische Distanz zu flüchten, weil so besser hinzunehmen ist, was einem das Herz brechen könnte: Der Onkel ist verwahrlost und braucht Hilfe. Noch nie war ihm jemand so zugewandt, wie es jetzt seine Nichte ist. Vermutlich ist Rebecca Gislers Debüt deshalb so gelungen: Sie hat eine Familiengeschichte geschrieben, die sich für einmal nicht auf Mutter, Vater, Kinder oder Grosseltern fokussiert, sondern auf den Onkel. Und weil sie damit über eine Figur geschrieben hat, von der womöglich niemand anders je erzählt hätte.

Rebecca Gisler: Vom Onkel. 144 Seiten. Zürich: Atlantis Verlag 2022, ca. 30 Franken.

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