KW06

Protokolle und Prozessbelege

Tom Kummer

Diesen Monat erscheinen Anna Ospelts «Wurzelstudien» als Ergebnis eines längeren poetischen Wissenschaftsprojekts. Elisa Weinkötz sprach mit der Autorin über ihre Recherche zum Verleger Henry Goverts, rhizomatische Textverflechtungen, poetische Resonanzfelder und die Widerständigkeit des Mediums Buch.

Von Elisa Weinkötz
3. Februar 2020

«Dass es jetzt ein Buch gibt, ist auch ein Problem.», sagt sie. Das Buch mache aus dem Text ein fertiges Projekt. Und fertig könne es nie sein, vor allem dieses hier nicht. Das verstehe ich gut. Die Wurzelstudien von Anna Ospelt sind gewissermaßen ein Prätext. Sie dokumentieren die Entstehung eines Buches, dass es vielleicht nie geben wird und nie hat geben wollen. Die Dokumentation ist eine Studie zu den Wurzeln. Und diese Wurzeln stecken überall drin: Sie sind materiell und metaphorisch. Aber wo fangen sie an, wo hören sie auf? Das ist fast nicht zu sagen.

Zur Autorin

Anna Ospelt, geboren 1987 in Vaduz. Studium der Soziologie, Medien- und Erziehungswissenschaften in Basel. Danach arbeitete sie als freie Lektorin, Übersetzerin und als Projektmanagerin an der Universität Liechtenstein. Seit 2011 veröffentlicht Ospelt Kurzgeschichten und Lyrik in Literaturmagazinen und Anthologien. 2015 erschien ihre journalistische Monografie «Sammelglück» mit Fotografien von Martin Walser, aus dem Teile ins Ungarische und Serbische übersetzt wurden. Für ihr literarisches Schreiben erhielt Ospelt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt das Nature Writing-Stipendium der Stiftung Nantesbuch im Namen des Deutschen Preises für Nature Writing (2019). Anna Ospelt schreibt und lebt in Vaduz.
Foto: © Ayse Yavas

Ich treffe Anna Ospelt im Zürcher Café Henrici. Gerade hat sie die erste gesetzte Version ihres Buches erhalten, das im Februar erscheinen wird – und ist noch unentschieden. Zwischen den Texten gibt es Bilder: Blätter, Blattgerippe, die sie mit auf die Reise genommen hat. Aus dem elterlichen Garten in Liechtenstein mit nach Berlin, zur früheren Schule des Verlegers Henry Goverts. An den Wannsee, wo sie während eines dreimonatigen Aufenthaltsstipendiums wohnte und schrieb, aber auch ins Mikroskopierlabor des Naturkundemuseums ging. Die Fotografien dieser Recherche verstehen sich nicht als Illustrationen, auch sie sind Text, oder, wie Anna Ospelt sagt, «Prozessbelege» und stehen gleichermassen neben den rhizomatischen Textteilen im Buch. Die Wurzelstudien erzählen uns vom Anfang dieses Prozesses: Im Nachbargarten ihres Elternhauses in Vaduz steht eine Hängebuche, und in dem Haus, das zu dieser Hängebuche gehört, wohnte einst Henry Goverts, ein Verleger. Anna Ospelt hat sich nie besonders mit ihm beschäftigt, «ich dachte, er wäre Waffenhändler, kein richtiger Verleger». Aber dann wird sie plötzlich auf diesen Baum aufmerksam. Sie nimmt sich seiner an, sie folgt Henri Goverts ins Archiv, sie liest Berichte von Weggefährt*innen und sie beginnt, allem nachzugehen, das ihr bei ihrer Wurzelsuche begegnet. Und es tun sich viele «Konnexionen» auf: botanische, versteht sich, aber auch dentalchirurgische. Die Wurzelstudien haben Notatcharakter, sie wissen: Hier ist nichts fertig und alles geht weiter. Diese Einstellung braucht Sorgfalt und Geduld. Denn: Wie schreibt man ein Buch, das kaum als finale Form gedacht werden kann?

29. April 2017

Heute, frühmorgens, schüttelte ich eine Stunde lang Laubbäume ab, ich hab ihnen den Schnee von den Ästen geschüttelt. Vom Wald her kam immer wieder ein Krachen. Schnee, der von einem Baum fiel, ein Ast, der die Last nicht mehr hielt. Es war ein trauriger Morgen an diesem überschneiten Frühlingstag. Die Kräuter, Rosmarin und Salbei, habe ich abgepinselt. Auf den Tulpen liegt Schnee.

Die Wurzelstudien verstehen sich als eine poetische Wissenschaft. Im Gegensatz zum «Quellengefängnis» der universitären Forschung, das Anna Ospelt während ihres Studiums der Soziologie und Medien- und Erziehungswissenschaften in Basel erlebt hat, geht es im poetischen Sprechen um einen Output – alles darf angegangen werden, alles ist wichtig. Es geht nicht um einen Mangel an Präzision, im Gegenteil, es geht um die Freiheit, in alle Richtungen weiterdenken und -schreiben zu dürfen. Anna Ospelt hat bislang vor allem Lyrik geschrieben. Während ihres Studiums begann sie im Literaturmagazin NARR zu veröffentlichen und ist der Zeitschrift bis heute immer noch eng verbunden. Ich besuche Anna Ospelt bei einer Lesung der Reihe „Literaturzeitschriften stellen sich vor“ im Zürcher Quartierverein Röslischüür. Sie liest:

Ich habe eine schöne Lesestimme, daher versuche ich zu sprechen, als würde ich lesen. Das bringt mit sich, dass ich denken muss, als würde ich schreiben. Ich bin sehr ruhig.

Anna Ospelts Gedichte sind sehr kurz und klar. Sie sind sehr ruhig, sie sind, wie sie liest. «Lesungen sind gut», sagt sie. «Da gibt es eine Konzentration, die ich gerne auch im Arbeitsprozess hätte.» Sie erzählt, dass es einen großen Unterschied mache, ob sie Gedichte schreibe oder an einem Projekt wie den Wurzelstudien arbeite. Die Lyrik komme von selbst, das könne sie nicht steuern. Die Studien hingegen seien Arbeit, da müsse sie sich Zeit für nehmen. Wenn sie nicht schreibt, arbeitet Ospelt zurzeit in der Verwaltung der Uni Lichtenstein und absolviert parallel an der ZHdK eine Weiterbildung im Bereich Schreiben in Kunst und Kultur. Es gehe ihr weniger darum, sich bestimmte Tools anzueignen, vielmehr biete ihr Weiterbildung und der Kontakt zu den Studierenden ein «Resonanzfeld», das sie sonst vermissen würde: in Austausch sein mit Texten und mit Menschen, die mit Texten denken.

Ich betrachtete diesen Stammbaum und dachte, dass ich weder Eiche, Eichel noch Enkelin bin, keine Frucht, keine Blüte, kein Blatt und keine Wurzel. Ich bin Anna. Ich heisse Anna Barbara Ospelt, und aus den Buchstaben meines Namens kann man weder Baum noch Stamm schreiben. Aber Sonne findet sich in meinem Namen, Post und Barbar.

In ihren Studien ist Anna Ospelt ist an- und abwesend zugleich. So in Figuren wie Ivy Blum, die den Anfang machten, erinnert sich Anna Ospelt. Das Ivy-Ich hat ihre Protokolle geschrieben und Fotos gemacht. Am Ende des Buches schreibt diese Figur ein Exposé zu einem Romanprojekt mit dem Titel «Lilienstein»: Es enthält Textproben, Inhalt, Konzept und eine Figurenübersicht. Den Roman gibt es nicht. «Die Roman-Form ist langweilig», sagt Anna Ospelt. Auf meine Frage nach ihrer derzeitigen Lektüre antwortet sie: Pilger am Tinker Creek von Annie Dillard, Maggie Nelsons Bluets, und Julio Cortazar. Neben diesen Texten, die auch in die Wurzelstudien Einzug gefunden haben, liest sie jetzt in verschiedenen Stickbüchern und arbeitet mit Nadel und Stoff. Und dass sich der poetische Stoff so wieder materialisiert, ergibt Sinn.

Anna Ospelts Wurzelstudien werden im Limmat-Verlag erscheinen – und das ist nicht selbstverständlich. Immerhin ist das hier ein Buch, das eigentlich gar kein Buch sein will. Aber Anna Ospelt ist doch froh darum, sie freut sich auf das Buch. Es trägt den Untertitel Eine Metamorphose. «Es geht darum, die Sinne offen zu halten», sagt sie mir, hier im Café. Ja, denke ich, darum geht es wohl. Und deshalb braucht es dieses Buch in der vorliegenden Form, denn wer es liest, wird ein bisschen besser verstehen, wie man den Wurzeln nachgehen könnte. Und gewiss steht die nächste Hängebuche nicht weit.

Anna Ospelt: Wurzelstudien. 128 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2020, ca. 28 Franken. Beitragsbild: © Anna Ospelt, zvg

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