KW48

«Wunderbare Nachrichten über den Zustand der Deutschschweizer Literatur»

Daniel Graf, Kulturredakteur bei der Republik und seit drei Jahren Jurymitglied des Schweizer Buchpreises, spricht mit Kassandra Infanger und Jana Ehrismann über die Bedeutung der Schweizer Gegenwartsliteratur, die Freuden und Herausforderungen der Juryarbeit, die öffentliche Wahrnehmung des Preises und dessen Einladung zur engagierten Debatte.

Von Redaktion
29. November 2021

Der diesjährige Buchpreis ist vergeben, die Querelen im Vorfeld Geschichte. Wie haben Sie persönlich die Preisverleihung in Basel im November dieses Jahres erlebt?

Als eine sehr würdige Feier, mit einer tollen Stimmung. Es war schön, diesen Saal wieder so voll zu erleben, nachdem das im letzten Jahr pandemiebedingt nicht möglich war. In einem Gespräch nach der Preisverleihung, bei dem wir, also die Jury, die Nominierten persönlich kennengelernt haben, ist deutlich geworden, dass während der gesamten Lesereise die Stimmung zwischen den vier Nominierten ausgesprochen gut gewesen sein muss. Nicht, dass das literarisch entscheidend wäre, aber für die Stimmung an einem solchen Anlass ist es sicherlich kein Nachteil.

Sie sprechen bereits über die vier Nominierten: Martina Clavadetscher, Thomas Duarte, Michael Hugentobler und Veronika Sutter. Wie können wir uns den Auswahlprozess vorstellen, der zu einer Nominierung führt?

Das ist ein langer Prozess. Es wurden dieses Jahr 92 Titel von 65 Verlagen eingereicht, so viele wie noch nie. Als Jury ist man dann zunächst einmal damit beschäftigt, all diese Titel zu prüfen, zu begutachten und zu diskutieren. Sobald ein Jurymitglied der Meinung ist, ein Titel könnte unter Umständen für die Shortlist in Frage kommen, wird dieser besonders intensiv von sämtlichen Jurymitgliedern gelesen und diskutiert. So grenzt sich über die Monate der Kreis derjenigen Bücher ein, die für eine Shortlistnominierung in Frage kommen und man gelangt nach unzähligen Stunden des Lesens, nach vielen E-Mails und persönlichen Gesprächen in einer gemeinsamen Sitzung zu einer Entscheidung.

Wie kommt man von fünf persönlichen Meinungen schliesslich zu einer gemeinsamen Juryentscheidung?

In der Jury sitzen unterschiedliche Persönlichkeiten, die einen unterschiedlichen beruflichen Background und unterschiedliche Lesebiografien haben. Jede*r bringt etwas andere Kriterien und andere Erwartungen an Literatur mit. Nehmen wir mal an, Sie haben eine besonders starke Meinung und glauben ganz genau zu wissen, welche fünf Bücher unbedingt auf diese Shortlist gehören und welche nicht. Dann werden Sie feststellen: Da sind ja noch vier andere in der Jury, die sind auch nicht komplett auf den Kopf gefallen, favorisieren aber möglicherweise ganz andere Titel als Sie. Und die Kolleg*innen haben die Texte nicht nur intensiv gelesen, sondern möglicherweise auch noch gute Argumente für ihre Position. Ja, dann: welcome to the real world! Womit ich sagen will: Es sind sehr intensive und auch kontroverse Gespräche, bis man sich geeinigt hat. Das ist aber ausgesprochen respektvoll abgelaufen, und es hat grossen Spass gemacht, in dieser Jury zu diskutieren. Ich glaube, wir sind alle jeweils bereichert und mit mehr Einsichten über die Texte aus den einzelnen Sitzungen rausgegangen.

Hinsichtlich der für die Shortlist ausgewählten Titel gab es in den Medien teilweise sehr kritische Stimmen, die grosse Namen vermissten oder die Nominierung zweier Debuts in Frage stellten. Wie reagieren Sie auf solche Kritik?

Zunächst einmal war es einfach so, dass die Anzahl Bücher von grosser literarischer Qualität und Eigenständigkeit wesentlich höher war, als Shortlist-Plätze zur Verfügung stehen. Das führt automatisch dazu, dass Namen, die vielleicht in der Öffentlichkeit erwartet werden, aber auch Namen, die einzelne Jurymitglieder gerne auf dieser Liste gesehen hätten, nicht zum Zuge kommen.

Manchmal wird das so diskutiert, als sei es absolut unbegreiflich oder skandalös, wenn ein bestimmter Name X oder Y auf so einer Liste fehlt. Im Einzelfall kann ich das jeweils nachvollziehen, aber im Gesamten bedeutet es schlichtweg, dass es eine hohe Anzahl literarisch bemerkenswerter Texte gibt. Wenn dann auf der Shortlist auch Bücher von weniger bekannten Autor*innen stehen, heisst das, dass nach Austausch aller Argumente diese Bücher eben noch mehr Zustimmung innerhalb der Jury hinter sich vereinen konnten als der eine oder andere prominentere Titel. Solche Entscheidungen sind mitunter bitter für die Einzelnen und übrigens auch für die Jury-Mitglieder mit Trennungsschmerzen von lieb gewordenen Büchern verbunden. Aber wenn man vom Einzelfall abstrahiert und sich das ganze Panorama anschaut, dann sind das eigentlich wunderbare Nachrichten über den Zustand der Deutschschweizer Literatur.

Wäre es dann nicht eine Möglichkeit, eine Longlist zu veröffentlichen, um auch die Texte zu würdigen, welche es nicht auf die Shortlist geschafft haben?

Ich hatte diesen Gedanken auch, aber das sind letztlich Fragen, die nicht die Jury zu entscheiden hat. Das ist eine Sache der Trägerschaft, denn man müsste dafür das Reglement ändern. Ich persönlich habe den Eindruck, dass die Deutschschweizer Gegenwartsliteratur auch in der Breite von so hoher Qualität ist, dass es zumindest bedenkenswert wäre, ob nicht in Zukunft eine Longlist von vielleicht acht bis zehn Titeln eine Option sein könnte. Denn zumindest nach unserer Vorstellung in der diesjährigen Jury ist es auch eine Aufgabe des Preises, die Vielfalt des literarisch Gelungenen, die Vielfalt der Stimmen und Zugriffe auf Themen sichtbar zu machen. Durch ein Verfahren, das sich formell etwas stärker dem Deutschen oder Österreichischen Buchpreis annähert, würden noch mehr Autor*innen die mit einer Nominierung verbundene Aufmerksamkeit bekommen.

Allerdings muss man natürlich dazusagen, die Nominierung selbst determiniert ja nicht den Diskurs. Sie ist Anregung zu einer Diskussion, die über die fünf Titel hinausreicht und immer auch andere Texte in den Blick nimmt.

Nun standen dieses Jahr nicht fünf, sondern lediglich vier Titel auf der Shortlist, da Christian Kracht seine Nomination im September zurückgezogen hat. Wie sind Sie als Jury mit dieser Situation umgegangen? Hat man über eine Nachnomination nachgedacht?

Die Trägerschaft hat entschieden, dass nicht nachnominiert wird, und das halte ich auch für konsequent, denn einer der Grundsätze bei der Shortlist – auch dem Reglement zufolge – besteht darin, dass selbstverständlich sämtliche Shortlisttitel gleich behandelt werden müssen. Hätte man einen Titel nachnominiert, wäre das nicht mehr gegeben gewesen.

Ich glaube ehrlich gesagt auch nicht, dass man jemandem einen Gefallen mit einer Nachnominierung getan hätte, und zwar obwohl wir wirklich eine stolze Anzahl von Büchern parat gehabt hätten, die ebenfalls auf Begeisterung in der Jury gestossen sind. Insofern stellte sich für uns lediglich die Frage, wie fair wir diese Entscheidung von Christian Kracht fanden, denn er hat sie ja begründet mit Aspekten, die schon lange bekannt waren. Das heisst, wenn er aus diesen Gründen nicht hätte teilnehmen wollen am Schweizer Buchpreis 2021, dann hätte sein Buch gar nicht eingereicht werden müssen. So wäre er auch nicht nominiert worden und wir hätten problemlos einen anderen fünften Namen gefunden für die Shortlist.

Sie beschreiben die Shortlist als Anregung, eine Debatte zu führen. Welche Bedeutung kommt der Shortlist beziehungsweise dem Schweizer Buchpreis generell im Schweizer Literaturbetrieb zu?

Ich würde sagen, die Shortlist-Bekanntgabe ist einer der Highlight-Momente im Deutschschweizer Buchjahr, weil sie für alle jene, die sich für die hiesige Literatur interessieren, einen gemeinsamen Bezugspunkt bietet. Es ist ja jedes Jahr ein Ereignis: Die Shortlist wird verkündet und binnen ein, zwei Stunden hat jede*r eine meistens sehr klare Meinung zu dieser Auswahl – welche Autor*innen völlig zu Recht draufstehen, welche skandalöserweise vergessen wurden. Diese Meinungsbildung ist ziemlich unabhängig davon, wie viele von den ­– in diesem Jahr eben 92 ­– Büchern die oder der Einzelne tatsächlich gelesen hat. Und das ist grossartig, weil es zeigt, dass dieser Preis alle, die sich mit Literatur befassen, egal ob in professioneller Funktion oder in privater Leseleidenschaft, zum Nachdenken darüber anregt, welche Bücher ihnen im Verlauf der vergangenen zwölf Monate wichtig geworden sind und warum.

Allein diese öffentliche Diskussion schafft eine Aufmerksamkeit für die deutschsprachige Literatur der Schweiz, die ich für ungeheuer wertvoll halte. So kommt eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen literarischen Entwürfen und ästhetischen Konzepten in Gang. Und der Schweizer Buchpreis ist eine der wenigen Institutionen überhaupt, der es gelingt, für die deutschsprachige Literatur der Schweiz eine solche gemeinsame Diskussionsgrundlage zu schaffen und einen gemeinsamen Bezugspunkt der Diskutant*innen zu liefern.

Zum einen regt der Schweizer Buchpreis also eine Diskussion über Literatur an. Zum anderen verfolgt der Preis aber durchaus ökonomische Ziele. Inwiefern ist die Vermarktbarkeit der Bücher deshalb ein Thema?

Vermarktbarkeit ist selbstverständlich nie ein Hinderungsgrund für eine Nominierung. Es ist aber auch nicht automatisch ein Pro-Argument. Also jedenfalls für eine Jury, der aufgetragen ist, unabhängig das beste Buch des Jahres zu bestimmen, reicht es nicht aus, zu schauen, welches Buch steht auf der Bestseller-Liste vorne oder welche Bücher sind besonders oft rezensiert worden. Das sind natürlich beides Anhaltspunkte, die man in die Diskussion miteinbezieht, aber es gibt eben keine Zwangsläufigkeit zwischen Markterfolg und Jurynominierung, sonst könnte man sich die Bestimmung einer Jury auch sparen.

Wie schon angedeutet: Dieses Jahr haben eine Vielzahl von Deutschschweizer Autor*innen mit grossem Namen ein neues Buch veröffentlicht. Peter Stamm beispielsweise hat, wie ich finde, ein bezauberndes Buch vorgelegt, Arno Camenisch vielleicht sein bestes Buch der letzten Zeit publiziert. Dana Grigorcea hat meiner Meinung nach zurecht sehr viel Aufmerksamkeit in der Presse bekommen. Daneben gab es qualitativ bestechende Bücher von Autor*innen, die noch nicht so bekannt sind, zum Beispiel Silvia Tschui, Annette Hug oder Ariane Koch, um nur einige wenige Namen abseits der Shortlist zu nennen. Wir hatten also eine Vielzahl von Büchern, die teils mit dem Rückenwind des Markterfolgs, teils ganz ohne Vorschusslorbeeren von uns geprüft und diskutiert wurden. Dann muss man die verschiedenen Argumente gewichten und zu einer Entscheidung kommen. Und das Ergebnis weicht immer mehr oder weniger ab von der persönlichen Shortlist jedes einzelnen Jurymitglieds.

Ist dieses Spannungsverhältnis von ökonomischem Erfolg und literarischer Qualität also nicht problematisch?

Wenn man es als Spannungsfeld begreift und nicht als wechselseitigen Ausschlussmechanismus, lässt sich das durchaus produktiv diskutieren. Man sollte halt keinen falschen Gegensätzen und keinen falschen Pauschalisierungen unterliegen. Es gibt selbstverständlich – und Gott sei Dank – kommerziell sehr erfolgreiche Texte, die auch literarisch herausragend sind. Und umgekehrt ist nicht alles, was keinen kommerziellen Erfolg hat, grosse, verkannte Literatur.

Und was genau macht Martina Clavadetschers Die Erfindung des Ungehorsams zum Roman besten des Jahres?

Martina Clavadetscher hat ein drängendes Thema der Gegenwart – künstliche Intelligenz – auf eine Weise verhandelt, wie man es noch nicht gelesen hat. Zum einen verknüpft sie die Thematik sehr originell mit einer feministischen Perspektive. Zum anderen verschmilzt sie dabei die Erzählkunst mit den Mitteln von Lyrik und Drama, verpasst dem Roman gewissermassen eine Energiezufuhr aus den anderen Gattungen. Nicht zuletzt durch die grosse Bedeutung von Klang und Rhythmus hat dieser avantgardistische Text auch eine hohe Sinnlichkeit und erzeugt einen regelrechten Thrill. Aber die anderen Shortlist-Titel haben uns ebenfalls begeistert. Wir haben also jeden einzelnen Text auf der Shortlist nochmals intensiv diskutiert, von allen Seiten beleuchtet und die Qualitäten gegeneinander abgewogen. Und am Ende dieser intensiven Diskussion stand das Ergebnis, dass der Roman von Martina Clavadetscher durch seinen ästhetischen Wagemut und die formalen Innovationen aus den Büchern dieses Jahres heraussticht.

Martina Clavadetscher selbst hat in ihrer Dankesrede auf die kritischen Stimmen angespielt, die es im Vorfeld zur Shortlist gab. Was sagen Sie zu den kontroversen Kommentaren, die in diesem Jahr ja doch etwas zahlreicher gewesen sind?

Es waren ja im Wesentlichen immer dieselben Stimmen, die in mehreren aufeinanderfolgenden Beiträgen ihre einmal gefasste Meinung wiederholten. Daneben gab es viele würdigende, eingehende Beiträge, denen ein echtes Sicheinlassen auf die nominierten Bücher anzumerken war. Klar ist: Das Kontroverse gehört ganz unbedingt mit dazu. Jede Jury-Entscheidung muss ihrerseits kritisierbar sein. Sie ist ein Statement, das man als kritischer Geist bitte selbst kritisch lesen sollte, genauso wie jeden literaturkritischen Text. Für die professionelle Literaturkritik gelten aber natürlich andere Anforderungen als für private Meinungsäusserungen. Nach meinem persönlichen Verständnis besteht die Kunst der Kritik in der Präzision eines begründeten Urteils, im Differenzierungsvermögen, in der Genauigkeit der Textanalyse und der eigenen Argumentation, in der intensiven Auseinandersetzung mit einem literarischen Text und seiner literaturhistorischen Situation. Einen Text mit literaturkritischer Urteilskraft einzuordnen, bedeutet, ihn vor dem Hintergrund einer schon vorhandenen literaturhistorischen Entwicklung und einer diskursiven Gegenwart zu lesen. Adäquat zu bestimmen, wie sich der jeweilige Text dazu verhält, ist eine ganz zentrale Aufgabe der Literaturkritik. Aber natürlich gibt es auch in der Literaturberichterstattung unterschiedliche Textsorten, die unterschiedlich stark in die Tiefe gehen und von denen man entsprechend auch Unterschiedliches erwarten kann.

In ihrer Dankesrede drückte Clavadetscher auch die Hoffnung aus, dank des Preises nun so lange weiterschreiben zu können, wie sie möchte. Was erwarten Martina Clavadetscher und ihr Buch in den kommenden Wochen?

Schlussendlich bleibt das der literarischen Öffentlichkeit überlassen. Es wird sich zeigen, wie viele Journalist*innen noch aufmerksam werden auf dieses Buch, wie viele Auftritte Martina Clavadetscher absolvieren kann und möchte. Natürlich ist da gar nicht klar zu trennen, was ein Effekt des Preises ist und was gewissermassen eine konsequente Entwicklung ihrer Autorinnenkarriere, die lange vor dieser Nominierung begonnen hat. Sie war ja schon zuvor eine der wichtigsten Repräsentantinnen der Deutschschweizer Literatur. Und wie Sie sagen, nach der Preisverleihung hat sie deutlich gemacht, dass sie den Preis auch als Ansporn versteht, so lange wie irgend möglich weiterzuschreiben. Ich freue mich jetzt schon darauf, die Ergebnisse davon zu sehen.

Weitere Bücher