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Minelli Kapitulation

Die Kapitelüberschriften in Michèle Minellis Roman «Kapitulation» zählen mit den Leser*innen gemeinsam rückwärts: «…Drei…», «…Zwei…», «Eins…», «…», «Zündung!». Es ist eine Zündung, der viel Geschichte und noch mehr Gespräche vorausgehen, die sich allesamt um eines drehen: Feminismus.

Von Larissa Waibel
22. November 2021

Kapitulation erzählt aus den Leben sechs verschiedener Frauen, die bei einem Abendessen aufeinandertreffen: Adrienne, ehemalige Präsidentin eines Kunststipendienprogramms, hat vier ihrer ehemaligen Stipendiatinnen und ihre Masseurin Yvonne zu sich nach Hause eingeladen. In ständig wechselnden Perspektiven schildert der Roman zuerst den Alltag der sechs Protagonistinnen 48 Stunden vor dem Treffen und schliesslich das Abendessen bei Adrienne zuhause. Mithilfe dieser Zweiteilung breitet der Text eine ganze Palette feministischer Anliegen aus: Im ersten Teil werden Sexismus und Benachteiligungen im Alltag der Figuren gezeigt, im zweiten Teil werden ebendiese Erlebnisse wiederum im Gespräch aufgegriffen und diskutiert.

Milieustudie weisser Feministinnen

Fünf der Frauen in Kapitulation ist gemeinsam, dass sie einmal in der Kulturbranche tätig waren oder es noch immer sind. Sie alle müssen sich wenig Sorgen um ihre finanzielle Lage machen: So etwa die schweizerisch-kasachische Performancekünstlerin Aina Zimmermann, die nach ihrem Studienabschluss in Brüssel im Kunsthaus Zürich arbeitet. Yvonne ist als einzige nicht in der Kunstbranche tätig und muss eine Ausbildung als Masseurin, zwei Kinder und einen Ehemann mit Burnout unter einen Hut bringen. Während des Abendessens, das auf den letzten 100 Seiten des Romans beschrieben wird, nimmt Yvonne als einzige Frau of Color gegenüber den anderen in der Runde eine beobachtende Perspektive ein. Ihre Beschreibungen vermitteln bisweilen den Eindruck einer Milieustudie: «Und dann sitzen sie sich plötzlich gegenüber. Ein Glas Weisswein in der Hand, bio vegan, das Glas absichtsvoll leger aus dem Handgelenk drehend, und auch Yvonne spürt, dass es gut ist, hier zu sein, bei diesen fremden, diesen fünf weissen Frauen». Ob an Stellen wie dieser der Text spitzfindig sich selbst und damit den weissen, bildungsbürgerlichen Feminismus reflektiert, den er abbildet, ist allerdings nur schwer auszumachen.

Zur Autorin

Michèle Minelli, geb. 1968 in Zürich. Ausbildung im Film und darauffolgende Tätigkeit als Produktions- und Aufnahmeleiterin für Reportagen, Auftragsfilme und Werbespots. Seit 2000 ist Minelli publizistisch tätigt und hat inzwischen sechs Sachbücher und sieben Romane veröffentlicht. Ausserdem wirkt sie als Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran und ist Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Für «Kapitulation» erhielt sie einen Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau. Minelli lebt und arbeitet als Schriftstellerin und Filmschaffende auf dem Iselisberg (Thurgau).

Diskursroman mit didaktischem Überhang

Das Potenzial eines literarischen Textes läge wohl allerdings genau in der Möglichkeit der vertieften Auseinandersetzung und Reflexion eines Sujets sowie im selbstkritischen Hinterfragen. Im besten Fall vermag es Literatur, komplexe Probleme unserer Gegenwart anhand von plastischen Figuren glaubwürdig und nahe an einer Leser:innenschaft zu schildern, erfahrbar zu machen und dergestalt Denkprozesse anzustossen. Und tatsächlich hat sich der Roman genau das zum Programm gemacht: Kapitualtion ist ein Diskursroman, der über seine Protagonistinnen zweifelhafte oder ungerechte Umstände verhandelt. Zum Beispiel das Verhältnis von Adrienne zu ihrem Ehemann, der seine Frau mit ironischem Unterton ‹Wonderwoman› nennt, die problematische Beziehung Ainas’ zu ihrem Vater oder die Tatsache, dass Chloés Literaturagent sie auf ihr Geschlecht reduziert. Das politische Anliegen, das der Text verfolgt, ist eindeutig erkennbar: «Männer sind noch immer die Norm, Frauen das Störende». Und doch läuft das Didaktische in Kapitulation immer wieder Gefahr, die Oberhand zu gewinnen. Es ist schwierig, die Figuren nicht als Ideeschablonen sondern tatsächlich als Charaktere zu lesen, unter anderem deshalb, weil die wechselnde Erzählperspektive zwischen den Frauen im ersten Teil so abrubt erfolgt.

Im zweiten Teil dann, als alle gemeinsam an einem Tisch sitzen, sind die Diskussionen unter ihnen allerdings wenig tiefgreifend. In nahezu listenartigen Aufzählungen sprechen die Protagonistinnen über sexuelle Belästigung und Vergewaltigung, Femizid, den ‹Male Gaze› in der Kunst und den männerdominierten Kulturbetrieb, ‹Mansplaining›, ‹Manspreading›, unentlöhnte Care-Arbeit, ‹Internalised Mysogyny›. Frauen werden in ihren Tätigkeiten nicht ernst genommen, kleingeredet oder müssen sich ständig entschuldigen. Auch wenn die Tischrunde kein schlechtes Anfangsszenario für eine solche Diskussion ist, so liest sich das Gespräch doch eher wie eine unbefriedigende Podiumsdiskussion, bei der man sich viel vornimmt, aber schliesslich zu keinem Ergebnis kommt.

Auslegeordnung ohne Erkenntnisgewinn

Das typisch Unbefriedigende einer Podiumsdiskussion zeichnet sich zuletzt gegen Ende des Textes erneut ab: Die sechs Frauen werden sich über die Lösung der aufgezählten Probleme nicht einig; es bleibt jedoch das unbehagliche Gefühl von etwas Dringlichem, aber nicht genau Benennbaren zurück. Schliesslich ist es Aina, die sich am Morgen nach dem Besuch bei Adrienne nicht anders zu helfen weiss, als eine gefährliche und komplett absurde Aktion im Kunsthaus zu veranstalten, die in einem Polizeigrosseinsatz gipfelt. Im letzten Moment wird hier die Dichotomie zwischen Sprechen und Handeln aufgemacht, da Aina die Einzige zu sein scheint, die aus dem vorabendlichen Gespräch Konsequenzen zieht. Das Buch wäre aber auch ohne den skandalösen Schluss ausgekommen, der am Ende doch mehr neue Fragen aufwirft als klärt. Schliesslich steht Kapitulation wohl vor demselben Problem wie der zeitgenössische Feminismus: Dass es für eine wirklich gleichberechtigte Gesellschaft noch viel zu tun gibt, ist nichts Neues mehr. Die Herausforderung besteht weiterhin darin herauszufinden, wie wir dorthin kommen.

Michèle Minelli: Kapitulation. 320 Seiten. Zürich: lectorbooks 2021, ca. 26 Franken.

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