Im vollen Gemeinderatssaal im Landhaus sitzen Silvia Süess, Vincent Kaufmann und Hengameh Yaghoobifarah (HY) am Tisch. Die Redaktionsleiterin Kultur/Wissen der WOZ moderiert die Diskussion zwischen dem ehemaligen Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement an der Universität St.Gallen und der Berliner Autor*in, Journalist*in und Medienwissenschaftler*in. Während einer Stunde wird darüber gesprochen, inwiefern neuere Phänomene wie Social Media und Clickbait das Spektakel befördern, und wie sich dies auch auf die Literatur auswirkt. Dafür haben die beiden Gäst:innen jeweils einen kurzen Input vorbereitet, welche sie zu Beginn vorlesen.
Kaufmann liest seinen Input auf Französisch, den Besucher:innen liegt eine deutsche Übersetzung vor. Er spricht von Legitimationsautoritäten und wie sich diese entwickeln. Die traditionellen Gate-Keeping Instanzen wie Verlage oder Literaturkritiker:innen, stehen heute mehr und mehr im Schatten von neuen Autoritäten wie Social Media-Accounts mit hohen Follower:innen-Zahlen. Schmunzelnd erzählt Kaufmann, dass ihm seine Sitznachbar:in Yaghoobifarah mit solchen Zahlen vorgestellt worden sei. HY habe mehrere tausend Follower:innen.
Weiter sinniert Kaufmann darüber, welche Literatur als tatsächlich, wirklich authentisch bezeichnet werden kann. Er befindet, dass in Zeiten der Selbstvermarktung, in denen das eigene Subjekt zum Produkt wird, die Autobiografie die einzige authentische Form der Literatur bleibt. Hat das mit der sich wandelnden Aufmerksamkeitsökonomie zu tun? Darauf könne noch keine Antwort gegeben werden, die Langzeitfolgen sind schlicht noch nicht ersichtlich.
Gate-Keeping heute vs. früher
Die hohen Followerzahlen von HY hätten Kaufmann erstmal neidisch gemacht. Beim näher darüber nachdenken ist die Vorstellung jedoch eher beängstigend: 50’000 Menschen, die sich von den eigenen, geposteten Ideen ernähren… «Ich habe ja bereits Mühe damit, einen halben Tag mit mir selber einverstanden zu sein!» Sobald jedoch ein Beitrag veröffentlicht ist, bleibt er dort fest und kann sich nicht mehr weiterentwickeln.
Süess erinnert bezüglich Gate-Keeping an Marcel Reich-Ranickis sexistische Aussagen beim Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preis. Es wird deutlich: Es gab schon immer Literatur von marginalisierteren Gruppen wir Frauen oder rassifierten Personen, sie konnte jedoch wegen solchen Gatekeeping-Instanzen schlicht nicht gedeihen.
Solche, alten (und bewährten?) Formen von Autorität und Legimitation werden wohl nicht so schnell verschwinden. Kaufmann bezieht sich für diese Aussage auf die Macht von Institutionen und den Umstand, dass solche Institution selten ihre Bedeutung oder ihren Einfluss einbüssen. Die Kulturbranche lebe eben von Institutionen, das sei immer schon so gewesen und werde sich auch nicht so schnell ändern.
Hengameh Yaghoobifarahs Input spiegelt die Ideen Kaufmanns. HY erinnert daran, dass die Literatur des Spektakels à la Christian Kracht oder Benjamin von Stuckrad-Barre zu Popkultur geworden sei und dieser auch entspreche. So habe HY zwar keine Texte der beiden Autoren selbst gelesen, kenne sie aber trotzdem, man entkomme dem Gespräch über sie kaum. Zum Spektakel tragen hier aber vor allem die Autorenpersönlichkeiten bei, weniger die Literatur an sich. Literatur sei für sich selbstsprechend und eher unaufgeregt.
Den grössten Beitrag zum Spektakel, den ein:e Autor:in erbringen kann, leiste ein Profil auf Plattformen wie Instagram oder Twitter. Dort steige der Druck der Selbstvermarktung für Personen, die literarisch tätig sind. Zum Teil geht es sogar so weit, dass die Verlage die Vermarktung eines Buches komplett auf die Autor:in und deren Social Media abschieben. Dieser Druck fühle sich befremdlich an, so Yaghoobifarah.
Vermarktung und Soziale Medien
Das passt auch zu den Legitimationsautoritäten, von denen Kaufmann spricht. Im Gegensatz zu vielen jungen Autor:innen mussten sich Krach und von Stuckrad-Barre für ihren Erfolg keine Social Media Profile zulegen, obwohl sie mittlerweile beide auf Instagram vertreten sind. Immer mehr ziehen die Verlage die Online-Präsenz der schreibenden Person hinzu, um die Vermarktbarkeit eines eventuellen Buchs besser einschätzen zu können. Diese sei grundsätzlich interessanter als das Buch selbst, so HY: „Jeder kann ein schlechtes Buch schreiben, wenn es sich nur vermarkten lässt.“
Auf Süess› Frage, ob HY die Vermarktung des Debütromans Ministerium der Träume (2021) bereits während des Schreibens im Kopf hatte, antwortet di:er Berliner:in: «Ich hab da einfach kein Bock drauf». Der Roman sei von der Aufmachung quasi das Gegenteil von Clickbait, ein pinkes Cover mit einem roten Kreis drauf, ein Titel der an sich nichts aussagt, es könnte alles oder nichts sein. Das sei bewusst so gewählt, der Roman überzeuge offensichtlich trotzdem.
Ist Spektakel-Literatur problematisch?
Kaufmann ist sich zwar nicht sicher, ob spektakuläre Literatur wünschenswert sei, die Spektakularisierung finde stufenweise statt und sich ihr als Autor:in zu entziehen, werde immer schwerer. Kurz: Spektakuläre Literatur ist nicht besser oder schlechter, sie ist einfach anders. Auch HY musste sich bereits mit solchen Angeboten von Verlagen auseinandersetzen. Es wird nach Authentizität gefragt und diese soll möglichst spektakulär sein. Wenn HY jedoch mit diesen Wünschen im Kopf ein autobiografisches Buch schreiben müsste, würde dies das «langweiligste Buch ever», auch wenn es sich sicherlich gut verkaufen würde.
Das Gespräch wird aus Zeitgründen eher abrupt beendet. Kaufmann, Yaghoobifarah wie auch Süess hätten wohl noch viel zu sagen gewusst, das Publikum verlässt den Raum und führt in kleineren Gruppen das Gespräch auf der Strasse oder auf dem Weg zur nächsten Veranstaltung weiter – sicherlich der Beweis für eine gelungene Diskussion.