Umgekehrte Evolution

Zu Beginn ein Geständnis: Ich weiss nie so recht, was ich im Vorfeld von Spoken Word Performances zu erwarten habe. In einer der letzten Veranstaltungen der Solothurner Literaturtage stellt Jens Nielsen Abschnitte aus seinem Programm «Auseinander fallen» vor und versetzt das Kino im Uferbau in eine heitere Stimmung.

Jens Nielsen betritt die Bühne nach einer kurzen Vorstellung von Pablo Haller und stellt die grosse Frage: «Unsere Evolution ist nicht zu Ende, aber wo gehen wir hin?» Die Ruhe im Kino entspricht in etwa dem Gewicht dieser existenziellen Frage. Bevor sich mein Eindruck, die Performance könnte ausschliesslich ernste Themen behandeln, festigen kann, fährt Jens Nielsen fort: «Wird eine neue Affenart aus dem Menschen entstehen?» Das Publikum wird durch die blosse Vorstellung dieser Zukunftsvision in Lachen versetzt, was das Szenario nicht weniger möglich machen soll.

In den darauffolgenden 40 Minuten machen wir gemeinsam mit dem Ich, von dem Jens Nielsen erzählt, alles durch: Die akribische Beobachtung einer in Gefahr geratenen Fliege durch eine:e Fahrer:in und ihrer einseitigen Konversation, das Unverständnis gesellschaftlicher Konventionen, wie beispielsweise, wann und wo man sich hinsetzt oder steht. Krönend ist wohl die Geschichte, wie dem Ich ein Blumentopf an den Kopf geworfen wird, nachdem es einen Vogel freigelassen hat, und bemerkt, dass es im Grunde Blumen bekommen hat.

In all den Schilderungen wirkt das Ich, das Jens Nielsen allmählich zu verkörpern beginnt, gutmütig, fast naiv, gleichzeitig aber sehr kritisch und klug. Es beweist, inwiefern alles Ansichtssache ist, indem man auf jede rhetorische Frage oder Aussage zustimmend mit «Darüber hätte ich nie nachgedacht.» antworten könnte. Mit diesen Schlussgedanken entlässt Jens Nielsen das aufgelockerte Publikum – für einige wird es die letzte Veranstaltung der Solothurner Literaturtage gewesen sein.

Wie Milch als Haut

Bedächtig, wohlüberlegt und sanft beginnt Ralph Tharayil zu lesen. Dann ein leichtes Krächzen – belegte Stimme – Frosch im Hals. Vielleicht der Aufregung geschuldet, vielleicht den eigenen Ansprüchen. Sehr viele Menschen sind hier. Wir sitzen im kathedralischen Kino am Uferbau, Sonntagmorgen um elf Uhr. Salomé Meier moderiert das Gespräch.

Ralph Tharayil ist als Kind indischer Migranten in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Sein Debütroman Nimm die Alpen weg ist ein Kindheitsroman, der auf eigenen Erfahrungen beruht. Der Titel kann als Anspielung auf James Baldwins Debütroman Go Tell It on the Mountain verstanden werden, dessen Text wiederum auf dem gleichnamigen Gospel basiert. Baldwin floh 1952 in die Walliser Alpen nach Leukerbad um seinen Roman zu schreiben. Auch Tharayil unternahm eine Reise nach Leukerbad. Die beiden PoC-Autoren verbindet eine Differenzerfahrung und die damit verbundene Frage: «Wie passt mein Körper in die Alpen?»

Der Körper ist zentral für die Erzählung von Nimm die Alpen weg. Immer wieder wird er spürbar gemacht. Schmatzend wie ein Schwein wird blutrote Sauce gegessen, die Mutter langt den Kindern in die Münder, tastet die Wurzeln der Zähne ab: «In unserem Mund ist Ma’s Nagellack rot». Kreishaft und durchaus gewaltvoll wird der Mund als Organ zur Kommunikation erschlossen. Die Frage nach der Muttersprache wirft Fragen nach Identität und Assimilation auf: «Welcher Kiefer spricht hier welche Sprache?» Zeichen, Semantik und Körper sind komplex verschachtelt.

Salomé moderiert souverän und mit geschliffener, literaturwissenschaftlicher Sprache – Ralph Tharayil kontert den Gestus so gekonnt, dass man sich in einem Uni-Seminar wähnt.

Die Eltern, stets als Ma und Pa bezeichnet und die beiden Geschwister, die in einem einheitlichen «wir» zur Sprache kommen, sind getrennt. Die Eltern opfern sich auf, um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Aber die Kinder verstehen die Chiffren des Klassenaufstiegs nicht. Sie sind Kinder. Die Distanz wird auf formaler Ebene performativ. Die lyrische Form des Textes lässt zwischen einzelnen Sätzen viel weisses Papier frei. Die Sprache ist mehrdeutig, bildhaft und unglaublich assoziativ. So wird aus der Haut, die sich auf verbrannter Milch bildet, die menschliche Haut aus Milch. In dieser poetischen und lückenhaften Erzählform, die stets ambig bleibt, unterscheidet sich Nimm die Alpen weg von marktgerechten, identitätspolitischen Romanen.

Tharayils Stimme bleibt das Gespräch über belegt. Das Krächzen zu Beginn ist vielleicht der performative Glitsch, bezeichnend für die Differenzerfahrung von Körper und Sprache, die Nimm die Alpen weg bestimmt.

Meine Katzen sehen alle wie Hunde aus

Heute Nachmittag ist im Gewölbekeller der Zeichenworkshop mit dem Finalisten des Kinderjugendpreises, Tom Reed.
Das Publikum besteht zu einem grossen Teil aus Kindern im Alter zwischen 4 und 6 Jahren. Toms Frau Miriam erzählt, dass dieser Workshop heute ein Sprachengemisch sei und sie alles übersetze, was Tom auf Englisch sagt.

Zu Beginn liest Miriam Toms neu übersetztes Kinderbuch Lea und Finn langweilen sich vor. Miriam ist dabei immer in Interaktion mit den Kindern. Sie stellt ihnen Fragen, wie die Geschichte wohl weiter gehen könnte oder ob die Kinder auch an einem so schönen Ort leben möchten. Miriam betont und zeigt mit ihren Gesichtsausdrücken, wie die Hunde Lea und Finn sich jeweils fühlen. Die Kinder hören dabei gespannt zu und wollen wissen, wie es weiter geht.

Tom und Miriam erzählen am Schluss, dass die deutsche Übersetzung ein anderes Ende hat als das englische Original. Der deutsche Verlag dachte nämlich, dass die Kinder Angst vor dem gruseligen Schluss mit den Kröten hätten und daher besser ein offenes Ende stehen sollte. Dadurch können die Kinder selber entscheiden, wie die Geschichte weiter gehen soll.

Nach der Lesung erklärt Tom den Kindern, dass er jetzt zeigen möchte, wie er seine Hunde und besonders deren Gesichtsausdrücke zeichnet. Im Anschluss an seine Erklärungen könne die Kinder dann selbst Hunde zeichnen.

Tom erklärt, dass das wichtigste am Anfang die Augen sind. Denn diese machen sehr viel mit dem Gemütszustand, ob sich der Hund nun zufrieden, traurig, müde oder böse fühlt.

Wenn Tom seine Hundecartoons zeichnet, versucht er immer selber wie ein Schauspieler die Gefühle nachzumachen. Um diese selber zu fühlen und im Anschluss auch besser zeichnen zu können.

Tom Reed meint, dass, weil er selbst einen Hund hat und auch immer wieder Hunde zeichnet, andere Tiere wie Katzen oder Kühe zum Teil wie Hunde aussehen.

Zum Schluss zeichnet Tom noch verschiedene Tiere, die die Kinder vorschlagen.

Als Geschenk für alle gibt es eine Bildkarte von seinen Cartoons und wer will, darf sich diese auch gerne signieren lassen.

Literatur vom Limes des Realitäts-Imperiums

«Wir haben eine Welt gebaut, in der nicht alle Menschen so viel Schutz finden wie Schweizer Igel.» – Halyna Petrossaniak

Wenig Menschen sind an diesem Sonntag Mittag in den Landhaussaal gekommen. Das ist schade; wie Zahnlücken klaffen die schwarzen Stühle in einem Mund, der gerade entscheidende, existenzielle Worte formt. Narr #36: Exit Exil stellt vier Schriftsteller:innen vor, deren Werke vom Leben im Exil, in der Fremde, vom Dasein auch in einer fremden Sprache handeln. Das narrativistische Literaturmagazin Narr, gegründet von Ruth Schweikert und Lukas Gloor, sammelt und veröffentlicht seit 2011 Texte und legt den Fokus dieser Ausgabe auf die Wander-, Flucht- und Ausbruchsgeschichten, die Sprache und Schriftsteller:innen gleichermassen zu erzählen haben.

Die ukrainische Lyrikerin, Übersetzerin und Literaturkritikerin Halyna Petrossaniak sagt gleich zu Beginn: «Ich bin Ukrainerin und ich kann das nicht verschweigen, dass in meinem Land jetzt Millionen Menschen leiden. […] Das ist 2’000 Kilometer von hier entfernt. Das ist nicht viel. […] Ich glaube nicht, dass es eine gute Strategie ist, das zu verschweigen.» Den Krieg verschweigen auch ihre Texte nicht. Mit klarer Sprache beschreiben sie das dennoch Unsagbare. Bilder bleiben hängen, zum Beispiel der Notfallkoffer, oder die Achtung!-Igel-Plakate in Schweizer Dörfern. Es gäbe weder im Himmel noch auf der Erde Plakate, die «Achtung! Kinder» oder «Achtung! Schwangere Frauen» zeigten und so vor Bomben schützen könnten. Unweigerlich werden die Bilder des zerstörten Theaters in Mariupol wieder wach, auf dessen Vorplatz ДЕТИ, KINDER geschrieben stand.

Sreten Ugričić, serbischer Schriftsteller und bis zu seiner politisch motivierten Entlassung 2012 Leiter der Serbischen Nationalbibliothek, liest daraufhin aus seinem Essay Literature as Exile, Exile as Literature: «In our times, one who lives in conscience – lives in exile. Moral life is life in exile. […] So, in our times, like in all times before, one who lives in literature lives in exile. We live and die for the world that works as if morality, truth and art were basically futile, ineffective, needless.» Dass Literatur eben nicht zwecklos, unwirksam und überflüssig ist, zeigt sich an den Texten und insbesondere auch an den Biografien von Schriftsteller:innen wie Ugričić und – später in der Lesung – Wagdy El Komy.

Doch zunächst liest Kameliya Taneva. Die Newcomerin aus Bulgarien, die in Köln und Sofia studiert, stellt klar, dass ihr Fremdsein – auch in der Sprache – im Gegensatz zu den anderen anwesenden Autor:innen durchaus freiwillig geschehe. Durch ihre Gedichte Mundmigration I und II wird dennoch auch die Anstrengung des fremden Sprach-Daseins fühl- und hörbar: «in der mundmühle fremdzungen zerkleinern zu bausteinchen zu sandkörnern kauen: äöüäöü».

Als letzter der vier Schriftsteller:innen tritt der ägyptische Exil-Autor Wagdy El Komy auf. Da er nach der Niederschlagung des Arabischen Frühlings zusehends von Repressionen betroffen war, habe er sich auf möglichst viele Schreib-Stipendien beworben, um sein Land verlassen zu können. Das Deutschschweizer PEN-Zentrum schliesslich habe ihn eingeladen; darum lebe er seither in der Schweiz. Dann liest er auf arabisch, später übersetzt von Joël László, aus seinem Essay: Exil und Auswanderung, oder: Wie der Prophet Moses auf die Sozialarbeiter trifft.

Schreiben als Weg, als Ausweg oder auch als (Welt-)Flucht werden in Literatur und kollektivem Gedächtnis gerne romantisiert. Will man von der realen Sprach- und Wortmacht reden und schreiben, läuft man jedoch genauso Gefahr, in Allgemeinplätze abzurutschen und in Worthülsen verloren zu gehen. Doch hier sei sie nochmals, passend zum Abschluss der Literaturtage: Die Erinnerung an das Potenzial der Literatur. Denn dass Literatur Grenzen auch im wortwörtlichsten Sinne überschreitet, überschreiten muss, dass Sprache sowohl das Potenzial zur Macht als auch zum Widerstand besitzt, über Einschluss und Ausschluss entscheidet wie Türen, Schlösser, Schlüssel, vergessen viele allzu schnell. Darum ist es auch äusserst bedauerlich, wenn solche Veranstaltungen in Vergessenheit geraten oder gar nicht erst besucht werden. Die vier Kurzlesungen haben nochmals gezeigt, dass Literatur, dass Sprache eine weltverändernde Wirkung haben kann. Sonst hätten eben in Regimen kritische Schriftsteller:innen auch keine Repressalien zu befürchten.

Wir sind immer noch auf Safari

Als Abschluss für die Solothurner Literaturtage gibt es noch das letzte Event 80 + 80, bei dem Christian Haller und Franz Hohler gemeinsam mit Esther Schneider auf der Bühne sitzen.

Der Landhaussaal ist noch zur Hälfte gefüllt mit dem Publikum der vorherigen Lesung mit Alain Claude Sulzer und auch draussen stehen schon wieder eine Menge Leute für die letzte Veranstaltung an. Schneider beginnt die Veranstaltung witzelnd, die beiden Autoren würden nie wirklich in den Ruhestand gehen wollen, im Gegenteil sogar gerade zur Hochform auflaufen. Beide sind 80 Jahre alt: Christian Haller feierte seinen Geburtstag am 28. Februar, Franz Hohler am 1. März. Haller meint dazu, dass ihn Hohler mit dem Alter niemals einholen könne, weil er ihm immer einen Tag voraus sei.

Die beiden Autoren verbindet aber nicht nur das Schreiben, sie sind beide beim selben Buchverlag Luchterhand und pflegen eine gute Freundschaft miteinander.
Die beiden Männer zeichnen sich durch sehr viel Witz und Charm aus.
Haller sagte zu seinem 80igsten Geburtstag:

Wenn man 80 ist, ist Lachen die beste Medizin.

Er sagte dabei aber nicht, worüber man denn lachen sollte.
Hohler weiss darauf prompt eine Antwort:

 Mit 80 vergisst man schonmal, was man gesagt hat.

Hohler wiederum hätte zu seinem 80igsten Geburtstag gesagt:

Mit 80 wird es ernst, willst du wirklich noch lernen mit Twint zu bezahlen?

Schneider hakt nach: Ob Hohler dies in der Zwischenzeit gelernt hätte? Er verneint dies, leider noch nicht. Der Saal amüsiert sich über Hohlers Antwort. Daraufhin möchte Schneider natürlich wissen, was die beiden denn nicht mehr lernen möchten.
Haller fällt dazu nichts ein, im Gegenteil, er interessiere sich für alles Neue. Ihn stachle die Neugierde an und er finde es bedauernswert, dass er nicht mehr alles miterleben kann. Er meint, dass er sich auch Twint nicht verweigere.
Hohler unterstützt diese Antwort, er habe sein Leben lang gelernt und möchte dies auch weiterhin noch tun. So sagt er stolz, dass er gerade Suaheli/Swahili lernt, weil er eine kenianische Schwiegertochter hat und diese mit seinem Enkel Suaheli spricht. Die Sprache sei zwar sauschwierig, aber der Grossvater müsse natürlich mithalten können. Hohler meint dazu auch, dass es ein Wort gibt, welches es aus dem Suaheli in die gesamte Welt geschafft hat, es ist Safari und bedeutet Reise.
Haller freut sich darüber, und meint, dass er und Hohler immer noch auf Safari seien und erklärt dies als Sprichwort für dein heutigen Abend.

Ich bin optimistischer Pessimist oder auch pessimistischer Optimist. Das kommt auf dasselbe hinaus.

Franz Hohler

Schneider fragt ihn, ob sich die beiden Seiten, die pessimistische und optimistische, denn die Waage hielten. Hohler meint, dass er genau das versuche zu leben. Es gäbe jeden Grund für Pessimismus, Beispiele dafür seien der Klimawandel oder auch die atomare Aufrüstung. Aber wenn man sich nicht auch über gewisse Dinge freuen könne, wie der Frühling, die blühenden Bäume, Büsche oder auch der Holderbusch, werde es schwierig. Den letzteren mag Hohler am liebsten, weil er sehr gerne selber Holdersirup macht. Wenn man sich also nicht freuen könne, so gehe man unter und habe nicht die Kraft, sich mit dem zu beschäftigen, was schwer ist.

Schneider will wissen, wann Hohlers letzter Glücksmoment war. Er meint dazu, dass dies gestern draussen vor der St. Ursen-Kathedrale gewesen sei, als er sah, dass alle Treppen besetzt waren und die Leute ihm alle zuhören wollten. Dies habe ihn mit einem Glücksgefühl durchströmt.
Hallers letzter Glücksmoment sei auch an den Solothurner Literaturtagen gewesen, als er sein Werk präsentieren durfte und sah, wie viele Menschen sich für sein Schaffen interessieren. Für ihn sei es aber auch ein Glücksmoment, wenn die Biese nicht mehr gehe, und man sich nicht mehr so warm einpacken müsse. Ihm gefalle auch die sommerliche Szenerie, die sich ihm in Solothurn heute Nachmittag geboten habe.
Hohler ergänzt, dass es ein Glücksmoment sei, mit 80 Jahren noch zu leben.

Schneider will von den beiden wissen, was ihre Freundschaft denn ausmache.
Haller sagt dazu, dass er Hohler schon sehr lange kennt. Damals habe Hohler ein Cello und noch etwas mehr Haare auf dem Kopf gehabt. Er habe ihn in einem Keller spielen sehen und Haller hätte sich über Hohlers Humor gefreut, denn dieser spiele mit dem Sprachwitz und diffamiere nie etwas. Das sei auch genau das, was Franz Hohler auszeichnet.
Hohler hingegen meint, dass er bei Luchterhand auf die Texte von Christian Haller gestossen sei und ihm diese gefallen hätten. So waren sie später auch öfters gemeinsam an der Frankfurter Buchmesse gewesen. Wenn sie sich dann am Abend einsam fühlten, gingen sie einfach zusammen in ein chinesisches Restaurant.

Beide sagten, dass sie heute zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne seien. Haller meint dazu, dass er sich schon oft vorgestellt habe, wie es wohl wäre, einmal gemeinsam mit Franz auf der Bühne zu sitzen.

Eh voilà! Es gibt Dinge, für die muss man erst einmal 80 Jahre alt werden

Christian Haller

Die beiden Autoren verbindet auch eine familiäre Beziehung, da Hallers Grossvater in Lostorf eine Weberei gekauft hat und dem damals kleinen Franz Hohler Lieder vorgesungen hat. Hohlers Vater habe sich daran erinnert, dass Hallers Grossvater den Grossvater von Hohler in der Weberei nur unter der Bedingung einstellte, dass dieser selbst in die Fabrik investiert. So sind danach beide Grossväter durch den Bankrott der Weberei betroffen gewesen. Hohler äussert dazu, dass Haller ihm daher noch etwas schulden würde.

Nach dieser ausführlichen Erläuterung über die familiären Überschneidungen von Haller und Hohler dürfen die beiden auch noch etwas vorlesen. Schneider kommt auf das Thema Rhein. Beide Autoren leben an diesem Gewässer, Hohler in Schaffhausen und Haller im Aargau.
Haller erzählt von einem einschneidenden Erlebnis in Laufenburg. Sein Arbeitszimmer ist am Rhein. Der Rhein selbst fliesst vor seinem Fenster von rechts nach links und Haller schreibt von links nach rechts, was teilweise etwas problematisch sein kann. Haller meint, dass der Rhein sein Haustier sei. Denn der Rhein kann sehr still und freundlich sein und gleichzeitig auch bedrohlich. Um dies besser verständlich aufzuzeigen, liest er aus seinem Buch Die verborgenen Ufer vor.
Hohler gefällt, dass Haller in seiner Lesung auf das instabile Fundament zu sprechen kommt, sowie das weggerissene Haus, das als Metapher zu verstehen sei. Auch Hohler habe in seiner Rheinwanderung den Fluss als Metapher betrachtet, teilweise sei er sein Freund, teilweise auch sein Feind.

Hohler habe auf seiner Rheinwanderung, die insgesamt 2.5 Jahre gedauert hat, auch die bedrohliche Seite des Rheins kennengelernt. Er sei eines Tages, nachdem das Hochwasser gerade zu Ende war, an einer Stelle vorbeigekommen, bei der ein riesiger Holzstamm lag. Er überlegte sich, welche Wucht und Kraft hier am Werk gewesen sein müsse, um so einen grossen Stamm zu transportieren. Dazu liest Hohler ein Kapitel aus seinem Buch Rheinaufwärts vor.

Schneider möchte im Anschluss von Haller wissen, ob er denn kein Wanderer sei. Er sei als Kind oft gewandert, antwortet der Autor, doch dies sei irgendwann verloren gegangen. Heute bevorzuge er eine andere Art des Wanderns: das Wandern durch Menschenmengen. Er möge es, lange im Beobachten von Menschen zu verweilen. Dabei versuche er, die Menschen zu verstehen und sie so zu sehen, wie sie wohl seien und was sie zu denjenigen gemacht habe, die sie sind. Dies sei eine andere Form des Wanderns, die zum Beispiel auch Schuhwerk spart.

Haller habe schon sehr früh mit dem Schreiben begonnen. Bereits mit 19 Jahren habe er sich entschieden Schriftsteller zu werden. Haller sagt, ihn habe die Unkenntnis sicher gemacht, dass er Schriftsteller werden wollte. Wenn er gewusst hätte, was da alles auf ihn zukomme, hätte er sich dies vielleicht nochmals überlegt. Das initiale Erlebnis für ihn sei gewesen, als er spürte, wie er Wörter in sich trage, die nach draussen wollten. Haller versuchte die Wörter zuerst in einem Brief aufzuschreiben. Er sei damit aber irgendwie nicht zufrieden gewesen, weil die Wörter etwas anderes von ihm wollten. So liess er den Wörtern seinen Lauf, woraus ein Gedicht entstand. Am nächsten Tag habe er gleich nochmal ein Gedicht geschrieben und von da an liess er seinen Wunsch Schauspieler zu werden fallen und gab sich ganz dem Schreiben hin. Er habe sehr viel geschrieben, was nicht veröffentlicht wurde und heute in einem Literaturarchiv zu finden ist. Haller habe sich auch stark für die Naturwissenschaft interessiert, weil diese so präsent, bestimmend und formativ für die Gesellschaft sei. Deshalb habe er sich mit 27 Jahren entschieden Biologie zu studieren.

Hohler hat Germanistik studiert. Er hat das Gotische und Althochdeutsch geliebt und interessierte sich auf für die Geschichte der Sprache. Er hat eine Zeitlang im Oltner Tagblatt Geschichten veröffentlicht und war literarisch und musikalisch auf der Bühne unterwegs. Seine Karriere begann im alten Heizungskeller an der Uni Zürich. Denn von da an habe er sich gesagt, dass er jetzt ein Jahr Pause machen möchte, um seine Gedanken zu formulieren und schreiben zu können.

Und das ist jetzt das Jahr, das bis heute andauert.

Franz Hohler

Schneider fügt hinzu, dass Haller sich beim Schreiben oft entlang des Lebens bewege und sich davon beeinflussen lasse. Hohler hingegen ist der Beobachter. Er ist derjenige, der den Alltag wie ein Bartenwal in sich aufnehme und nur das Wichtigste, was ihn berühre und amüsiere, auch behalte. Hohler mag die Vorstellung mit dem Bartenwal. Er fügt dazu gleich eine kleine Geschichte an: Er habe vor dem Tierspital in Zürich ein Zelt gesehen, das ihn an einen Walfisch erinnere. So sei die Geschichte Der Walfisch vor dem Tierspital entstanden. Darin frage die Schwester am Empfang den Walfisch, wieso er hier sei. Dieser antwortet, dass er Bauchschmerzen habe. Die Schwester fragt ihn, ob er den geimpft sei. (Es sei ja schliesslich Corona). Was der Walfisch mit ja, sogar drei Mal, beantworten kann. Aber er habe einen ungeimpften Propheten verschluckt.

Haller ergänzt, dass sein Schreiben von seinem Lehrmeister beeinflusst worden sei. Dieser sage ihm, dass er das Schreiben soll, was er kenne. Er schöpft also aus seiner Biographie. Diese Erfahrungen hätten ihn geprägt und zeigten ihm, was ihn umgäbe. Das ist für Haller ein Grundsatz. Er sagt, dass er nicht die Stoffe selbst auswählt, sondern die Stoffe ihn aussuchten. Ihm drängten sich die Gedanken auf, genau wie die Wörter. Für Hoher ist es aber ähnlich, es seien die Motive, die vor seiner Türe stehen und reingelassen werden möchten, wie bei Haller.
Hohler ging sogar soweit, dass er sich von einem Wissenschaftler in der Hirnforschung erklären lassen wollte, was eine Idee physisch genau sei und woher sie komme. Für Hohler gibt es dafür nämlich keine klare Erklärung. Er weiss, dass die Ideen aus der eigenen Substanz kommen, dem eigenen Leben, den Vorstellungen und Träumen. Für Hohler sind Träume sowieso ein wichtiger Teil von uns Menschen, den wir nicht unter Kontrolle hätten.

Schneider schliesst die letzte Veranstaltung damit, dass die beiden Autoren nochmals einen kurzen Text vorlesen. Hohler liest das letzte Kapitel aus Rheinaufwärts und Haller liest ein Gedicht.

Im Anschluss an die Veranstaltung gibt es noch einen kleinen Apéro im Säulensaal, mit dem auf die 45. Solothurner Literaturtage angestossen wird.

Literatur fiktionalisieren

Auf dem Podium nach dem Ursprung seines jüngsten Romanes gefragt, holt Alain Claude Sulzer weit aus. Er habe lange nach einem Grund gesucht, das komplette Tagebuch der Gebrüder de Goncourt zu lesen und deswegen vor einigen Jahren der NZZ für ein viel zu geringes Honorar eine Rezension angeboten – und dann «das ganze Ding» konsumiert. Eine Mammutaufgabe, denn die 2013 erschienene Ausgabe des Journal 1851-1896 enthält sämtliche Tagebucheinträge von Edmond und Jules de Goncourt – der französischen Väter des Naturalismus und Namensgeber des Prix Goncourt, des wichtigsten Literaturpreises Frankreichs – und umfasst 7’000 Seiten. Aus diesem Stoff hat der Schweizer Schriftsteller Claude Alain Sulzer ein Porträt der beiden Brüder geformt, das letztes Jahr erschienen ist. Der Verlag habe gewollt, dass Doppelleben, so der Titel des Buchs, zum 200. Geburtstag Edmond de Goncourt erscheine: «Damit die Aufmerksamkeit der Journalisten grösser ist.»

Das zwillingsgleiche Doppelleben der beiden Brüder, das Verschwiegene dieser Beziehung, das sich insbesondere auch in den skandalumwitterten Tagebüchern manifestiert, in denen sie über die Pariser Künstler- und Intellektuellen-Szene berichten und bisweilen herziehen, bildet den Rahmen dieser Romanbiografie. Doch auch das Doppelleben der Haushälterin Rose, die bereits zu Lebzeiten der Mutter de Goncourts angeheuert hat und bis zu ihrem Ableben bei den beiden Brüdern arbeiten wird, webt sich in das Leben der Schriftsteller ein. Roses Doppelleben, ihr geheimes Kind, der geheime Liebhaber, von dem sie sich abhängig macht und für den sie die Goncourts bestiehlt, geschehen vor den Augen der Brüder, ohne dass sie dies mitbekommen. Erst nach Roses Tod erfahren sie von ihrer zweiten Identität – und machen sie zur Protagonistin eines Romans.

Den aus dieser Episode hervorgegangenen Roman Germinie Lacerteux (1865) hat auch Sulzer in seinen Roman einfliessen lassen. Die Vergewaltigungsszene etwa, geschrieben von den Goncourts, habe er fast eins zu eins übernommen. Natürlich sei nicht klar, ob dies auch der echten Rose geschehen sei; in diesem Feld aus Mutmassung, Fiktionalisierung und Literarisierung jedoch bewegen sich die beiden Werke, und greifen in der aktuellen Rezeption ineinander. Die Kritik übrigens habe den Roman gut aufgenommen, insbesondere das Doppelporträt Sulzers, das anstelle eines Autorenporträts steht und auf eine Fotografie der Gebrüder anspielt, wurde von der Kritik zum Glück nicht verrissen: «Die Kritik versteht ja meist nicht so viel Spass».

Auch in Frankreich sei der Roman gut aufgenommen worden. Die Bedenken Sulzers, insbesondere im Heimatland der de Goncourts wegen allfälliger kultureller Aneignung auf Widerstand zu stossen – weil er als Schweizer über ein Französisches Nationalheiligtum geschrieben habe –, hätten sich nicht bewahrheitet. Und gut kommt der Roman auch beim Publikum in Solothurn an. Leider sind auch für diese Lesung die veranschlagten 45 Minuten zu kurz, könnte man doch insbesondere bei Sulzer auch noch Verbindungen zu seinen anderen Werken machen; etwa zu den Siamesischen Brüdern, in dem sich Sulzer bereits Anfang der 90er dem Thema der (wortwörtlichen) brüderlichen Verbundenheit gewidmet hat. So muss man es dieses Mal bei diesem kleinen Einblick in zwei beziehungsweise drei Leben belassen, in der Hoffnung, bald wieder von Sulzer zu hören.

Schlemmen in Solothurn

Nicht nur die Veranstaltungen sind in Solothurn wichtig, sondern auch die Pausen mit guten Freunden, um gemeinsam die Aare sowie die gesamte Atmosphäre wahrzunehmen.

Entlang der Aare gibt es in Solothurn unterschiedliche Restaurants und Cafés, die verschiedene kulinarische Köstlichkeiten anbieten. Bekannt sind das Barock Café mit ihrem «z’Morge Turm», mit dem man perfekt in den Tag starten kann. Nicht nur das Essen ist lecker, auch das Servicepersonal ist superfreundlich.

Wer nach all den Veranstaltungen am Nachmittag einen Durchhänger hat und sich eine kleine Stärkung mit Kaffee wünscht, ist in der Soleur Bar genau richtig. Egal ob Tee, Chai Latte oder Kaffee, die Bar hat alles, was das Herz begehrt. Natürlich darf auf etwas Süsses nicht fehlen, so empfiehlt sich der Baileyscake mit einem Klacks Sahne. Mit einer fantastischen Aussicht über die Aare lässt sich diese Süssspeise noch mehr geniessen. Auch wenn die Sonne heute etwas scheu ist, strahlt Solothurn seine Ruhe und frühlingshafte Aura aus.

Wem ein Kaffee nicht reicht und lieber bereits in den Apéro einsteigen möchte, erhält an der Soleur Bar auch diverse Digestif, Apéritivs und Drinks. Diese können drinnen oder auch draussen gemeinsam mit Freunden genossen werden. Wobei sich bei gutem Wetter natürlich die Gartenbar empfiehlt mit ihren kleinen Tischen und der Mauer, auf der sich gemütlich „päuselen“ lässt.

Der letzte Tag in Solothurn hat sich nochmals von seiner besten Seite gezeigt. Es ist richtiges Glace-Wetter. Das kann entweder bei der Vitaminstation ca. 100 Meter Richtung Altstadt geschlemmt werden, wobei dort die Schlange schon extrem lang ist. Eine andere Möglichkeit ist es, zur Gelateria Pizzeria Italia weiter zu wandern, die auch sehr beliebt ist. Dort gibt es sehr leckere selbstgemachte Glace. Diese lässt sich am besten auf der Mauer an der Aare, zwischen den vielen Menschen, die sich auch hinaus in dieses schöne Wetter begeben haben, geniessen.

Lis la traduction ! Dans l’original, on perd beaucoup

Ein deutsch-französisches Interview mit Ruth Gantert

Ruth Gantert et moi nous sommes donné rendez-vous devant le Kino im Uferbau à Soleure. Comme le café de ce dernier est encore fermé, nous nous installons au bord de l’Aar pour notre entretien. 

Ce n’est pas seulement notre amour des langues qui nous lie. Ruth Gantert a également débuté sa carrière comme enseignante après avoir étudié le Français et l’Italien aux universités de Zurich, Paris et Pise. Cependant, elle s’est vite aperçue qu’elle préférait se plonger dans la littérature plutôt que dans l’explication de structures linguistiques. C’est ainsi qu’elle est devenue, par l’intermédiaire d’une amie, directrice de la rédaction de l’annuaire trilingue des littératures suisses Viceversa et de la plate-forme Internet www.viceversaliteratur.ch.   

Maîtrisant les quatre langues nationales, Ruth Gantert traduit des textes de l’italien, du français et du rhéto-roman en allemand. Dies erfordert natürlich eine enorme Flexibilität von der Zürcherin – nicht nur im « Sprachen hüpfen », sondern auch geographisch: Sie ist in der ganzen Schweiz unterwegs. Im Zug reise sie aber sehr gerne, denn hier könne sie gut arbeiten – jedoch ohne Internet, um sich voll und ganz auf ihre Arbeit zu fokussieren. 

A Soleure, elle fait de même : elle passe d’une langue à l’autre entre les différentes manifestations. Depuis longtemps déjà, elle participe aux Journées littéraires, mais cette fois-ci, elle est particulièrement heureuse car une place de choix est réservée aux traducteurs et traductrices. Pendant trop longtemps, le travail de ces derniers n’a pas été accrédité, mais cela commencé à changer. Wir sprechen darüber, wie wichtig die Übersetzertätigkeit ist, denn Übersetzerinnen und Übersetzer haben die Möglichkeit, Leuten, die nicht mehrsprachig sind, neue Welten zu eröffnen. In enger Zusammenarbeit mit Autoren und Lektoren entstehen «neue alte» Werke, damit deren Inhalte ein noch grösseres Publikum erreichen können. 

Man darf also keinesfalls davon ausgehen, dass bei einer Übersetzung etwas verloren geht, sondern vielmehr, dass erweitert werden kann. So erwähnt Ruth Gantert ein Zitat eines Cartoons von Hauck & Bauer, wo es um die Übersetzung von Winnie-the-Pooh geht: 

„Das Buch musst Du in der Übersetzung von Harry Rowohlt lesen. Im Original geht da viel verloren.“ 

«Tu dois lire ce livre dans la traduction de Harry Rowohlt. Dans l’original, on perd beaucoup.»                                                                                    

– Hauck & Bauer

Les possibilités de traduction sont vastes. Ensemble, nous philosophons sur la manière dont l’accès aux langues étrangères pourrait également être facilité pour les enfants, si l’on arrivait à les enthousiasmer pour la traduction. So könnte man auch dem Englischen als langue vernaculaire ein bisschen entgegenwirken – wir haben ja schon 4 Landessprachen, von denen wir einige bestimmt noch stärken dürften. 

Einen wichtigen Beitrag zu diesem Unternehmen macht die Literaturzeitschrift Viceversa, für welche Ruth Gantert sich seit Jahren mit Herzblut engagiert. Hier werden fleissig Texte übersetzt, diskutiert und in einem Buch, welches es nur physisch zu kaufen gibt, publiziert. La publication la plus récente qui porte le titre Au contraire présente un dossier d’écrivains et écrivaines, des inédits et des cartes blanches de traduction que je voudrais pour finir chaleureusement recommander. J’ai pu admirer moi-même la version française que Ruth Gantert m’a offerte – merci beaucoup !