Le livre d’heures de Mauro Placì

Dans la frontière errante, bref recueil de poésies. Une reliure blanche, sensuelle, cousue au fil, donne envie d’explorer les poèmes dans les marges des pages blanches. Une dédicace définit l’opuscule comme un «livre d’heures», ces anciens livres de prières enluminés, comme une invitation à prendre le temps d’une lecture méditative.

Trois autres citations en exergue nous ramènent à l’origine de la lumière et de la nuit. Elles sont suivies par le premier court poème, un Rêve composé de six vers de six syllabes. Les nombres ne seront pas anodins dans le recueil. Comme dans le livre de la Genèse, des animaux sont nommés, le «ramier» ou le «renard», que l’on imagine aussi en marge des manuscrits médiévaux. L’autre poème liminaire, Le Désordre des heures, introduit des vers libres et annonce une «cordillère» de «lignes», image inversée, pour les vers poétiques, de celle des sillons que les paysans creusaient dans leurs champs.

L’imaginaire biblique et médiéval s’élargit ensuite à d’autres mythologies, dans Signe indien, ou maya, pour signifier la destruction proche du monde («un grand serpent s’apprête à gober la terre»). Mythologie plus explicitement nordique dans le poème A la source du temps, qui convoque le «grand arbre» Yggdrasill ou le sage Mímir, ou encore mythologie tsigane, avec les fées de Kechali, qui jouent le rôle des Parques tissant le destin des hommes. Interrogé par Pierre Fankhauser, l’auteur explique à l’intimité de son public soleurois que son projet initial était de produire un «recueil de légendes», mais que ce fonds s’est dissous dans un travail plus large dont il ne faut plus forcément chercher à identifier les sources. La poésie ne se veut pas hermétique, ou alors hermétiquement ouverte. L’unité thématique du recueil est donnée par l’exploration des frontières, des «rivages» ou des «rives», que le poète aime à placer dans des jeux phoniques avec les «rêves». Une expression somme toute assez héraclitéenne, qui cherche le sens dans les marges, au-delà des opposés, comme dans cet extrait de L’Or des Naufrages :

Tu déchireras les voiles de la nef

Tu défricheras la terre et le ciel

Tu marchanderas un peu d’amour contre un peu de pluie fine

Tu vivras d’un feu bref

Une autre fois il fera noir quand tu hisseras l’Étoile

au sommet de ta perte

Alors

il n’y aura plus de nuit il n’y aura plus de jour

A Soleure, le poète explique que son travail vise la fidélité, la loyauté à une intuition première, à une voix interne, parfois plus ancienne que soi, loin du brouhaha du monde. La recherche poétique apparaît ici avant tout dans les sonorités, la précision des images et des rythmes, sur les traces d’un Gustave Roud que l’auteur admire, mais aussi dans la conscience rimbaldienne que le monde ne peut jamais vraiment être dit («la vraie vie est absente»). Première publication du jeune auteur neuchâtelois, pour nous la découverte d’un petit joyau d’enluminures.

Wie Milch als Haut

Bedächtig, wohlüberlegt und sanft beginnt Ralph Tharayil zu lesen. Dann ein leichtes Krächzen – belegte Stimme – Frosch im Hals. Vielleicht der Aufregung geschuldet, vielleicht den eigenen Ansprüchen. Sehr viele Menschen sind hier. Wir sitzen im kathedralischen Kino am Uferbau, Sonntagmorgen um elf Uhr. Salomé Meier moderiert das Gespräch.

Ralph Tharayil ist als Kind indischer Migranten in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Sein Debütroman Nimm die Alpen weg ist ein Kindheitsroman, der auf eigenen Erfahrungen beruht. Der Titel kann als Anspielung auf James Baldwins Debütroman Go Tell It on the Mountain verstanden werden, dessen Text wiederum auf dem gleichnamigen Gospel basiert. Baldwin floh 1952 in die Walliser Alpen nach Leukerbad um seinen Roman zu schreiben. Auch Tharayil unternahm eine Reise nach Leukerbad. Die beiden PoC-Autoren verbindet eine Differenzerfahrung und die damit verbundene Frage: «Wie passt mein Körper in die Alpen?»

Der Körper ist zentral für die Erzählung von Nimm die Alpen weg. Immer wieder wird er spürbar gemacht. Schmatzend wie ein Schwein wird blutrote Sauce gegessen, die Mutter langt den Kindern in die Münder, tastet die Wurzeln der Zähne ab: «In unserem Mund ist Ma’s Nagellack rot». Kreishaft und durchaus gewaltvoll wird der Mund als Organ zur Kommunikation erschlossen. Die Frage nach der Muttersprache wirft Fragen nach Identität und Assimilation auf: «Welcher Kiefer spricht hier welche Sprache?» Zeichen, Semantik und Körper sind komplex verschachtelt.

Salomé moderiert souverän und mit geschliffener, literaturwissenschaftlicher Sprache – Ralph Tharayil kontert den Gestus so gekonnt, dass man sich in einem Uni-Seminar wähnt.

Die Eltern, stets als Ma und Pa bezeichnet und die beiden Geschwister, die in einem einheitlichen «wir» zur Sprache kommen, sind getrennt. Die Eltern opfern sich auf, um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Aber die Kinder verstehen die Chiffren des Klassenaufstiegs nicht. Sie sind Kinder. Die Distanz wird auf formaler Ebene performativ. Die lyrische Form des Textes lässt zwischen einzelnen Sätzen viel weisses Papier frei. Die Sprache ist mehrdeutig, bildhaft und unglaublich assoziativ. So wird aus der Haut, die sich auf verbrannter Milch bildet, die menschliche Haut aus Milch. In dieser poetischen und lückenhaften Erzählform, die stets ambig bleibt, unterscheidet sich Nimm die Alpen weg von marktgerechten, identitätspolitischen Romanen.

Tharayils Stimme bleibt das Gespräch über belegt. Das Krächzen zu Beginn ist vielleicht der performative Glitsch, bezeichnend für die Differenzerfahrung von Körper und Sprache, die Nimm die Alpen weg bestimmt.

Literatur vom Limes des Realitäts-Imperiums

«Wir haben eine Welt gebaut, in der nicht alle Menschen so viel Schutz finden wie Schweizer Igel.» – Halyna Petrossaniak

Wenig Menschen sind an diesem Sonntag Mittag in den Landhaussaal gekommen. Das ist schade; wie Zahnlücken klaffen die schwarzen Stühle in einem Mund, der gerade entscheidende, existenzielle Worte formt. Narr #36: Exit Exil stellt vier Schriftsteller:innen vor, deren Werke vom Leben im Exil, in der Fremde, vom Dasein auch in einer fremden Sprache handeln. Das narrativistische Literaturmagazin Narr, gegründet von Ruth Schweikert und Lukas Gloor, sammelt und veröffentlicht seit 2011 Texte und legt den Fokus dieser Ausgabe auf die Wander-, Flucht- und Ausbruchsgeschichten, die Sprache und Schriftsteller:innen gleichermassen zu erzählen haben.

Die ukrainische Lyrikerin, Übersetzerin und Literaturkritikerin Halyna Petrossaniak sagt gleich zu Beginn: «Ich bin Ukrainerin und ich kann das nicht verschweigen, dass in meinem Land jetzt Millionen Menschen leiden. […] Das ist 2’000 Kilometer von hier entfernt. Das ist nicht viel. […] Ich glaube nicht, dass es eine gute Strategie ist, das zu verschweigen.» Den Krieg verschweigen auch ihre Texte nicht. Mit klarer Sprache beschreiben sie das dennoch Unsagbare. Bilder bleiben hängen, zum Beispiel der Notfallkoffer, oder die Achtung!-Igel-Plakate in Schweizer Dörfern. Es gäbe weder im Himmel noch auf der Erde Plakate, die «Achtung! Kinder» oder «Achtung! Schwangere Frauen» zeigten und so vor Bomben schützen könnten. Unweigerlich werden die Bilder des zerstörten Theaters in Mariupol wieder wach, auf dessen Vorplatz ДЕТИ, KINDER geschrieben stand.

Sreten Ugričić, serbischer Schriftsteller und bis zu seiner politisch motivierten Entlassung 2012 Leiter der Serbischen Nationalbibliothek, liest daraufhin aus seinem Essay Literature as Exile, Exile as Literature: «In our times, one who lives in conscience – lives in exile. Moral life is life in exile. […] So, in our times, like in all times before, one who lives in literature lives in exile. We live and die for the world that works as if morality, truth and art were basically futile, ineffective, needless.» Dass Literatur eben nicht zwecklos, unwirksam und überflüssig ist, zeigt sich an den Texten und insbesondere auch an den Biografien von Schriftsteller:innen wie Ugričić und – später in der Lesung – Wagdy El Komy.

Doch zunächst liest Kameliya Taneva. Die Newcomerin aus Bulgarien, die in Köln und Sofia studiert, stellt klar, dass ihr Fremdsein – auch in der Sprache – im Gegensatz zu den anderen anwesenden Autor:innen durchaus freiwillig geschehe. Durch ihre Gedichte Mundmigration I und II wird dennoch auch die Anstrengung des fremden Sprach-Daseins fühl- und hörbar: «in der mundmühle fremdzungen zerkleinern zu bausteinchen zu sandkörnern kauen: äöüäöü».

Als letzter der vier Schriftsteller:innen tritt der ägyptische Exil-Autor Wagdy El Komy auf. Da er nach der Niederschlagung des Arabischen Frühlings zusehends von Repressionen betroffen war, habe er sich auf möglichst viele Schreib-Stipendien beworben, um sein Land verlassen zu können. Das Deutschschweizer PEN-Zentrum schliesslich habe ihn eingeladen; darum lebe er seither in der Schweiz. Dann liest er auf arabisch, später übersetzt von Joël László, aus seinem Essay: Exil und Auswanderung, oder: Wie der Prophet Moses auf die Sozialarbeiter trifft.

Schreiben als Weg, als Ausweg oder auch als (Welt-)Flucht werden in Literatur und kollektivem Gedächtnis gerne romantisiert. Will man von der realen Sprach- und Wortmacht reden und schreiben, läuft man jedoch genauso Gefahr, in Allgemeinplätze abzurutschen und in Worthülsen verloren zu gehen. Doch hier sei sie nochmals, passend zum Abschluss der Literaturtage: Die Erinnerung an das Potenzial der Literatur. Denn dass Literatur Grenzen auch im wortwörtlichsten Sinne überschreitet, überschreiten muss, dass Sprache sowohl das Potenzial zur Macht als auch zum Widerstand besitzt, über Einschluss und Ausschluss entscheidet wie Türen, Schlösser, Schlüssel, vergessen viele allzu schnell. Darum ist es auch äusserst bedauerlich, wenn solche Veranstaltungen in Vergessenheit geraten oder gar nicht erst besucht werden. Die vier Kurzlesungen haben nochmals gezeigt, dass Literatur, dass Sprache eine weltverändernde Wirkung haben kann. Sonst hätten eben in Regimen kritische Schriftsteller:innen auch keine Repressalien zu befürchten.

Wir sind immer noch auf Safari

Als Abschluss für die Solothurner Literaturtage gibt es noch das letzte Event 80 + 80, bei dem Christian Haller und Franz Hohler gemeinsam mit Esther Schneider auf der Bühne sitzen.

Der Landhaussaal ist noch zur Hälfte gefüllt mit dem Publikum der vorherigen Lesung mit Alain Claude Sulzer und auch draussen stehen schon wieder eine Menge Leute für die letzte Veranstaltung an. Schneider beginnt die Veranstaltung witzelnd, die beiden Autoren würden nie wirklich in den Ruhestand gehen wollen, im Gegenteil sogar gerade zur Hochform auflaufen. Beide sind 80 Jahre alt: Christian Haller feierte seinen Geburtstag am 28. Februar, Franz Hohler am 1. März. Haller meint dazu, dass ihn Hohler mit dem Alter niemals einholen könne, weil er ihm immer einen Tag voraus sei.

Die beiden Autoren verbindet aber nicht nur das Schreiben, sie sind beide beim selben Buchverlag Luchterhand und pflegen eine gute Freundschaft miteinander.
Die beiden Männer zeichnen sich durch sehr viel Witz und Charm aus.
Haller sagte zu seinem 80igsten Geburtstag:

Wenn man 80 ist, ist Lachen die beste Medizin.

Er sagte dabei aber nicht, worüber man denn lachen sollte.
Hohler weiss darauf prompt eine Antwort:

 Mit 80 vergisst man schonmal, was man gesagt hat.

Hohler wiederum hätte zu seinem 80igsten Geburtstag gesagt:

Mit 80 wird es ernst, willst du wirklich noch lernen mit Twint zu bezahlen?

Schneider hakt nach: Ob Hohler dies in der Zwischenzeit gelernt hätte? Er verneint dies, leider noch nicht. Der Saal amüsiert sich über Hohlers Antwort. Daraufhin möchte Schneider natürlich wissen, was die beiden denn nicht mehr lernen möchten.
Haller fällt dazu nichts ein, im Gegenteil, er interessiere sich für alles Neue. Ihn stachle die Neugierde an und er finde es bedauernswert, dass er nicht mehr alles miterleben kann. Er meint, dass er sich auch Twint nicht verweigere.
Hohler unterstützt diese Antwort, er habe sein Leben lang gelernt und möchte dies auch weiterhin noch tun. So sagt er stolz, dass er gerade Suaheli/Swahili lernt, weil er eine kenianische Schwiegertochter hat und diese mit seinem Enkel Suaheli spricht. Die Sprache sei zwar sauschwierig, aber der Grossvater müsse natürlich mithalten können. Hohler meint dazu auch, dass es ein Wort gibt, welches es aus dem Suaheli in die gesamte Welt geschafft hat, es ist Safari und bedeutet Reise.
Haller freut sich darüber, und meint, dass er und Hohler immer noch auf Safari seien und erklärt dies als Sprichwort für dein heutigen Abend.

Ich bin optimistischer Pessimist oder auch pessimistischer Optimist. Das kommt auf dasselbe hinaus.

Franz Hohler

Schneider fragt ihn, ob sich die beiden Seiten, die pessimistische und optimistische, denn die Waage hielten. Hohler meint, dass er genau das versuche zu leben. Es gäbe jeden Grund für Pessimismus, Beispiele dafür seien der Klimawandel oder auch die atomare Aufrüstung. Aber wenn man sich nicht auch über gewisse Dinge freuen könne, wie der Frühling, die blühenden Bäume, Büsche oder auch der Holderbusch, werde es schwierig. Den letzteren mag Hohler am liebsten, weil er sehr gerne selber Holdersirup macht. Wenn man sich also nicht freuen könne, so gehe man unter und habe nicht die Kraft, sich mit dem zu beschäftigen, was schwer ist.

Schneider will wissen, wann Hohlers letzter Glücksmoment war. Er meint dazu, dass dies gestern draussen vor der St. Ursen-Kathedrale gewesen sei, als er sah, dass alle Treppen besetzt waren und die Leute ihm alle zuhören wollten. Dies habe ihn mit einem Glücksgefühl durchströmt.
Hallers letzter Glücksmoment sei auch an den Solothurner Literaturtagen gewesen, als er sein Werk präsentieren durfte und sah, wie viele Menschen sich für sein Schaffen interessieren. Für ihn sei es aber auch ein Glücksmoment, wenn die Biese nicht mehr gehe, und man sich nicht mehr so warm einpacken müsse. Ihm gefalle auch die sommerliche Szenerie, die sich ihm in Solothurn heute Nachmittag geboten habe.
Hohler ergänzt, dass es ein Glücksmoment sei, mit 80 Jahren noch zu leben.

Schneider will von den beiden wissen, was ihre Freundschaft denn ausmache.
Haller sagt dazu, dass er Hohler schon sehr lange kennt. Damals habe Hohler ein Cello und noch etwas mehr Haare auf dem Kopf gehabt. Er habe ihn in einem Keller spielen sehen und Haller hätte sich über Hohlers Humor gefreut, denn dieser spiele mit dem Sprachwitz und diffamiere nie etwas. Das sei auch genau das, was Franz Hohler auszeichnet.
Hohler hingegen meint, dass er bei Luchterhand auf die Texte von Christian Haller gestossen sei und ihm diese gefallen hätten. So waren sie später auch öfters gemeinsam an der Frankfurter Buchmesse gewesen. Wenn sie sich dann am Abend einsam fühlten, gingen sie einfach zusammen in ein chinesisches Restaurant.

Beide sagten, dass sie heute zum ersten Mal gemeinsam auf der Bühne seien. Haller meint dazu, dass er sich schon oft vorgestellt habe, wie es wohl wäre, einmal gemeinsam mit Franz auf der Bühne zu sitzen.

Eh voilà! Es gibt Dinge, für die muss man erst einmal 80 Jahre alt werden

Christian Haller

Die beiden Autoren verbindet auch eine familiäre Beziehung, da Hallers Grossvater in Lostorf eine Weberei gekauft hat und dem damals kleinen Franz Hohler Lieder vorgesungen hat. Hohlers Vater habe sich daran erinnert, dass Hallers Grossvater den Grossvater von Hohler in der Weberei nur unter der Bedingung einstellte, dass dieser selbst in die Fabrik investiert. So sind danach beide Grossväter durch den Bankrott der Weberei betroffen gewesen. Hohler äussert dazu, dass Haller ihm daher noch etwas schulden würde.

Nach dieser ausführlichen Erläuterung über die familiären Überschneidungen von Haller und Hohler dürfen die beiden auch noch etwas vorlesen. Schneider kommt auf das Thema Rhein. Beide Autoren leben an diesem Gewässer, Hohler in Schaffhausen und Haller im Aargau.
Haller erzählt von einem einschneidenden Erlebnis in Laufenburg. Sein Arbeitszimmer ist am Rhein. Der Rhein selbst fliesst vor seinem Fenster von rechts nach links und Haller schreibt von links nach rechts, was teilweise etwas problematisch sein kann. Haller meint, dass der Rhein sein Haustier sei. Denn der Rhein kann sehr still und freundlich sein und gleichzeitig auch bedrohlich. Um dies besser verständlich aufzuzeigen, liest er aus seinem Buch Die verborgenen Ufer vor.
Hohler gefällt, dass Haller in seiner Lesung auf das instabile Fundament zu sprechen kommt, sowie das weggerissene Haus, das als Metapher zu verstehen sei. Auch Hohler habe in seiner Rheinwanderung den Fluss als Metapher betrachtet, teilweise sei er sein Freund, teilweise auch sein Feind.

Hohler habe auf seiner Rheinwanderung, die insgesamt 2.5 Jahre gedauert hat, auch die bedrohliche Seite des Rheins kennengelernt. Er sei eines Tages, nachdem das Hochwasser gerade zu Ende war, an einer Stelle vorbeigekommen, bei der ein riesiger Holzstamm lag. Er überlegte sich, welche Wucht und Kraft hier am Werk gewesen sein müsse, um so einen grossen Stamm zu transportieren. Dazu liest Hohler ein Kapitel aus seinem Buch Rheinaufwärts vor.

Schneider möchte im Anschluss von Haller wissen, ob er denn kein Wanderer sei. Er sei als Kind oft gewandert, antwortet der Autor, doch dies sei irgendwann verloren gegangen. Heute bevorzuge er eine andere Art des Wanderns: das Wandern durch Menschenmengen. Er möge es, lange im Beobachten von Menschen zu verweilen. Dabei versuche er, die Menschen zu verstehen und sie so zu sehen, wie sie wohl seien und was sie zu denjenigen gemacht habe, die sie sind. Dies sei eine andere Form des Wanderns, die zum Beispiel auch Schuhwerk spart.

Haller habe schon sehr früh mit dem Schreiben begonnen. Bereits mit 19 Jahren habe er sich entschieden Schriftsteller zu werden. Haller sagt, ihn habe die Unkenntnis sicher gemacht, dass er Schriftsteller werden wollte. Wenn er gewusst hätte, was da alles auf ihn zukomme, hätte er sich dies vielleicht nochmals überlegt. Das initiale Erlebnis für ihn sei gewesen, als er spürte, wie er Wörter in sich trage, die nach draussen wollten. Haller versuchte die Wörter zuerst in einem Brief aufzuschreiben. Er sei damit aber irgendwie nicht zufrieden gewesen, weil die Wörter etwas anderes von ihm wollten. So liess er den Wörtern seinen Lauf, woraus ein Gedicht entstand. Am nächsten Tag habe er gleich nochmal ein Gedicht geschrieben und von da an liess er seinen Wunsch Schauspieler zu werden fallen und gab sich ganz dem Schreiben hin. Er habe sehr viel geschrieben, was nicht veröffentlicht wurde und heute in einem Literaturarchiv zu finden ist. Haller habe sich auch stark für die Naturwissenschaft interessiert, weil diese so präsent, bestimmend und formativ für die Gesellschaft sei. Deshalb habe er sich mit 27 Jahren entschieden Biologie zu studieren.

Hohler hat Germanistik studiert. Er hat das Gotische und Althochdeutsch geliebt und interessierte sich auf für die Geschichte der Sprache. Er hat eine Zeitlang im Oltner Tagblatt Geschichten veröffentlicht und war literarisch und musikalisch auf der Bühne unterwegs. Seine Karriere begann im alten Heizungskeller an der Uni Zürich. Denn von da an habe er sich gesagt, dass er jetzt ein Jahr Pause machen möchte, um seine Gedanken zu formulieren und schreiben zu können.

Und das ist jetzt das Jahr, das bis heute andauert.

Franz Hohler

Schneider fügt hinzu, dass Haller sich beim Schreiben oft entlang des Lebens bewege und sich davon beeinflussen lasse. Hohler hingegen ist der Beobachter. Er ist derjenige, der den Alltag wie ein Bartenwal in sich aufnehme und nur das Wichtigste, was ihn berühre und amüsiere, auch behalte. Hohler mag die Vorstellung mit dem Bartenwal. Er fügt dazu gleich eine kleine Geschichte an: Er habe vor dem Tierspital in Zürich ein Zelt gesehen, das ihn an einen Walfisch erinnere. So sei die Geschichte Der Walfisch vor dem Tierspital entstanden. Darin frage die Schwester am Empfang den Walfisch, wieso er hier sei. Dieser antwortet, dass er Bauchschmerzen habe. Die Schwester fragt ihn, ob er den geimpft sei. (Es sei ja schliesslich Corona). Was der Walfisch mit ja, sogar drei Mal, beantworten kann. Aber er habe einen ungeimpften Propheten verschluckt.

Haller ergänzt, dass sein Schreiben von seinem Lehrmeister beeinflusst worden sei. Dieser sage ihm, dass er das Schreiben soll, was er kenne. Er schöpft also aus seiner Biographie. Diese Erfahrungen hätten ihn geprägt und zeigten ihm, was ihn umgäbe. Das ist für Haller ein Grundsatz. Er sagt, dass er nicht die Stoffe selbst auswählt, sondern die Stoffe ihn aussuchten. Ihm drängten sich die Gedanken auf, genau wie die Wörter. Für Hoher ist es aber ähnlich, es seien die Motive, die vor seiner Türe stehen und reingelassen werden möchten, wie bei Haller.
Hohler ging sogar soweit, dass er sich von einem Wissenschaftler in der Hirnforschung erklären lassen wollte, was eine Idee physisch genau sei und woher sie komme. Für Hohler gibt es dafür nämlich keine klare Erklärung. Er weiss, dass die Ideen aus der eigenen Substanz kommen, dem eigenen Leben, den Vorstellungen und Träumen. Für Hohler sind Träume sowieso ein wichtiger Teil von uns Menschen, den wir nicht unter Kontrolle hätten.

Schneider schliesst die letzte Veranstaltung damit, dass die beiden Autoren nochmals einen kurzen Text vorlesen. Hohler liest das letzte Kapitel aus Rheinaufwärts und Haller liest ein Gedicht.

Im Anschluss an die Veranstaltung gibt es noch einen kleinen Apéro im Säulensaal, mit dem auf die 45. Solothurner Literaturtage angestossen wird.

Literatur fiktionalisieren

Auf dem Podium nach dem Ursprung seines jüngsten Romanes gefragt, holt Alain Claude Sulzer weit aus. Er habe lange nach einem Grund gesucht, das komplette Tagebuch der Gebrüder de Goncourt zu lesen und deswegen vor einigen Jahren der NZZ für ein viel zu geringes Honorar eine Rezension angeboten – und dann «das ganze Ding» konsumiert. Eine Mammutaufgabe, denn die 2013 erschienene Ausgabe des Journal 1851-1896 enthält sämtliche Tagebucheinträge von Edmond und Jules de Goncourt – der französischen Väter des Naturalismus und Namensgeber des Prix Goncourt, des wichtigsten Literaturpreises Frankreichs – und umfasst 7’000 Seiten. Aus diesem Stoff hat der Schweizer Schriftsteller Claude Alain Sulzer ein Porträt der beiden Brüder geformt, das letztes Jahr erschienen ist. Der Verlag habe gewollt, dass Doppelleben, so der Titel des Buchs, zum 200. Geburtstag Edmond de Goncourt erscheine: «Damit die Aufmerksamkeit der Journalisten grösser ist.»

Das zwillingsgleiche Doppelleben der beiden Brüder, das Verschwiegene dieser Beziehung, das sich insbesondere auch in den skandalumwitterten Tagebüchern manifestiert, in denen sie über die Pariser Künstler- und Intellektuellen-Szene berichten und bisweilen herziehen, bildet den Rahmen dieser Romanbiografie. Doch auch das Doppelleben der Haushälterin Rose, die bereits zu Lebzeiten der Mutter de Goncourts angeheuert hat und bis zu ihrem Ableben bei den beiden Brüdern arbeiten wird, webt sich in das Leben der Schriftsteller ein. Roses Doppelleben, ihr geheimes Kind, der geheime Liebhaber, von dem sie sich abhängig macht und für den sie die Goncourts bestiehlt, geschehen vor den Augen der Brüder, ohne dass sie dies mitbekommen. Erst nach Roses Tod erfahren sie von ihrer zweiten Identität – und machen sie zur Protagonistin eines Romans.

Den aus dieser Episode hervorgegangenen Roman Germinie Lacerteux (1865) hat auch Sulzer in seinen Roman einfliessen lassen. Die Vergewaltigungsszene etwa, geschrieben von den Goncourts, habe er fast eins zu eins übernommen. Natürlich sei nicht klar, ob dies auch der echten Rose geschehen sei; in diesem Feld aus Mutmassung, Fiktionalisierung und Literarisierung jedoch bewegen sich die beiden Werke, und greifen in der aktuellen Rezeption ineinander. Die Kritik übrigens habe den Roman gut aufgenommen, insbesondere das Doppelporträt Sulzers, das anstelle eines Autorenporträts steht und auf eine Fotografie der Gebrüder anspielt, wurde von der Kritik zum Glück nicht verrissen: «Die Kritik versteht ja meist nicht so viel Spass».

Auch in Frankreich sei der Roman gut aufgenommen worden. Die Bedenken Sulzers, insbesondere im Heimatland der de Goncourts wegen allfälliger kultureller Aneignung auf Widerstand zu stossen – weil er als Schweizer über ein Französisches Nationalheiligtum geschrieben habe –, hätten sich nicht bewahrheitet. Und gut kommt der Roman auch beim Publikum in Solothurn an. Leider sind auch für diese Lesung die veranschlagten 45 Minuten zu kurz, könnte man doch insbesondere bei Sulzer auch noch Verbindungen zu seinen anderen Werken machen; etwa zu den Siamesischen Brüdern, in dem sich Sulzer bereits Anfang der 90er dem Thema der (wortwörtlichen) brüderlichen Verbundenheit gewidmet hat. So muss man es dieses Mal bei diesem kleinen Einblick in zwei beziehungsweise drei Leben belassen, in der Hoffnung, bald wieder von Sulzer zu hören.

Keine typische Wasserglas-Lesung

Das Studio Arici im Stadttheater Solothurn ist schwer zu finden. Eine Zuschauerin soll es vorhin in der Herrentoilette gesucht haben, startet Moderator Daniel Mezger scherzend in das Skriptor Szenisches Schreiben der diesjährigen Solothurner Literaturtage. Im Format Skriptor linsen Zuschauer:innen Textprofis beim «Werkstätteln» über die Schulter. Was das bedeutet? Das Publikum lauscht an diesem Samstagnachmittag den Autor:innen Martina Clavadetscher, Anaïs Clerc, Fabienne Lehmann und Lorenz Langenegger, wie sie den noch frischen unfertigen Dramentext von Schriftsteller-Kollegin Eva Roth diskutieren, interpretieren und kritisieren. Ein ergebnisoffenes Werkstattgespräch also.

Obwohl das keine typische Wasserglas-Lesung ist: erst mal Wasser einschenken. Im Publikum werden noch Kopien von Roths Texts rumgereicht, dann beginnt das Vorlesen der zehn Seiten Textausschnitt. Doch nach den ersten Worten – ein erstes verstohlenes Rüberlinsen zum Textdossier der Sitznachbarin, bald werden verwunderte Blicke im Publikum ausgetauscht, Leute blättern suchend. Bei der kurzen Lesepause zwischen ersten und zweitem Textteil räumt der Moderator entschuldigend ein, dass anscheinend der falsche Ausschnitt verteilt wurde. Aber da haben sich mittlerweile schon alle auf das Hörerlebnis eingelassen (Ausnahme: das kopfschüttelnde, betagte Ehepaar der ersten Reihe). Im zweiten Textteil stimmen die Auszüge auch wieder überein. Alle zufrieden (auch das strenge erste-Reihe-Ehepaar).

Im Anschluss an den Vorleseteil, der sich auf nur zehn Seiten Dramentext beschränkt, macht Anaïs Clerc den beschreibenden, resümierenden Einstieg in die Textbesprechung. Joni, die sechzehnjährige Tochter von Mutter Marit, ist seit drei Tagen verschwunden. Ein Grund zur Panik? Oder ein ‹gewöhnliches› Ausreissen einer Jugendlichen, auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden? Wie erlebt es Mutter Marit? Die Lesarten der vorne auf dem Podium Diskutierenden gehen auseinander. Anhand des Verschwindens der Tochter behandelt der Dramentext das Thema Mutterschaft, ja, den aufreibenden Druck der unerfüllbaren gesellschaftlichen Erwartungen an das Konzept «Mutter». Eva Roth lässt Ebenen verschwimmen und nach dem Szenenwechsel befindet sich Figur Marit in einem surreal anmutenden «Traumland». Eine Übermutter, eine «Göttin», (er-)mahnt sie zur Entspannung und massiert ihr die Füsse. Der starke Atlas stützt dabei den Himmel.

Das Werkstattgespräch läuft an, offene Fragen werden angerissen, Fährten freigelegt, Interpretationen aufgestellt und wieder verworfen. Clavadetscher, Clerc, Lehmann und Langenegger machen ihre Beobachtungen direkt an Textstellen fest. Einige Zuschauer:innen bezeugen hie und da mit zustimmenden Geräuschen den geteilten Leseeindruck. Viele Oberkörper im Publikum lehnen sich gespannt nach vorne gen Podium. Dass in den Köpfen eifrig mitinterpretiert wird, beweist die Wortmeldung eines Zuschauers, als sich die Diskussionrunde für Meldungen aus dem Publikum öffnet. Er habe in der Göttin, in der Übermutter, ChatGPT erkannt.

Die Autorin Eva Roth macht sich während des Werkstattgesprächs Notizen, bleibt aber stumme Zuhörerin, gemäss der anfänglichen Abmachung. Erst am Ende der Veranstaltung richten Clavadetscher, Clerc, Lehmann, Langenegger direkt Fragen an Roth als Autorin. Umgekehrt gibt Roth ebenfalls Rückmeldung, welche Punkte sie in ihrer weiteren Bearbeitung des Stücks einfliessen lässt.

Aufgrund des kurzen Textausschnittes arbeitet sich das Werkstattgespräch anfänglich vor allem an offen geblieben Fragen und angeteaserten Leseerwartungen ab, was denn Erkenntnisgewinn schmälert. Dennoch überzeugt das dynamische Veranstaltungsformat vollends. Und wer Eva Roths Stück in voller Gänze sehen möchte, sollte kommenden Montagabend ins sogar Theater in Zürich. In der Reihe der Kaltlesungen lesen dort Schauspieler:innen in Anwesenheit der Autor:innen ein Theaterstück, das noch im Entstehen ist. Eva Roth ist am 22. Mai an der Reihe mit ihrem Stück, das aktuell den sprechenden Titel Der Himmel über Mamiland trägt.

Raphaela Edelbauer mit ihrem Wienroman in Solothurn

Der Andrang bei Raphaela Edelbauers Lesung aus ihrem aktuellen Erfolgsroman «Die Inkommensurablen» ist gross. Dicht gedrängt stehen die Interessierten sowohl im Foyer vor dem Landhaussal als auch auf der Treppe. Moderatorin Esther Schneider lenkt Raphaela Edelbauer durch die Menge, die Autorin müsse noch durch. Die Autorin selbst murmelt sichtlich überrumpelt über das chaotische Anstehverhalten der Zuschauer:innen: «Was machen die Leute?»

Noch chaotischeren Menschenmassen und einer weitaus intensiveren Reizüberflutung begegnet Edelbauers Protagonist Hans bei seiner Ankunft in Wien am frühen Morgen des 30. Juli 1914. Es ist der Tag vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Edelbauers neuster Roman «Die Inkommensurablen» spielt nämlich in den 24 Stunden vor Kriegsausbruch und die Leser:innen folgen drei verschiedenen Protagonist:innen: dem belesenen Bauernsohn Hans, dem adligen Adam und Klara, die im Elendsviertel lebt, aber dank eines Stipendiums Mathematik studiert.

Während die vielfach prämierte österreichische Autorin sich in ihrem letzten Roman «Dave» mit Zukunft und künstlicher Intelligenz beschäftigte, nimmt sich Edelbauer in «Die Inkommensurablen» einem Wien an, das mehr als hundert Jahre zurückliegt. Trotz des historischen Stoffs, sei es ein Roman von grosser Aktualität, betont Moderatorin Esther Schneider. Gerade herrsche ja wieder Krieg in Europa, sei dies gar Ausgangspunkt des Romans gewesen? Edelbauer verneint, der Roman sei zwei Jahre vor der russischen Invasion in die Ukraine entstanden. Überhaupt fände sie es wichtig, kriegerische Gefechte getrennt voneinander zu betrachten und nicht vorschnelle Gemeinsamkeiten herzustellen. Vielmehr sei es Edelbauer darum gegangen, der Kriegsbegeisterung der damaligen österreichische Jugend nachzuspüren. Mit massenpsychologische Phänomenen setze sie sich generell in ihrem Schreiben auseinander. Zudem hatte sie schon immer einen Wienroman schreiben wollen. Anhand der drei Figuren, die alle in anderen «Ständen» aufgewachsen und ’sozialisiert› wurden, habe sie versucht ein umfassendes Panorama des fiebrigen Wiens um 1914 zu erschaffen. Eine Zeit, in der Wien die zweitgrösste Metrople Europas war und das Habsburger Reich noch weitläufige Gebiete umspannte. Sichtlich überrascht sind sowohl Moderatorin Schneider als auch das Schweizer Publikum, als Edelbauer auf die Frage, wie sie denn für den Roman recherchiert habe, antwortet, dass man in Österreich mit der k.u.k.-Zeit quasi aufwachse. Allein in Wien gebe es sehr viele Gründerzeithäuser, die Kaffeehaus-Kultur sei direkt aus der Habsburgerzeit weitergereicht, und schulisch sowie museal sehe man sich ständig mit dem Erbe der Monarchie konfrontiert. Dasselbe Spiel in der Literatur: «Ich habe Josef Roth und Musil inhaliert und ich liebe diese Leute. Aber irgendwann muss man auch mal was anderes machen», formuliert Edelbauer ihr Anliegen, der verbreiteten «Sisifizierung Österreichs» entgegenzutreten.

Selbstverständlich hat Edelbauer im Schreibprozess auch auf historische Quellen zurückgegriffen, beispielsweise viele Briefe von der Front gelesen. Doch in keiner Weise sei intendiert gewesen, eine historisch-naturalistische Sprache der Jugend in der Zeit des Ersten Weltkriegs zu imitieren, wie zum Teil im Feuilleton behauptet und bemängelt wird. Ihr Ziel sei von Anfang an eine Kunstsprache gewesen, die in grossen Teilen konventionell und nüchtern erzählt und in Passagen, wo die Figuren in die Wiener Subkulturen des Rausches abtauchen, ins Traumhafte übergeht. Die Herausforderung im Schreiben habe darin bestanden, den Krisenstaat des Kaiserreichs glaubhaft zu skizzieren, ohne den Figuren vermessene, überspitzte Inhalte in den Mund zu legen, und trotzdem sicherzstellen, dass auch Leute, die nicht in Österreich aufgewachsen sind, die Nuancierungen und den eingeflochtenen Humor verstehen.

Als plötzlich das Licht angeht, bricht leises Gemurmel im Saal aus. Fünfundvierzig Minuten sind schnell herum, wenn man sich angeregt über Literatur unterhält. Doch die zeitliche Punktlandung und verknappte Abschlussfloskel von Moderatorin Schneider entlässt die Zuschauer:innen etwas irritiert in die nächste Veranstaltung.

Wenn Erlebtes nicht gehört wird

Schwere, rote Samtsessel, gedimmtes Licht. Der Theatersaal des Solothurner Stadttheaters vermittelt die passende Stimmung für den düsteren Stoff, den Sarah Elena Müller in ihrem Roman Bild ohne Mädchen entspinnt. Mit Moderatorin Salomé Meier bespricht die Autorin ihren ersten veröffentlichten Roman.

Müllers Protagonistin wächst bei ihren antiautoritär erziehenden Eltern auf. Sie kümmern sich kaum um das Kind, beschäftigen sich lieber mit ihrer Arbeit als Bildhauerin und Biologe. So ist das Mädchen oft zu Besuch beim Nachbarn Ege, einem Medientheoretiker, der pädophile Neigungen zeigt und das Kind in seinen Filmen mitspielen lässt.

Das Kind kann das Erlebte nicht in Worte fassen – und auch wenn: Es nähme sich keiner den Sorgen der Tochter an. Sie wird permanent übersehen. „Deine Geschichte wurde nur erlebt, nicht gehört.“ So lautet ein Schlüsselsatz aus der Passage, die Müller vorträgt. Über ihre Position als Autorin und Urheberin der Geschichte sagt Müller: „Ich bin die einzige Person, die das Kind ernst nimmt.“

Das Scheitern der Sprache ist für die 33-Jährige ein wichtiges Thema im Buch: „Es existiert der Konsens, dass Sprache verständlich sein soll. Dabei gibt aber auch Formen der Sprache, in denen sie nicht verständlich ist.“ 

Während Sarah Elena Müller Passagen aus ihrem Buch vorliest, ist es mucksmäuschenstill im Saal. Mit grosser Sensibilität und viel Einfühlungsvermögen beschreibt die Schriftstellerin die kindlichen Gebärden des Mädchens, wie es sich beispielsweise Mückenstiche aufkratzt und die Bluttropfen mit Taschentüchern auftupft, wie es diese ‚verzierten’ Tücher aufbewahrt – stolz darauf, etwas geschaffen zu haben. Gleichzeitig stellt sich bei den Zuhörer:innen ein mulmiges Gefühl ein, wenn das Kind aus dem Fenster hinüber zur Wohnung des Nachbarn blickt und die geschlossenen Jalousien bemerkt. Die Leser:innen erleben die Perspektive des Kindes, wissen aber doch mehr.

So macht es den Eindruck, dass sich die junge Autorin einem äusserst schwierigen Thema auf subtile, angemessene Art und Weise genähert hat. Das Publikum hat Sarah Elena Müller auf jeden Fall in ihren Bann gezogen.

Einblicke in geschlossene Gesellschaften

Eigentlich hat Tabea Steiner nie darüber schreiben wollen. Doch nach und nach habe sie den Drang verspürt, über das Erlebte, über die Strukturen und Machtverhältnisse nochmals genau nachzudenken. Warum habe sie sich damals eingezwängt gefühlt? Am Ende der Recherche steht ein Buch: Immer zwei und zwei; über das Leben, Leiden und Lieben in einer Freikirche – und darüber hinaus.

Mit Mariann Bühler als Moderatorin, selbst Autorin und Literaturveranstalterin, füllt Tabea Steiner an diesem Samstag Morgen den Landhaussaal. Ihr erster Roman Balg war 2019 bereits für den Schweizer Buchpreis nominiert; Immer zwei und zwei ist diesen Februar erschienen. Der Roman erzählt von Natali, die einer Freikirche angehört und mit ihrer Familie – einem Mann und zwei Töchter – eigentlich perfekt in die Weltanschauung dieser Gemeinschaft passt. Doch Natali verliebt sich in eine Frau und sieht für ihre Töchter auch eine andere Zukunft, ausserhalb von Sonntagsschule, väterlicher Bevormundung und teilweise angsteinflössenden Weltvorstellungen.

Steiner ist selbst in einer streng religiösen Gemeinschaft aufgewachsen, hat sich aber als junge Erwachsene von dieser loslösen können. Die Recherche zu Immer zwei und zwei habe also vor allem aus dem Nachdenken über diese Zeit, über die Strukturen und Mechanismen dieser und ähnlicher Gemeinschaften bestanden. Erst vor kurzem habe sich Steiners alte Gemeinde übrigens aufgespalten: «Dieses Mal ging es um die Art der Musik, die in der Gemeinde gespielt werden darf. Früher ging es auch mal um die Frage, ob Frauen Röcke tragen müssten oder nicht».

Nachdem sie die Freikirche verlassen habe, habe sie vor allem erst einmal beobachtet. Als Primarlehrerin habe sie etwa in viele Lehrerzimmer Einblick gehabt und festgestellt, dass die gar nicht so anders seien als evangelikale Gemeinden; beide funktionierten über ungeschriebene Codes: «Da hat man die falsche Tasse genommen, sich an den falschen Platz gesetzt oder ist nicht zur richtigen Zeit zum Kopierer gegangen.» Einmal habe ihr eine Kollegin im Lehrerzimmer zugeflüstert: «Die, die da oben am Tisch sitzt: deren Vater hat ihre Mutter verlassen, weil er jetzt schwul ist.» Da bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Der Inhalt des Buches stand also relativ schnell fest. Doch an der Sprache habe sie feilen müssen. Wie bringt man so ein Umfeld, die Denkweise rüber? Immer zwei und zwei ist in zwei Teile, A und B, aufgeteilt, was an die Kassetten aus der Kindheit der Protagonistin Natali erinnert. Teil A besteht aus den Perspektiven der drei zentralen Frauenfiguren: Natali, Kristin und Rosalie. Rosalie habe ihr besonders leidgetan, da sie dann doch mit Tobias zusammenkommt. Ihre Perspektive sei eine besonders wichtige und an dieser Figur lasse sich auch eine Dynamik aufzeigen, die insbesondere Frauen in den Freikirchen betreffe: Als unverheiratete, kinderlose Frau solle sie eben verheiratet werden, um möglichst viele Kinder zu bekommen und so zum Fortbestand der Gemeinschaft beizutragen.

Teil B dann trage für Steiner gewissermassen eine Glasur. Wie beim Töpfern, wo die Glasur das Gefäss überziehe, würde dieser Teil die Konflikte nur unter der Oberfläche durchschimmern lassen; Familien und Gemeinde versuchten hier, das perfekte Bild zu wahren. «Bevor es in solchen Gemeinden zum Streit kommt, wird bei Meinungsverschiedenheiten schnell das Thema gewechselt – oder ein Lied angestimmt.»

Die einzelnen Abschnitte sind kleine Fenster, die unter der Oberfläche versteckte Konflikte vermuten lassen. Das Buch könne man sich auch vorstellen wie das Teppich-Bildnis aus dem freikirchlichen beziehungsweise allgemein-christlichen Diskurs: Vom Teppich ist nur die Unterseite sichtbar. Die Fäden sind scheinbar wirr angeordnet, folgen keiner erkennbaren Logik. Erst von oben – aus dem Himmelreich – erkennt man das wunderschöne Muster. Eine Metapher für das Leben und die verschlungenen, unergründlichen Wege Gottes.

Steiner spricht auch über das «Fehlen der Theologie». Da würde ein Prediger – «Ich wollte gerade gendern, aber es ist wirklich der Prediger» – seine persönliche Beziehung zu Gott zur Grundlage seiner Weltanschauung und der Predigt machen und dadurch teilweise unglaubliche Macht ausüben. Durch die fehlende theologische Einordnung der Bibelverse könne jeder aus allem herauslesen, was er wolle. Die Figur Kristin fungiert da als Gegenpol, zeigt eine andere Realität mit göttlichem Bezug auf, die eben diese Einordnung, auch die Einordnung der Kirche in zeitgenössischen Diskursen, zum Beruf habe. In diese Figur wird sich Natali verlieben.

Das Publikum schmunzelt häufig; bei einzelnen Passagen und Pointen lacht es herzlich. Wieviele tatsächlich eigene Erfahrungen mit Freikirchen gemacht haben, ist schwer abzuschätzen. Aber genau hier liegt auch Steiners Verdienst, denn ihr Buch ist keine Abrechnung. Es geht sowohl mit den Figuren als auch mit tatsächlichen Glaubensgemeinschaften dieses Schlags respektvoll um und schafft es über diesen Respekt, Empathie zu wecken und das Menschliche hinter den Strukturen zu erfassen. So auch das persönliche Fazit der Moderatorin Bühler: Für sie sei das Buch auch eine Einladung gewesen, die eigenen Normen und Werte zu hinterfragen, die eigenen Strukturen zu überdenken.

Mit geschärftem Blick in die Vergangenheit

Was tut man, wenn man zum ersten Mal in Solothurn ist? Für Raphaela Edelbauer ganz klar: einen Sprung in die Aare wagen. Ihre Lesung und ihr Gespräch mit Moderatorin Esther Schneider sind für die österreichische Autorin jedoch kein Sprung ins kalte Wasser. Die gebürtige Wienerin hat mit ihren vier veröffentlichten Büchern und zahlreichen Preisen einiges vorzuweisen. 

Im Landhaussaal spricht die Trägerin des österreichischen Buchpreises heute über ihren neuen Roman Die Inkommensurablen, der am Vorabend des Ersten Weltkrieges in Wien auf Spurensuche geht. Anhand der letzten 24 Stunden dreier Menschen vor Kriegsbeginn zeigt Edelbauer die weitverbreitete Kriegsbegeisterung und die Massenhysterie auf, die in allen gesellschaftlichen Schichten vorherrschte: Der 17-jährige Hans reist als Pferdeknecht aus dem Tirol nach Wien, um eine Psychoanalytikerin aufzusuchen. Bei dieser lernt er schliesslich die anderen beiden Figuren kennen. Adam kommt aus reichem Haus, aus dem er eine militärisch orientierte Erziehung mitnimmt. Ganz andere Wurzeln hat die Figur Klaras, die aus einem Elendsquartier in Wien kommt und in Armut aufwächst. Mit Hilfe einer feministischen Gruppe gelingt es Klara jedoch trotzdem, Mathematik studieren zu können. 

Dass Wien den Schauplatz dieses Romans bilden sollte, sei für die junge Autorin von Anfang an klar gewesen – einen Wiener Roman zu schreiben, sei schon immer ihr Wunsch gewesen, obwohl oder gerade weil sie die grossen österreichischen Modellromane Jospeh Roths und Robert Musils vor Augen hatte. Als weiteren Auslöser für dieses Werk nennt Edelbauer ausserdem die Faszination für Massenhysterie. Der pandemiebedingte Lockdown habe diese Faszination noch weiter ausgeprägt, und so sei schliesslich ein Roman entstanden, der die Weltkriegshysterie auch durch das Brennglas der Gegenwart zu verstehen versucht.

Kritisch bedenkt Edelbauer im Rahmen des Gesprächs die mit der österreichischen Weltkriegserinnerung verbundene Sentimentalität, die Verklärung der k.u.k.-Monarchie als verlorener einstiger, mit der auch Edelbauer als Wienerin schon zu Schulzeiten aufgewachsen ist. Ihr Anliegen bleibt es, den Blickwinkel zu erweitern und der ständigen Sisifizierung Österreichs entgegenzutreten. Ihr Roman Die Inkommensurablen bietet dementsprechend eine gute Alternative, Einblick in eine andere Zeit Österreichs zu erhalten. Es lohnt sich also nicht immer nur mit Zuversicht in die Vergangenheit zu schauen, sondern auch mal einen anderen Blickwinkel zuzulassen.