Weg mit der Zentralperspektive!

Draussen: Die flaschengrüne Aare, eine heitere Stimmung, Sonne, Glacé etc. Drinnen: Eine Podiumsdiskussion zur «Rolle des/der Autor*in in der Gesellschaft». Manch eine*r dürfte sich fragen, ob es zu diesem Thema überhaupt noch etwas Neues zu sagen gibt. Wenig erstaunlich ist es, dass dieses Podium nicht zum Publikumsschlager avanciert. Der Gemeinderatssaal ist zwar gut gefüllt, fasst aber bei Weitem nicht so viel Besucher*innen wie andere Veranstaltungsorte an den Solothurner Literaturtagen. Interessanterweise befinden sich dafür einige Autor*innen im Publikum.

Eröffnet wird das Podium von der Moderatorin Christa Baumberger. Souverän führt sie an das Thema heran und wechselt dabei fliessend vom Deutschen ins Französische. Die Veranstaltung findet bilingue statt; die Teilnehmer*innen sprechen jeweils ihre Sprache, zwei Simultandolmetscherinnen übersetzen. Baumberger hebt hervor, dass sie im Folgenden die historische Perspektive ausklammern und stattdessen das Heute in den Fokus rücken will. Dann gibt sie ihren drei Gästinnen das Wort, die jeweils einen kurzen Text zum Thema vorlesen; nach jeder Lesung folgt eine kurze Diskussion.

Drei Texte, drei Perspektiven
Autorin und Regisseurin Ivna Žic macht den Anfang mit einem Auszug aus ihrer Hamburger Poetikvorlesung. Es ist ein differenzierter, essayistischer Text, den sie vorträgt. «Warum sich nicht wundern über die, die anscheinend seit immer an einem Ort hocken und bleiben?», fragt sie in den Raum und begegnet damit der misstrauischen Neugierde, die Migrant*innen und sog. «Secondos» entgegengebracht wird. Zum Abschluss plädiert sie für eine «Gleichzeitigkeit der Perspektiven, Wege, Orte und Sprachen» – vor allem auch in der Literatur. Die anschliessende Diskussion dreht sich hauptsächlich um das Verhältnis zwischen Sprache und Macht. Žic hebt hervor, dass gerade klare Setzungen und Festschreibungen in der Sprache gefährlich werden können; sie sind zwar leichter zu verstehen und kontrollieren, geben aber nicht die Polyphonie der Wirklichkeit wieder.

Als Zweite bekommt Herausgeberin und Autorin Noémi Schaub das Wort. Sie liest einen lyrischen Text aus Romy Colombes Debut «Quelques fleurs» vor. Colombes Text kommt gleichzeitig sehr poetisch und ausserordentlich kämpferisch daher. Er thematisiert die Dominanz der «alten weissen Männer», und entlarvt die Unterdrücker als Menschen, die in erster Linie Angst vor der tatsächlichen Vielfalt des Lebens hätten. Die anschliessende Kurzdiskussion ist der «Macht der Poesie» gewidmet. Nach Schaub ist politische Sprengkraft der Lyrik vor allem ihrer kondensierten, kompakten Form geschuldet. In der Lyrik, so Schaub, würde nichts verwässert.

Den Abschluss macht Nathalie Garbely, die als Autorin und Übersetzerin tätig ist. Garbely legt einen sehr lyrischen Text vor, der auch die Simultandolmetscher*innen ins Schwitzen bringt. Auf die Schnelle aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, ist ihr Beitrag – Auszüge aus dem Text «Passer le seuil de la pudeur» – für die nicht-frankophonen Zuhörer*innen leider etwas unzugänglich. Den politischen Inhalten (etwa dem Thema der «droite décomplexée») nähert sie sich in einer sehr bildhaften Sprache. Garbelys Arbeit dreht sich darum, «in den Begriffen selbst Verschiebungen anzubringen und die Sprache zu öffnen», fasst Baumberger zum Schluss zusammen.

Eine abschliessende Antwort?
Was bleibt nun aber nach den ganz unterschiedlichen Texten, die im Laufe des Podiums vorgetragen wurden? Eine Quintessenz ist schwer herauszudestillieren, aber gerade darin liegt wohl der grosse Trumpf dieser Gesprächsrunde: Sie war ein perfomatives Plädoyer für eine Vielfalt der Perspektiven, Sprachen und Herangehensweisen. Tatsächlich wird die anfängliche Frage nach der Rolle des/der Autor*in auch noch einmal explizit durch eine Wortmeldung aus dem Publikum aufgegriffen. Žic antwortet pointiert, dass auch hier eine gewisse Pluralität wünschenswert sei. So gäbe es für sie nicht die Rolle des/der Autor*in in der Gesellschaft. Und wenn sie doch eine Rolle wählen müsste, dann bestünde diese eben genau darin, «die eine Zentralperspektive aufzulösen».

Vom Einschläfern der Wut

Der Landhaussaal ist gut gefüllt, gespannt wartet das Publikum auf Anna-Seghers-Preisträgerin Yael Inokai. Inokai hat dieses Frühjahr ihren dritten Roman herausgebracht: «Ein simpler Eingriff». Schon zu Beginn der Lesung macht Moderatorin Nadia Brügger deutlich, dass sich Inokai in ihrem Buch teils mit unbequemen, aber sehr wichtigen Themen befasst. Die Geschichte dreht sich um die junge Krankenschwester Meret, die aus Überzeugung bei der Durchführung einer neuartigen Therapie mitwirkt. Dabei werden – vorwiegend weiblichen – Patient*innnen gewisse Teile aus dem Gehirn geschnitten, um ihre Wut für immer «einzuschläfern». Weibliche Devianz wird damit «korrigiert», die Frauen sollen nach der Operation endlich den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht werden. Erst ihre Zimmergenossin Sarah, in die sich Meret verliebt, lässt die verdrängten Zweifel in Meret wieder laut werden.

Bei der Lesung gibt Inokai einen grosszügigen Einblick in ihren Roman: Ruhig und konzentriert liest sie längere Passagen. Leider mangelt es dabei ein bisschen an Verve: Es ist schwer zu sagen, ob das Inokais abklingender Erkältung geschuldet ist, oder der reduzierten, sterilen Sprache des Romans. Diese fängt die Klinikatmosphäre zwar ganz gut ein, wirkt im Vortrag aber etwas stumpf. Auch das Gespräch zwischen Inokai und Brügger nimmt eher schleppend Fahrt auf, obwohl viele interessante Fragen im Raum stehen. Inokai erzählt von ihrer Faszination für den Mikrokosmos Klinik, der «die Hierarchien und Machtverhältnisse, die es im Grossen gibt, eindampft». Ein weiteres Thema sind die fehlenden Raum- und Zeitmarker; Inokai behält sich damit Deutungsraum offen und zeigt, dass zum Beispiel viele «feministische Errungenschaften nicht in Stein gemeisselt sind und sich jederzeit wieder ändern könnten.» Auch die Vielschichtigkeit des antiquierten Begriffs «Krankenschwester» wird diskutiert: Er beinhaltet für Brügger und Inokai ein gewisses Bild der Pflege und bringt auch noch andere Aspekte von Schwesternschaft mit ein.

Meret und Sarah sind aber nicht nur selbstaufopfernde Krankenschwestern, sondern zugleich auch Mittäterinnen. Inokai betont, dass es sie besonders reizt, von Menschen zu erzählen, «die gerade noch die Kurve kriegen». Dieses Stichwort bringt Brügger zum Thema des Widerstands; sie wirft die Frage auf, ob Meret und Sarah die Klinik nicht von innen heraus verändern. Inokai reagiert zögerlich. Sie hebt die Macht der Institutionen hervor und bezweifelt die Kraft und Mittel ihrer Protagonistinnen. Brügger scheint mehr an den Text heranzutragen und seinen Figuren zuzutrauen als die Autorin selbst. Als Brügger Inokai zuletzt fragt, ob sie selbst denn gegen etwas anschreibe, antwortet Inokai, dass sie wohl eher für etwas schreibe. Wofür Inokai aber schreibt, verrät sie nicht. Das gilt es in ihrem Buch selbst zu entdecken.

«Krachende Nackenhaare» und «kandierte Idyllen»

Beim Betreten des alten Theaters fühlt man sich, als würde man in einem hohen, dunklen Kessel Platz nehmen. Der Sommer ist hier ausgesperrt, der Literaturtrubel weit weg. Lukas Gloor, Germanist und Mitherausgeber der Literaturzeitschrift «Narr», heisst die Gäste willkommen und stellt klar, dass hier keine Lesung im engeren Sinne, sondern vielmehr eine «Spoken Poetry Performance» stattfinden wird. Mit gespanntem Applaus begrüsst das Publikum Schriftstellerin Simone Lappert und Musikerin Martina Berther, die diese Performance gemeinsam bestreiten werden. Lappert, Absolventin des Schweizerischen Literaturinstituts, hat dieses Jahr ihr drittes Buch herausgebracht: den Gedichtband «längst fällige verwilderung». Berther widmet sich als E-Bassistin unterschiedlichen Musikprojekten und hat 2020 den Schweizer Musikpreis gewonnen.

«du kannst alles noch einmal zählen, es fehlt / nicht an windmessern, platzbauten, zeit», setzt Lappert zum ersten Gedicht an, das auch ihren Gedichtband eröffnet. Langsam steigt Berther mit dem E-Bass ein. Die Musik ist vorsichtig tastend, lässt der Lyrik den nötigen Raum, selbst zum Klingen zu kommen. So merkt man schnell: Der Rhythmus muss nicht an Lapperts Sprache herangetragen werden, der Rhythmus steckt in den Gedichten selbst. Berther und Lappert sind ein eingespieltes Team, und es erstaunt nich, dass die beiden Frauen auch ausserhalb der Solothurner Literaturtage gemeinsam auftreten. Musik und Stimme überzeugen so gerade im Doppel, funktionieren aber auch für sich: Auch die Passagen, die Lappert ohne Begleitung liest, geben eine überzeugende Performance ab. Auswendig, mit grosser Präsenz und sicherer Stimme trägt sie ihre Gedichte vor. Diese handeln von Mensch und Natur, Vergänglichkeit und Erinnerung, Stillstand und Aufbruch. Immer wieder blitzt das Wilde hervor; oft in Verbindung mit weiblicher Unangepasstheit, die sich langsam aber sicher Bahn bricht. Lapperts Sprache ist dabei so vielseitig wie die verhandelten Themen selbst: Mal behutsam, mal erstaunlich rau, immer stark. Oft müssen die Wortbilder im eigenen Kopf noch einen Moment lang nachklingen, um besser eingeordnet werden zu können.

So abwechslungsreich wie Lapperts Gedichte ist auch Berthers musikalische Begleitung. Sphärisch-verträumt bis aggressiv-lärmig – Berther entlockt ihrem Instrument sämtliche Klangregister. Manchmal formen sich aus den Tönen ganze Landschaften, die sich organisch um die Gedichte von Lappert legen: Die Pampa von Albany, aber auch die Seetaler Mondnacht finden im alten Theater Platz. Zart und zugleich entfesselt, so kommt Lapperts «längst fällige verwilderung» in Solothurn daher. Sie reiht Gedicht an Gedicht; spontane Kommentare und Nebenbemerkungen gehören nicht hierhin. Das Publikum scheint das aber auch nicht zu vermissen und hängt bis zum letzten Wort an Lapperts Lippen.

Unser Team in Solothurn:
Jana Bersorger

Als Vorbereitung auf die Tage in Solothurn hat sich Jana eine doppelseitige Liste zusammengestellt mit den Veranstaltungen, die sie auf keinen Fall verpassen darf. Vielleicht ist sie damit in dieselbe Falle getappt wie im ersten, zweiten und dritten Semester bei den Modulbuchungen. Glücklicherweise ist Jana bei der Semesteranzahl inzwischen im zweistelligen Bereich und hat sich deswegen beherzt durchgerungen, auf das ein oder andere zu verzichten.

Nicht entgehen lässt sie sich aber die «Spoken Poetry Performance» von Simone Lappert, die Lesung von Yael Inokai und das Podium zur «Rolle der*des Autor*in in der Gesellschaft». Dazwischen möchte sie – ganz moderat – nur noch ein bisschen von A nach B hetzen.

Jana Bersorger studiert Deutsche Literaturwissenschaft und TAV (Theorie – Analyse – Vermittlung) im Master.