Vom Einschläfern der Wut

Der Landhaussaal ist gut gefüllt, gespannt wartet das Publikum auf Anna-Seghers-Preisträgerin Yael Inokai. Inokai hat dieses Frühjahr ihren dritten Roman herausgebracht: «Ein simpler Eingriff». Schon zu Beginn der Lesung macht Moderatorin Nadia Brügger deutlich, dass sich Inokai in ihrem Buch teils mit unbequemen, aber sehr wichtigen Themen befasst. Die Geschichte dreht sich um die junge Krankenschwester Meret, die aus Überzeugung bei der Durchführung einer neuartigen Therapie mitwirkt. Dabei werden – vorwiegend weiblichen – Patient*innnen gewisse Teile aus dem Gehirn geschnitten, um ihre Wut für immer «einzuschläfern». Weibliche Devianz wird damit «korrigiert», die Frauen sollen nach der Operation endlich den gesellschaftlichen Erwartungen gerecht werden. Erst ihre Zimmergenossin Sarah, in die sich Meret verliebt, lässt die verdrängten Zweifel in Meret wieder laut werden.

Bei der Lesung gibt Inokai einen grosszügigen Einblick in ihren Roman: Ruhig und konzentriert liest sie längere Passagen. Leider mangelt es dabei ein bisschen an Verve: Es ist schwer zu sagen, ob das Inokais abklingender Erkältung geschuldet ist, oder der reduzierten, sterilen Sprache des Romans. Diese fängt die Klinikatmosphäre zwar ganz gut ein, wirkt im Vortrag aber etwas stumpf. Auch das Gespräch zwischen Inokai und Brügger nimmt eher schleppend Fahrt auf, obwohl viele interessante Fragen im Raum stehen. Inokai erzählt von ihrer Faszination für den Mikrokosmos Klinik, der «die Hierarchien und Machtverhältnisse, die es im Grossen gibt, eindampft». Ein weiteres Thema sind die fehlenden Raum- und Zeitmarker; Inokai behält sich damit Deutungsraum offen und zeigt, dass zum Beispiel viele «feministische Errungenschaften nicht in Stein gemeisselt sind und sich jederzeit wieder ändern könnten.» Auch die Vielschichtigkeit des antiquierten Begriffs «Krankenschwester» wird diskutiert: Er beinhaltet für Brügger und Inokai ein gewisses Bild der Pflege und bringt auch noch andere Aspekte von Schwesternschaft mit ein.

Meret und Sarah sind aber nicht nur selbstaufopfernde Krankenschwestern, sondern zugleich auch Mittäterinnen. Inokai betont, dass es sie besonders reizt, von Menschen zu erzählen, «die gerade noch die Kurve kriegen». Dieses Stichwort bringt Brügger zum Thema des Widerstands; sie wirft die Frage auf, ob Meret und Sarah die Klinik nicht von innen heraus verändern. Inokai reagiert zögerlich. Sie hebt die Macht der Institutionen hervor und bezweifelt die Kraft und Mittel ihrer Protagonistinnen. Brügger scheint mehr an den Text heranzutragen und seinen Figuren zuzutrauen als die Autorin selbst. Als Brügger Inokai zuletzt fragt, ob sie selbst denn gegen etwas anschreibe, antwortet Inokai, dass sie wohl eher für etwas schreibe. Wofür Inokai aber schreibt, verrät sie nicht. Das gilt es in ihrem Buch selbst zu entdecken.

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