KW37

Signora Liquida

Grünfelder

Liquida: Der neue Erzählband der Tessiner Autorin Anna Felder hält Rückschau auf ein Werk, das einer Poetik des Fliessenden nicht nur motivisch gewidmet ist. Alessia Peterhans, Redaktorin unseres Kooperationspartners vice versa, über eine Schweizer Autorin, die dank zahlreicher Übersetzungen auch für den deutschen Sprachraum zu entdecken ist.

Von Alessia Peterhans
11. September 2017

Ordnung und Überraschung 

Beim Lesen der Werke Anna Felders hat man oft den Eindruck, die Erzählung werde von einer Situation ausgelöst, in der sich die Autorin befand oder von einem Ereignis, das sie selbst erlebt hat. Im Februar 2017 erschien im Verlag Opera Nuova der Erzählband Liquida, dessen Publikation zwei Gründen zu verdanken ist: Der erste liegt in der Person der Autorin, die anlässlich eines runden Geburtstags Ordnung schuf in ihren Papieren und einige noch unveröffentlichte Erzählungen zusammen mit anderen, die in Zeitschriften oder Anthologien erschienen  waren, veröffentlichen wollte. Der andere Grund ist auf Feldnersche Art literarisch. In der letzten, titelgebenden Erzählung des Bandes, «Liquida», geht es um die Überraschung der Erzählfigur, die auf einem an sie adressierten Brief statt «Signora Anna Felder» «Liquida Anna Felder» liest. Die Leserinnen und Leser müssen nun ihre Vorstellungskraft walten lassen, indem sie sich die Handschrift auf dem Briefumschlag vergegenwärtigen und der Autorin willig in die Zergliederung dieses Wortspiels folgen.

Schlüssige Zufälle

Li-qui-da – die ersten zwei Silben des Adjektivs in der femininen Form, das dem Namen der Autorin vorangestellt ist, werden als Titelüberschriften zweier Textgruppen im Buch verwendet, wobei («dort») und Qui («hier») vielleicht schon vor der Ankunft des schicksalhaften Briefs feststanden. Der Zufall hat manchmal etwas überraschend Schlüssiges: Tatsächlich erscheinen auch in den früheren Werken der Autorin die Themen des Hier und Anderswo, der Migration und der Gegenüberstellung zweier Länder in abstrakten, scheinbar gegensätzlichen Begriffen. So zeigt sich in der ersten Erzählung des Bandes, «Chi mi chiama» der Unterschied zwischen zwei nicht näher bestimmten geografischen Gebieten in der Art und Weise, wie der Name der Hauptfigur ausgesprochen wird: «Marisa, mit dem in die Länge gezogenen i, wie sie es hier sagen […]. Dort draussen in der Stadt, war sie nie so Marisa genannt worden, wie es richtig ist.» Das i steht hier stellvertretend für ein durch seine Sprache – Italienisch – gekennzeichnetes Land und ist Teil einer Geografie der Erinnerung als ein Klangelement, das, wie die Seen und Berge, nicht den Veränderungen der Zeit unterworfen ist.  Das eigene Land, die eigene Sprache verlassen und dann zurückkehren – dieses für Anna Felder zentrale Thema findet sich von Anfang an in ihrem Werk, seit dem 1972 auf Italienisch publizierten Romanerstling Tra dove piove e non piove (das zuerst auf Deutsch erschienen ist: Quasi Heimweh, übersetzt von Federico Hindermann. Zürich: Rodana-Verlag, 1970).

Zur Autorin

Anna Felder, geboren 1937 in Lugano, Literaturstudium in Zürich und Paris, Promotion über Eugenio Montale. Danach Tätigkeit als Italienischlehrerin in Aarau und Schriftstellerin. Felders literarisches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke in italienischer Sprache, der Grossteil liegt in deutscher Übersetzung vor. 1998 wurde ihr für ihr Gesamtwerk der Schillerpreis verliehen, 2018 zeichnete sie das Bundesamt für Kultur mit dem Grand Prix Literatur aus. Felder lebt heute in Aarau und Lugano.
Foto: © Yvonne Böhler

Flüssiges Erzählen

Liquida («flüssig»), ein Adjektiv, das normalerweise keiner Person zugeschrieben wird, klingt nicht völlig abwegig vor dem Namen Anna Felders. Seen, Meere, Regengüsse und Flüsse sind ein wichtiger Bestandteil ihrer literarischen Landschaft. Das Wasser ist eine vertraute Begleiterin bei Reisen und erlaubt ihr, bestimmte Stimmungen zu beschreiben. So etwa in der Erzählung «Madame Germaine», in der eine Frau ihre Tage als «Spielball des grenzenlosen Meeres» verbringt: «Bei sich zu Hause, zwischen den alltäglichen Gegenständen und Namen, die noch ein wenig oben schwimmen, vorsichtig, unauffällig». Das Meer erscheint als Metapher für das allmählich sich ausbreitende Schweigen der Welt, das der fortschreitenden Gehörlosigkeit der Hauptfigur geschuldet ist. Das Meer ist aber auch der Rahmen, der die Erzählung in sich einschliesst, denn sie endet so, wie sie begonnen hat, mit «Madame Germaine auf hoher See». Mit dem Setzen eines narrativen Rahmens wird auch bestimmt, was ausserhalb der Geschichte bleibt, und welche scheinbar banalen Vorkommnisse – hier das unvermittelte Auftauchen einer Katze oder einer Spinne – umgekehrt grosse Wichtigkeit erlangen. In anderen Erzählungen wiederum findet sich das flüssige Element eher im Rhythmus des Erzählflusses, der in langen, mäandernden Sätzen das unausweichliche Vergehen und Verfliessen der Zeit beschreibt, wie im kurzen Text «Buona continuazione»: «‹Gute Weiterreise› sagt er mir sofort nochmal, wenn er mich zwei Stunden später, und ruhig auch zwei Jahre später wieder trifft, und schiebt mir so ins Unendliche, und jedes Mal für alle Male, meine baldige Rückkehr, meine baldige Abreise zu, so definitiv sie sich auch eines Tages erweisen könnte.»

Die Eier von Bern

Liquida! – Dritte Person Indikativ oder zweite Person Einzahl, Befehlsform: Liquida kann auch als konjugierte Form des Verbs «liquidare» («beseitigen, auflösen») gelesen werden.  Da stellte sich denn die Frage, wer wen aufforderte, zu liquidieren. Aber wer den Stil der Autorin etwas kennt, wird schnell den Verdacht schöpfen, es könnte sich bei dieser Lesart des Titels wieder einmal um eine augenzwinkernde Aufforderung an den Leser und die Leserin handeln.  Nicht selten findet man auch im früheren Werk eine feine Ironie, mit der häufig förmliche Personen oder Haltungen betrachtet werden, die man eventuell auch auf schweizerische Klischees zurückführen kann. Aber beim näheren Betrachten lassen solche Begebenheiten oft eine tiefere Bedeutung erkennen und münden in existentielle Dimensionen. Dies geschieht in einer Erzählung, die bereits im Titel ihre geografische Verortung verkündet: «Le uova di Berna» («Die Eier von Bern»). Dank der Warnung eines Vorübergehenden – «Achtung!» – kann die Hauptperson gerade noch dem Auto ausweichen, das sie überfahren hätte, aber als sie sich an den Mann wendet, um ihm zu danken, hört sie, wie dessen Gattin ihm Vorwürfe macht, weil er eine fremde Frau auf der Strasse angesprochen hat. Die typisch schweizerische Höflichkeit und Zurückhaltung werden hier auf die Spitze getrieben, und dies derart, dass sich die Erzählperspektive mitten im Geschehen ändert. Die Geschichte endet nicht aus der Sichtweise des Beinahe-Opfers, sondern begleitet den Mann, der seinen Weg wieder aufnimmt. So bleibt den Leserinnen und Lesern nicht nur die Gefahr, der die Frau entronnen ist, in lebhafter Erinnerung, sondern auch der Tonfall und die Stimme der Ehefrau, die dem Mann «vertrauter noch als Bern» sind.

Wer den zahlreichen Schichten folgt, aus denen sich auch der neueste Erzählband Anna Felders zusammensetzt, kann am Schluss nur hoffen, dass Anna Felder den Befehl nicht an sich selbst richte und sie sich also, mit Liquida, noch lange nicht als Autorin entlasse.

Übersetzung: Ruth Gantert

Anna Felder: Liquida. Lugano: Edizioni Opera Nuova 2017. 110 Seiten. Eine deutsche Fassung von Liquida erscheint im November beim Limmat Verlag in der Übersetzung von Maja Pflug und Ernst Strebel unter dem Titel «Circolare».

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