KW36

«… eine helvetische Verhinderung der Neuzeit».

Lukas Bärfuss

Niklaus von Flüe, der Schutzpatron der Schweiz, hat sein Ende in Amerika gefunden. In seinem Grab in der Pfarr- und Wallfahrtskirche Sachseln (OW) liegt ein anderer: sein Sohn Hans von Flüe. Adam Schwarz erzählt in seinem Romandebüt «Das Fleisch der Welt» die etwas andere Geschichte vom «Bruder Klaus» – und operiert damit zugleich am Herzen des eidgenössischen Selbstverständnisses. Beim Besuch in der Buchjahr-Redaktion sprach der Autor über Askese, Hedonismus und die Schweiz in der Moderne.

Von Redaktion Buchjahr
4. September 2017

Adam, zunächst einmal: Wann hast Du Dich dafür entschieden, einen «Bruder Klaus»-Roman zu schreiben – und aus welchen Gründen?

Dazu entschlossen habe ich mich 2012 während einer Spanien-Rundreise. Die Ursprungsidee kam mir, als ich in Sevilla am Grab von Kolumbus gestanden bin und mir dann Jacques Chessex’ Roman «Der Vampir von Ropraz» in den Sinn kam. In dem Roman liegt im «Grab des unbekannten Soldaten» unter dem Pariser Triumphbogen ein jurassischer Leichenschänder. Da dachte ich mir: Was wäre eigentlich, wenn auch in diesem Grab jemand ganz anderes liegen würde? Das hat sich dann mit den Eindrücken einer Flüeli-Ranft-Wanderung vermengt. Ich kannte die Figur des «Bruder Klaus» natürlich schon vorher, aber so richtig auseinandergesetzt hatte ich mich damals noch nicht mit ihr. Für die Generation meiner Grosseltern war das noch eine viel wichtigere Figur. Im Zuge der Geistigen Landesverteidigung bekam «Bruder Klaus» bekanntlich eine grosse Bedeutung zugesprochen. Und da dachte ich: Eigentlich ist das eine Figur, die absolut nicht in die «Neue Welt» und das Zeitalter der Entdeckung passt. Gerade drum hat es mich gereizt. Ich habe mir dann das Quellenwerk von Robert Durrer besorgt (Bruder Klaus. Die ältesten Quellen über den seligen Niklaus von Flüe, sein Leben und seinen Einfluss. Regierungsdruckerei, Sarnen 1917ff., Nachdruck 1981) und darin dann so viele faszinierende Facetten dieser Figur entdeckt – und auch seinen ältesten Sohn Hans kennengelernt, den Ich-Erzähler meines Romans, der am Ende die Rolle seines Vaters als Eremit übernimmt. Auch der ist freilich nicht historisch getreu geschildert, in Wirklichkeit wurde er ja später Landammann. Später soll man ihn gar der Brandstiftung beschuldigt haben. Diese Aspekte fallen in «Das Fleisch der Welt» etwas unter den Tisch.

Es ist ja tatsächlich auch eine Vater-Sohn-Geschichte.

Ja, die hat mich in der Tat auch mit am stärksten interessiert. Das Unglaubliche am «Bruder Klaus» ist ja nicht zuletzt die Trennung von der Familie – eine Trennung, bei der der Vater sich von Frau und Kindern lossagt, um in unmittelbarer Nachbarschaft ein Einsiedlerdasein führen zu können. Da steckt ja auch eine unfassbare Grausamkeit dahinter: die Nähe des Abwesenden.

Nun platzt, wie es der Zufall so will, die Veröffentlichung Deines Buches mitten in die Feierlichkeiten zum 600. Geburtstag des Niklaus von Flüe.

Die Koinzidenz war nicht geplant, denn eigentlich wollte ich mit dem Roman schon vor zwei Jahren fertig sein. Im Moment entwickelt sich daraus allerdings eine interessante Dynamik: «Das Fleisch der Welt» kann man auch als eine Gegenerzählung zu den rechtskonservativen «Bruder Klaus»-Narrativen lesen, die ich ihrerseits wieder für Fiktionen halte. Der Text zeigt auf, dass es sich um eine Figur handelt, die extrem viele Interpretationen zulässt. Die dominante ist immer noch die isolationistische, die immer wieder das «mischt Euch nicht in fremde Händel» und das «macht den Zaun nicht zu weit» beruft. Das vermischt sich dann mit ideologisch festkonnotierten Erzählungen wie der von der Hand am Himmel über Waldenburg im Mai 1940.

Zum Autor

Adam Schwarz, geb. 1990 in Bülach (Basel), hat Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig studiert. Er arbeitet als freier Journalist («Neue Zürcher Zeitung», «Literarischer Monat», «VICE») und war bis 2020 Redaktor der Oltner Literaturzeitschrift «Narr». 2017 erschien sein Prosadebüt «Das Fleisch der Welt». Mit «Glitsch» (2023) legt er seinen zweiten Roman vor.
Foto: © Stefan Dworak

Wie ernst nimmt der Text eigentlich Religion bzw. religiöse Erlebnisse?

Ich selbst bin Atheist, doch hier geht es ja insbesondere auch um Religion als eine Form der Disziplin, die man sich und anderen abverlangt. Das Fasten, für das Bruder Klaus steht, bekommt im Roman eine andere Wendung: Der Mann, der nicht isst, ist der Mann, der seine Umwelt aufzehrt. Der Aspekt war mir wichtig, da ich glaube, dass das immer noch ein praktiziertes Verhaltensmuster ist. Vielleicht weniger im religiösen Feld, aber es gibt doch weiterhin genug Leute, die einer leeren Transzendenz nachjagen und dadurch ihre Familien zerstören.

Welchem Genre würdest Du den Text zuordnen?

Schwierig. Die Traditionslinie wäre wohl am ehesten die Sorte Erzählung, die man im Englischen «counterfactual» nennt und der man dann Philip K. Dicks «The Man in Thea High Castle» oder Christian Krachts «Ich werde da sein im Sonnenschein und im Schatten» zuordnen kann. Im angelsächsischen Sprachraum ist das Genre viel verbreiteter, im deutschen Sprachraum gibt es da ausser Kracht fast nichts. Dabei ist es allerdings so, dass meine Alternativweltgeschichte am Ende kaum Konsequenzen auf die Realität hat; gerade dort, wo es Konsequenzen geben könnte, bricht die Erzählung ab. Das war ein bewusster Entscheid.

Wieviel spätmittelalterliche Realität würdest Du dem Roman zusprechen wollen?

Auf gar keinen Fall wollte ich den Eindruck erwecken, es handle sich in irgendeiner Weise um einen historischen Roman, durch den man in eine fremde faszinierende Welt eintauchen könne. Zum einen halte ich diese geschichtsgetreuen Fiktionen vor allem für Fleissarbeit, zum anderen sollte der Text gerade nicht eskapistisch sein. Dementsprechend bewegen sich alle Figuren auch in der Sprache unserer Gegenwart und es gibt keine Avancen an das Frühneuhochdeutsche. Es geht ums Jetzt. Ich glaube, dass man mehr über das Jetzt sagen kann, wenn man seine Geschichten nicht im Jetzt verortet. Dementsprechend bin ich eher skeptisch, was diese gerade sehr gefeierte Authentizitätsliteratur angeht. Ich glaube, da, wo man so authentisch wie möglich sein will, lügt man gerade am meisten – und schiesst am weitesten an der Wirklichkeit vorbei. Im Erzählen des Vergangenen kommt man hingegen der Gegenwart viel näher.

Der Roman kreuzt auch noch ein anderes Genre, mit dem man in der Schweiz gut vertraut ist: die Robinsonade.

Die Thematik vom Einsiedler oder vom Inseldasein beschäftigt mich immer wieder. Vor «Das Fleisch der Welt» habe ich mich an einem anderen Roman abgearbeitet, der in einer Zukunftswelt spielte, in der zwei Typen auf einem Verkehrskreisel gestrandet sind, den sie aufgrund der gigantischen Verkehrsströme nicht mehr verlassen können. Ich habe das aber verworfen – und anstelle dieses Romans ist nun dieser andere entstanden.

Kommen wir mal zu den Figuren. Was reizt einen Erzähler an einer Figur wie dem Basler Henker Georg Vischer?

Die Figur stand einfach irgendwann vor mir. Ein Hedonist, extrem diesseitig, eine Gegenfigur zur Askese der von Flües. Der konturiert die anderen Figuren natürlich sehr schön und gleichzeitig verschaffte er mir beim Schreiben immer wieder ein wenig Erleichterung. Allein würde diese Figur sicherlich keine Erzählung tragen können, aber im Ensemble unverzichtbar.

Askese und Hedonismus – sind das Phänomene, die man mit Blick auf unsere Gegenwart erzählerisch adressieren muss?

Es gibt schon so ein Comeback der Askesis, schaut man mal auf die Kulturkritik, z. B. Robert Pfaller oder auch Žižek. Wir glauben ja immer noch, in einer «Anything goes»-Gesellschaft zu leben, tatsächlich stimmt das ja aber gar nicht. In der Regel geht es vor allem um Ich-Kontrolle. In punkto Gesundheit. In punkto Liebe. Love without the fall. Hinter der Ich-Kontrolle steht aber die Vorstellung einer Transzendenz, der wir uns freilich nicht mehr bewusst sind. Aus der leiten sich die Forderungen der Ich-Kontrolle ab.

Und was ist mit dem Hedonismus?

Das Vischer-Konzept? Es fehlt eigentlich in unserer Zeit. Das, was uns derzeit an hedonistischen Lebenskonzepten präsentiert wird, hat ja wenig mit Genuss zu tun. Exzess ist nicht vorgesehen, alles muss qualitativ geregelt sein. Vischer lebt hingegen sehr in einer sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit, was uns zunehmend abgeht. Wir halten uns für Realisten, sind aber nicht durchs Sinnliche geleitet, sondern durch Begriffe, Abstraktionen. Das gilt gerade für diejenigen, die glauben, besonders bodenständig zu sein. Platt gesagt gibt es also viel zu wenige Vischers und viel zu viele von Flües. Und vor allem viel zu viele Bruder Ulrichs.

Das ist in der Tat eine Figur in Deinem Roman, die einen sehr aggressiv werden lässt.

Ich fand den Ulrich deswegen interessant, weil man sich diese Existenz im fünfzehnten Jahrhundert kaum vorstellen kann – obwohl es den Kerl wirklich gegeben hat! Bruder Ulrich war ja eine Art Flüe-Fanboy, der dann seine eigene Klause gerade auf der anderen Seite der Melchaa gebaut hat. Sein Versuch, es in der Askese seinem Vorbild nachzutun, ist dann spektakulär gescheitert. Stattdessen hat er sich von Dorothea, der Frau von Niklaus von Flüe, die sich ja bereits allein um dessen Hof kümmern musste, durchfüttern lassen.

Von Fasten und Fressen mal überhaupt zum Körperlichen: «Das Fleisch der Welt» ist – nomen est omen – ein sehr körperbetonter Text. Es gibt da – neben einer sehr drastischen Bettszene, in der Eros und Thanatos zusammenkommen – reichlich Wunden, Knochen, Zähne, Verstümmelungen. Sind wir da bei der Groteske – oder woher diese Lust an der Verletzlichkeit des menschlichen Körpers?

Ich mag solche Texte, die diese körperliche Seite ausspielen, von Grimmelshausen oder Cervantes über Hamsuns «Hunger» bis hin zu Grass’ «Blechtrommel». Über den Körper bekommt man einen besseren Zugang zu den Figuren. Meine Stärke liegt nicht in der Annäherung an das Gefühl, aber ihr Körper erschliesst mir meine Figuren. Im Körper der Figuren drückt sich ihre Haltung zu der sie umgebenden Welt aus.

Kehren wir zu den nicht zu weit gefassten Zäunen zurück. Dein Roman stellt Bruder Klaus geradewegs in den Dienst einer Gegenbewegung.

In der Tat: Niklaus von Flüe «entdeckt» Amerika, er geht da so weit über die Zäune wie kein anderer Europäer seiner Zeit. Allerdings ist das mit der «Gegenbewegung» natürlich insofern falsch, als dass daraus gar keine andere Geschichte erwächst: Ein Teil der Figuren bleibt in Amerika, der Rückkehrer Hans von Flüe macht aus der sogenannten Entdeckung wiederum keine offizielle Geschichte, sondern wird genötigt, sie mit ins Grab zu nehmen. Die ganze «Bruder Klaus»-Erzählung liest sich somit eher als eine helvetische Verhinderung der Neuzeit. Die Entdeckung Amerikas mündet in diesem Fall in Nichts. Was eine doppelte Valenz hat: Einerseits steckt darin eine Verweigerung gegenüber der Realität; die neuzeitliche Befreiung des Individuums findet nicht statt. Andererseits verweigert man dadurch dann natürlich auch die Erschaffung der Unterwerfungsstrukturen, die mit der Neuzeit einhergehen. Man flieht die koloniale Welt.

Also geht es im Roman tatsächlich auch um die Verteidigung des Subjekts in der Neuzeit?

Ich merke, dass das Selbstverständnis der Gegenwart als Resultat einer vernunftgestützten Fortschrittsbewegung gefährlich wird. Im Moment beschäftigen mich die Transhumanisten und ihre Visionen – also die regen mich auf. Die Idee, das Körperliche auch noch zu transzendieren, wie das ja auch schon in «Homo Faber» angedacht wurde, dieser Übergang in die reine Geistigkeit: Das macht Niklaus von Flüe auf eine fast schon pervertierte Art zu einer adäquaten Reflexionsfigur der Gegenwart.

Das Gespräch führte Philipp Theisohn.

Adam Schwarz: Das Fleisch der Welt oder Die Entdeckung Amerikas durch Nikolaus von Flüe. 267 Seiten. Basel: Zytglogge 2017. 32 CHF.

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