KW35

Kein Mut zur Lücke

Jens Steiners neuer Roman folgt seinem Helden in die Leistungsverweigerung - leider.

Von Christoph Steier
28. August 2017

Titelambitionen

Das Beste vorweg: Gute Titel hat der 2013 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Autor weiterhin auf Lager. Mein Leben als Hoffnungsträger hat Jens Steiner seinen vierten Roman genannt. Das ist nach Hasenleben (2011), Carambole (2013) und Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit (2015) ein beachtlicher Steigerungslauf. Und auch die Verlagsankündigung macht neugierig. Um die «Suche nach dem richtigen Leben» soll es gehen, um einen Schelm auf dem Schrottplatz, der das «groteske Treiben» der Überflussgesellschaft entlarvt und erst noch poetische Funken schlägt. Wer daraufhin, zumal ermutigt von Steiners hoch gehandeltem bisherigem Oeuvre,  auf einen neuen Höhepunkt in der reichen Ahnenreihe helvetischer Taugenichtse spekuliert, erlebt indes eine eher mühsam auf Romanlänge gestreckte Enttäuschung. Die vielleicht gewollt, aber nicht besonders gekonnt umgesetzt ist. Vor allem die Phrasendichte und die endlosen Redundanzen erscheinen dabei so auffällig, dass angesichts von Steiners bisherigen Meriten ein erzählerisches Kalkül unterstellt werden darf. Nur welches?

Tiefentraining?

Gewollt sein könnte diese Enttäuschung durchaus, erzählt doch im Roman ein nicht mehr ganz junger, aber noch nirgends angekommener Mann von seiner Arbeit auf dem Schrottplatz. Klingt nach Absturz, Endstation Sehnsucht. Nicht so für den selbstgenügsamen Tagträumer Philipp. Der findet nach abgebrochener Ausbildung und WG-Rausschmiss am Stadtrand ein prekäres Idyll, das seinem Bedürfnis nach einem Ausstieg aus dem ewigen «Wettbewerb» einigermassen entspricht. Zwar wird auch hier noch wiederverwertet und ein wenig dubioser Kleinhandel betrieben, doch gilt Philipp jeder neu einfahrende Familienvan als vollgestopfter Beweis, dass  sich die ganze «Hetze» nicht lohnt. Stattdessen geniesst er die Routinen, die seinen ordnungsliebenden Chef Uwe und die beiden radebrechenden portugiesischen Kollegen in harmloser Hassliebe verbinden. Auch an der Poesie des Nutzlosen mangelt es nicht. Doch wie es den Unentschiedenen häufig ergeht, sieht sich Philipps Ziellosigkeit bald von den Hoffnungen der anderen besetzt. Am Ende ist aus dem gleichmütigen Bastler der Komplize der Portugiesen und der «Hoffnungsträger» seines Chefs geworden. Der Höhepunkt dieses dicht am Klischee, aber empathisch erzählten Kammerspiels ist die gemeinsame Improvisation von 150 Osternestern aus Kartoffelkörben und Kunstrasenresten. Wer auf einen solches bestenfalls putziges Husarenstück schon immer gewartet hat, greife zu. Allen anderen dürfte spätestens bei dieser Episode klar werden, dass Steiners vierter Roman jenseits der kleinen Epiphanien des Alltags einfach nichts erzählen will. Das gilt auch für die Philipps Freundeskreis gewidmeten Sequenzen, die über Outsider-Romantik und improvisierte Geselligkeit kaum hinausgehen. Wer mag, wird in dieser Ehrgeizlosigkeit ein Echo auf Philipps Ablehnung der Leistungsgesellschaft entdecken. Oder, ein bisschen performativer, eine Variation der alten Einsicht Blaise Pascals, zur Vermeidung von Unglück sollten die Leute doch am besten in ihren Zimmern bleiben. Wozu Steiners Buch ja immerhin für drei, vier Stunden einlädt.  Ein bewusstes Tiefentraining also, vielleicht einen Gang runter vor dem nächsten, ganz grossen Wurf? Damit könnte man leben – nur ist Steiners Buch doch ein wenig ehrgeiziger angelegt, als es die erzählte Geschichte vermuten liesse.

Zur Person

Jens Steiner, geboren 1975 in Zürich. Studium der Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf, einige Jahre Lehrer und Verlagslektor, heute freier Autor. 2011 Romandebüt mit «Hasenleben» (nominiert für die Longlist des Deutschen Buchpreises), 2013 Schweizer Buchpreis für «Carambole».
Foto: © Anikka Bauer

Schauplatz Schrottplatz

Dass es Steiner keineswegs um selbstgenügsames Geplänkel oder bloss sympathische Schnurren, sondern um eine literarische Diagnose der «Zehnerjahre» geht, zeigt bereits der Schauplatz. Wie schon Wolfgang Herrndorf, Matthias Nawrat, Dorothee Elmiger oder Antonia Baum nutzt Steiner den Schrottplatz als literarisch produktiven Grenz- und Transitraum, der einerseits die Enge eines Kammerspiels gestattet und andererseits die weite Welt samt ihrer ausgeträumten Warenfetische vorfahren lässt: «Überflüssiges loswerden tut gut, weniger ist mehr. Das ist die Devise der Zehnerjahre.» Dass dieses Loswerden umso leichter fällt, je überzeugender der Euphemismus des «Recyclings» im Raum steht, reflektiert Steiners Roman genau. Und verweist damit auf die über belletristische Zeitdiagnostik weit hinausgehende Affinität von Literatur und, nun ja, «Recyclinghof». Wie bereits in Antonia Baums furiosem, von Rap- und Samplingverfahren getragenen Roman Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren zu lernen war,  markiert der Schrottplatz nicht einfach die letzte Station vor jenem zivilisatorischen Kollaps, den die Dystopien Heinz Helles, Thomas von Steinaeckers, Valerie Fritschs oder Roman Ehrlichers in letzter Zeit verhandelt haben. Vielmehr ist der Schrottplatz jenseits der melancholischen Überblendung von Mikro- und Makrokosmos, von Pracht und Ruine ein privilegierter Ort literarischer Selbstreflexion: Gerade wo der Schrottplatz als «Recyclinghof» firmiert, wird seine Nähe zur Literatur unübersehbar: Was hier wie dort landet, war schon mal da. Wird, wenn es denn Glück hat, in anderer Form nochmals zusammengesetzt. Und singt meist das alte Lied von den verlorenen Träumen und der eigenen Vergeblichkeit.

Fleckige Spiegel

Ist das also die Pointe des Buches? Sind seine Umständlichkeit, seine keiner Rollenprosa mehr zurechenbare stilistische Nulldiät (an der launigen Phrase und einer irgendwo zwischen Böll und Plenzdorf steckengebliebenen Jugendsprache dürfen sich alle Figuren gleichermassen bedienen), sind seine Nachlässigkeit in Figurenzeichnung und Komposition einfach fleckige Spiegel, die unsere hochtourigen Leseerwartungen kalkuliert auflaufen lassen? Zielt Steiner gar auf jenes verminte Gelände einer selbst postmodernen Postmoderne-Kritik, das zuletzt Lukas Bärfuss mit Koala und Hagard überzeugend abgesteckt hat? Geht es ihm wie Bärfuss darum, wie die Leistungsgesellschaft vom Hochleistungsmedium der Literatur aus überhaupt zu kritisieren wäre? Welche Freiheiten im Namen literarischer Marionetten-Figuren überhaupt zu reklamieren wären, welche unerhörten Ereignisse 2017 überhaupt noch drin liegen – und zu welchem Preis?

Steiners vierter Roman lässt diese über seine vordergründige Umstandskrämerei weit hinausgehenden Fragen zu, scheint sie auch in einigen Spitzen zu forcieren. Denn angetippt werden gleich einige der grossen Themen der Zehnerjahre: Metafiktion – auf einem Bücherstapel entdeckt Philipp Jens Steiners Carambole… Polyamorie – drei Freunde räkeln sich auf dem Sofa, aber das frisch gebackene Osterbrot von Philipps Freundin ist noch verlockender… Schuldbewusste first world problems – zu Philipps ereignisarmen Lebensrückblenden werden jeweils die grossen weltgeschichtlichen Massaker und Katastrophen notiert, einerseits als Kontrast, andererseits als Hinweis auf die gemeinsame Wurzel im ewigen «Wettbewerb»… Ebenso wenig fehlt die intertextuelle Selbst-Ironisierung, wenn es etwa über ein Buch im Buch heisst: «Zugleich wurde ich den Eindruck nicht los, in einem Quatsch-Kinderbuch gelandet zu sein.» Und auch die autoreferenzielle Lust am freien Fabulieren und an hermeneutischen Holzwegen hat ihren wiederholten Auftritt: So werden vor allem in Philipps Freundeskreis alle Figuren mit eher abenteuerlichen Biographien ausgestattet, während die religiösen Subtexte höchstens in seichte, aber trübe Gewässer führen. Alles da. Aber eben nur angetippt und letztlich wohl eher Alibi als dichte Beschreibung.

Ernste Scherze?

Für den Unwillen, diesen teils anregenden Spuren abschweifend zu folgen, sorgt ein Erzähler, der seine Leserinnen und Leser geradezu umkrallt: Keine Geste, keine Wertung, kein Eindruck, keine Äusserung und kein Gedanke bleibt ohne umständliche Ankündigung und Beschreibung. Das Ergebnis ist grösstenteils ein erzählerischer Krampf, der zur hermeneutischen Startrampe kaum taugt:

«Das Rascheln von unten hat aufgehört, das Klirren aber kommt nun näher und zu ihm gesellt sich das Trapp-Trapp von Jonas’ Schritten auf der Holztreppe. Er erscheint mit zwei Gläsern auf einem Tablett, stellt sie neben das Bett und setzt sich im Schneidersitz neben die Matratze (…) Wir stossen an und trinken. Süsse Angelegenheit, denke ich und nehme noch einen Schluck. Jonas zeigt auf das aufgeschlagene Buch neben mir und sagt …»

Wer nun ernstlich wissen will, was dieser Jonas denn noch zu sagen hat, fängt vielleicht einfach auf Seite 91 an zu lesen. Ein Kompromiss, der Philipp gefallen würde. Und sicher wird sich beizeiten jemand finden, der diesen bestenfalls akribisch zu nennenden Stil als kongeniale Umsetzung von Philipps Putzzwang zu würdigen weiss. Mag sein, denn natürlich ist auch von der «grande bouffe» die Rede im Text, vom grossen Überdruss, dem finalen Gelage, dem literarisch wohl am ehesten die endlose Redundanz entspricht. Aber die Rede ist eben auch von «einem präzise einstudierten Schwank», geschrieben vielleicht genau in der Hoffnung, die nächsten Jahre ohne «Hoffnungsträger»-Laterne vor sich hinarbeiten zu können. Andere Kandidaten stehen bereit, und erst Jens Steiners nächstes, hoffentlich wieder grossartiges Buch wird zeigen, ob Mein Leben als Hoffnungsträger genau diese Funktion erfüllt hat. Womit, nomen est omen, kein Buch dieser Saison seinen Titel mit grösserem Recht getragen hätte. On verra.

Jens Steiner: Mein Leben als Hoffnungsträger. 192 Seiten. Hamburg: Arche 2017. 26.90 CHF.

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