KW23

Schwanken im Alter

Lukas Bärfuss

Das sind ja Aussichten. Bereits auf den ersten Seiten vergreift sich Adolf Muschg an der Historie. In «Der weiße Freitag. Eine Erzählung vom Entgegenkommen» lässt er Johann Wolfgang Goethes Teilnahme an der Belagerung von Mainz ausfallen und dafür bereits 1793 (nicht 1797) seine dritte Schweizerreise antreten. Der Lapsus zeigt an, worum es in diesem Buch geht: um Fehlbarkeit, um Zeit und Vergänglichkeit. Die historische Inkorrektheit sowie die auffälligen Druckfehler dürften dabei Muschgs geringstes Problem sein, denn der Text denkt in der Hauptsache über das eigene, immer schonungsloser zutage tretende Altern nach.

Von Claudia Keller
6. Juni 2017

Alles beginnt mit einem Sturz von der Treppe, die einen Krankenhausaufenthalt mit sich bringt. Prostataprobleme und zunehmende Vergesslichkeiten grundieren die Erzählung. Mit der Krebsdiagnose kommt die Todesangst und mit ihr das eigentliche Schwanken und Schwindeln. Dem autobiographischen Ich-Erzähler bleibt eine einzige Hoffnung: dass er Krebs habe, dieser aber »mich nicht habe, nicht mit Haut und Haar«. Rettung in der Not des Krankenhausbettes verspricht: ein Goethe-Band.

Der Erzähler packt Goethes zweite Schweizerreise – in der Erstausgabe von 1808 – zum Operationstermin ein. Das poetische Gegenbild zur eigenen Realität verdichtet sich an jenem weißen Freitag, dem 12. November 1779, an dem Goethe mit Herzog Carl August, dem Diener Blochberg und zwei Einheimischen die Furka bei meterhohem Schnee überquert. Die Gefahr wird glorreich überstanden, und so verklären sich diese Novembertage zum Beginn des Bündnisses zwischen Goethe und Carl August. Erst die auf der Reise hergestellte Balance zwischen den beiden antagonistischen Persönlichkeiten mit ihren gegenteiligen Temperamenten hat es – Muschgs Erzählung zufolge – Goethe ermöglicht, in Weimar zu bleiben und dort wieder zum Schriftsteller zu werden. Mit diesem Tag, an dem sich in den Schneemassen der Alpen das Schicksal zweier Leben bestimmt, erhält Goethes Leben die teleologische Wendung, die ihn zum Olympier werden ließ.

Im Spiegelkabinett

Die Klassizität dieser Einheit von Leben und Werk nimmt Muschg zum Anlass, sich selbst darin zu spiegeln. In den anziehendsten Partien des Textes beschreibt der Ich-Erzähler, wie er seinen Garten zunehmend zu einem Spiegelkabinett verwandelt. Es handelt sich dabei um eine Anspielung auf Goethes Lieblingsmetapher und ist zugleich ein Bild für das Verhältnis zwischen Muschg und seinem dichterischen Über-Ich. Die Bilder, die aus den Spiegeln zurückscheinen, sind Anlass für eine Reflexion über die Komplexität des Lebens und den Versuch, ihr mit der Kunst habhaft zu werden. «Die Fixpunkte der Schrauben verziehen das Spiegelblech zunehmend.» Der Symbolgehalt dieses Satzes trifft doppelt auf das Leben des Ich-Erzählers zu: Es will sich ihm gerade nicht zum klassischen Gelingen runden und bleibt gegenüber dem Vorbild immer leicht verzerrt. Zwar erscheint noch in der Kindheit ein «hochverehrter Herr Professor, der mich als Deus ex machina für ein höheres Leben rettete», doch wird schon in der wundersamen Rettung die Kontingenz des modernen Lebens sichtbar, das immer nur zufällig vor Katastrophen bewahrt wird. Der fehlenden Rundung entsprechend ist die Erzählung aus kleinen Vignetten zusammengesetzt, in denen eine kleine Kulturgeschichte des Gotthards neben Gedanken über das Verhältnis zum Nahen Osten sowie Anekdoten von damals und heute stehen. Ebenso heterogen ist das narrative Spektrum, das zwischen Erzählung, innerem Gedankenstrom, Dialogen, Gedichtzeilen hin und her wechselt. Diese immer wieder unterbrochene, fragmentierte, nicht gerundete Erzählung ist auch eine Reflexion über das Genre des Bildungsromans und dessen Tragfähigkeit in der Moderne.

Zum Autor

Adolf Muschg, geboren 1934 in Zürich, war u. a. von 1970 – 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und von 2003 – 2006 Präsident der Akademie der Künste Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane «Im Sommer des Hasen» (1965), «Albissers Grund» (1977), «Das Licht und der Schlüssel» (1984), «Der Rote Ritter»(1993), «Sutters Glück» (2004), «Eikan, du bist spät» (2005) und «Kinderhochzeit» (2008) wurde mit zahlreichen Preisen ausge­zeichnet, darunter der Hermann-Hesse-Preis, der Georg-Büchner-Preis, der Grimmelshausen-Preis und zuletzt der Grand Prix de Littérature der Schweiz.

Der festgeschraubte Goethe

Freilich gehört zu diesen Spiegelbildern auch ein Goethe-Bild, dessen Fixpunkte festgeschraubt sind. Nicht nur die Ereignisse vom 12. November erscheinen überhöht und etliche Passagen, die der Schweiz gewidmet sind – etwa die Inszenierung einer Berner Magd als Retterin des neugeborenen Herzogs – über alle Maßen stilisiert. Auch die Abschnitte zu Goethes und Carl Augusts Leben in Weimar zeichnen sich aus durch eine allzu schlichte Dichotomie von Geniekult und dem Bedürfnis, die Klassiker vom hohen Ross auf den Boden der Menschlichkeit zurückzuholen. Dementsprechend kehrt die Erzählung stetig zu Carl Augusts Eskapaden und Goethes bis Italien währender Jungfräulichkeit zurück, wobei sie letztere zum Anlass nimmt, sexuelle Fantasien auszubuchstabieren und danach zu fragen, was Goethe und Charlotte von Stein «eigentlich» miteinander angefangen haben: Bei Muschg liest der Dichter seiner Angebeteten vor und führt, nur durch die Wirkung seiner Sprache, ihre Hände unter ihren Rock zu einem reglosen Liebesspiel. Verpasst wird dabei die Gelegenheit, das Weimar um 1800 in eine neue Erzählung zu kleiden, die über die zu Topoi geronnenen Narrative hinausgeht. Muschgs Erzähler tischt bildungsbürgerliche Allgemeinplätze auf, die sich höchstens in der Eleganz der Sprache von den Anekdoten unterscheiden, die die Kutschfahrten den Touristen in Weimar täglich wiedergeben. Er kokettiert mit Scheinmenschlichkeit und vermeintlicher Aktualität, streut wiederholt englische Slogans ein und weist mit Genuss auf den Gebrauch von Kraftwörtern («scheisige») hin.

Die rückwärtslaufende Zeit

Zugleich wird hier eine Harmoniebedürftigkeit sichtbar, die von Ironie unberührt bleibt. Dies gilt etwa für das Goethe-Inventar, mit dem sich der Ich-Erzähler umgibt: Neben der obligaten Erstausgabe sind dies vor allem eine Mineraliensammlung und ein Ginkgo, der gefällt und zu einer Tischplatte zersägt wird. Das sind ernsthafte, zum Klischee erstarrte Überbleibsel einer lebenslangen Identifikation mit dem Vorbild Goethe. Weite Teile dieser Erzählung scheitern am Goethe-Bild eines Autors, dessen Bestandteile schon lange festgeschrieben sind.

Das erzählerische Potential dieser Spiegelung im Dichterfürsten scheint hingegen in jenen Abschnitten auf, in denen sich Muschgs Sprache und Metaphorik an Goethes Aussage anlehnen, der zufolge man «gern jede Prätension an’s Unendliche» aufgibt, «da man nicht einmal mit dem Endlichen im Anschauen und Gedanken fertig werden kann.» Der Ich-Erzähler zieht sich in das Arbeitszimmer im Untergeschoss seines Alterswohnsitzes zurück, in dem die Natur des kleinen Gartens nur über die Vexierbilder des Spiegels zu ihm vordringt und von dem aus er die mannigfaltigen Erscheinungen, Gestaltungen und Umgestaltungen beobachten kann. Wird das Leben beengt, dann ermöglicht die Kunst die Entgrenzung in die Unendlichkeit – und sei es nur diejenige eines Spiegelkabinetts. «Im Spiegel ist seine Möglichkeitsform grenzenlos.»

Muschgs Erzähler schreibt aus der Unterwelt heraus, aus der er nur zuweilen zu den Lebendigen zurückkehrt. Das unmittelbare Leben wird zunehmend von Vermittlung und Reflexion abgelöst. Die besten Passagen des Buches denken über das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit, über verschiedene Formen von Zeitlichkeit nach. So räsonniert diese «Erzählung vom Entgegenkommen» nicht zuletzt über die Frage, wie in der Entfernung vom Leben eine Annäherung an die Vergangenheit möglich sei. Für die Hoffnung auf eine Aufhebung der Zeitlichkeit findet Muschg das Bild der Schneeflocken, die vom dunklen Nachthimmel herunterfallen und im Spiegelbild gleichzeitig «in eine grundlose Tiefe» zurücktanzen. Auch das pathetische, ironische und doch rührende Schlussbild evoziert diese Hoffnung: Der am Knie operierte Erzähler fährt leibhaftig zur Furka und geht, die Zeitgrenzen überwindend, den Wandernden aus Weimar entgegen. Dass Zeit nicht linear fortschreitet, sondern potentiell auch rückwärtslaufen kann, hatte er schon in einem auf einer Lesereise am Bahnhofskiosk erstandenen Crashkurs zur Relativitätstheorie gelernt.

Adolf Muschg: Der weiße Freitag. Erzählung vom Entgegenkommen. 251 Seiten. München: C.H.Beck 2017. ca. 32,- CHF.

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