KW21

«Mich interessieren sado-masochistische Systeme»

Romana Ganzoni Gianna Conrad

In diesem Frühjahr erschien der lang erwartete erste Erzählband Romana Ganzonis mit dem Titel «Granada Grischun». Gianna Conrad und Philipp Theisohn sprachen für das «Buchjahr» mit der Bündner Autorin über das Schreiben von Gewalt, das Diskursfeld Graubünden und das Romanische als «littérature mineure».

Von Redaktion Buchjahr
23. Mai 2017

Mit Blick auf Dein neues Buch, begonnen beim Cover: Als Bündnerin habe ich mich schon gefragt, ob «Granada Grischun» durch die Klischeebilder, die Unterländer von Graubünden haben, bestimmt wird – oder ob es nicht gerade auch um eine offensive Auseinandersetzung mit diesen Klischees geht.

Beginnen wir ruhig beim Cover. Als Motiv hatte ich ursprünglich eine Schwarzweissfotografie des Zürcher Hauptbahnhofs gewählt, zu dem ich ein neurotisches Verhältnis pflege. Der Verlag hat aber dann bei einer Ausstellung dieses Bild von Piroska Szönye entdeckt, in das ich mich dann auch verliebt habe. Auch beim Titel gab es einen Umentscheid. Ich hatte den Band ursprünglich «Der Puder» nennen wollen, da das auch – über den Kosmetikaspekt – etwas über das literarische Selbstverständnis aussagt. Die dazugehörige Erzählung trägt noch immer den Titel, das Buch aber den Titel einer anderen: Granada Grischun.

Das heisst natürlich aber auch, dass das Buch von Grund auf durch die Projektion «Bündner Literatur» bestimmt wird.

Natürlich entsteht dadurch eine extrem starke regionale Verortung von Autorschaft, nebst der Assoziation des Sehnsuchtsortes. Ich war zunächst auch etwas geschockt, weil ich ja mich gar nie so fest in Graubünden verankert gesehen habe. Aber die Rezeption in Graubünden und der lokalen Öffentlichkeit dort ist entsprechend, man nimmt eigentlich nur die Geschichten wahr, die in Scuol und Umgebung spielen – und sucht dort dann auch die eigens erlebte Realität mitsamt der dazugehörigen Personen. Auch das natürlich eine Projektion. Die Geschichten, deren Schauplatz Zürich, Florenz oder London ist, fallen unter den Tisch.

Man kann Deinen Erzählband sehr schön neben einen anderen Schweizer Text dieses Frühjahrs stellen, nämlich neben Flurin Jeckers «Lanz». Dessen adoleszenter Protagonist, überfordert mit den Anforderungen des städtischen Schulalltags, flieht am Ende zu seiner Verwandtschaft nach Clavau – in eine archaische Welt, die solche Menschen in ihrer noch orientierungslosen Triebhaftigkeit aufzunehmen vermag.

Das ist natürlich auch eine Projektion, aber wenn man die Welt, die ich in meinen Texten entwerfe, sich anschaut, dann passt da vielleicht schon einiges dazu. Das sind ja schon auch Trieblandschaften, das Animalische – die Tiere und die Tiere im Menschen – ist eine treibende Kraft. Literatur gibt es fast keine dort [nur eine Figur trägt Erich Fromm ungelesen im Rucksack, SBJ]. Dieser Erzählraum ist nahezu kulturfrei. Es ist ein unwirtlicher, ein rauher Ort, an dem keine heimeligen Geschichten entstehen. Gimma hat mir nach der Lektüre der «Raketenglace»-Erzählung gesagt, er hätte das Gefühl, gerade «American Psycho» gelesen zu haben.

Die Erzählung hat uns beide auch nachhaltig irritiert, nach unserer Lesart gibt es da am Ende den Subtext einer inzestuösen Vergewaltigung…

Gewalt, Verachtung gegenüber der Schwester, ihre Angst, die Drohung, nichts zu verraten … wenn ich es jetzt nochmal lese, dann verschweigt da der Text tatsächlich etwas.

Zur Autorin

Romana Ganzoni wurde 1967 in Scuol, Unterengadin, geboren, wo sie auch aufwuchs. Geschichts- und Germanistikstudium an der Universität Zürich, Aufenthalt in London. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit als Gymnasiallehrerin widmet sie sich heute ganz dem Schreiben und lebt als freie Autorin in Celerina, Oberengadin. Seit 2013 Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. 2014 Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Förderpreis des Kantons Graubünden. Seit 2015 Kolumnen in der «Schweiz am Sonntag» und im Kultur­Blog der «Engadiner Post». «Granada Grischun» ist ihre erste Buchveröffentlichung.

Welche Rolle spielt Gewalt denn grundsätzlich in Deinen Erzählungen?

Eine grosse. Mich interessieren sado-masochistische Systeme ausserordentlich stark. Die Interaktion zwischen Opfer und Täter und ihre Verkehrung, die damit verbundene Rhetorik, das Verhalten von Zuschauern. Ich bin auch ein grosser Goya-Fan. Schon als Kind bin ich von der Tampoco-Skizze fasziniert gewesen: einer hängt – und einer schaut zu. Ich interessiere mich sehr für meine Urängste, insbesondere die Angst vor Folter. Ich lese sehr viel dazu, muss mich aber gleichzeitig auch immer wieder davor schützen.

Was uns an Deinen Erzählungen vor allem gereizt hat, ist die Art und Weise, mit der sie ihren Vorstellungsraum semantisieren. Von Bedeutung erschien uns da insbesondere auch das konfessionelle Bezugssystem.

Man gleitet natürlich auch da schnell ins Klischee ab. Aber die Vorstellungswelt in Graubünden ist tatsächlich durch diese Klischees stark geprägt. Beispielsweise ist in meiner Umgebung die Vorstellung fest verankert, dass die Bündner Katholiken, also etwa in der Surselva, über grössere rhetorische Fähigkeiten verfügen, gegenüber deren Feinschliff der Engadiner immer nur mit dem Zweihänder agieren kann.

Das ist interessant, ich bin mit dem genau entgegengesetzten Klischee aufgewachsen…

Das ist natürlich auch immer ein Spiel. Entscheidend sind ja weniger die tatsächlichen konfessionellen Rückbindungen als vielmehr die darin sich aussprechenden Kulturmodelle. Also: die Nüchternheit im Oberengadin gegen die Schmuckträger, den Tand im Unterengadin, der puritanische Gout gegen die Geschminkten. Die Schminke spielt ja dann auch für mein Schreiben eine grosse Rolle.

Welche?

Das Schreiben verhält sich ja analog: Glanz geben, abdecken, aufdecken, tätowieren. Haut ist ein gutes Analogon: Alles, was man mit ihr anstellt, ist nur dazu da, die eigene Vergänglichkeit zu übertünchen. Und für mich ist Erzählen auch genau das: Das Eingeständnis, dass man vergänglich ist. Genau wie Schminken.

Kommen wir mal zum Genre: In Deinen Texten wird ab und an vom Roman gesprochen, den jemand schon hat, den man aber abholen müsse, was dann aber eben ausbleibt. Sind Deine Kurzgeschichten eigentlich ein Ausweichen vor dem Roman?

Ich habe tatsächlich einen Roman geschrieben, der hat 650 Seiten. «Die Mädchen» stammen daraus. Um den Roman aber als Buch Realität werden zu lassen, muss ich ihn – nach Rücksprache mit Verlag und Agentin – noch kürzen. Das ist schwierig. Diese Rede vom Roman, die «Granada Grischun» durchzieht, ist deswegen auch eine Erinnerung an meine Unterlassungssünde. Die begleitet mich. Das muss ich demnächst erledigen. Daneben schreibe ich gerade noch einen längeren romanischen Text, «La scoula».

Was uns natürlich zu einer Grundsatzfrage bringt: Welche Überlegungen stehen hinter Deiner Entscheidung, auf Deutsch zu publizieren – und nicht auf Romanisch?

Grundsätzlich fühle ich mich in vielen Sprachen daheim, auch etwa im Italienischen. Ich bin da eigentlich nicht ideologisch, auch wenn ich früher einmal einen ideologischen – und deswegen völlig falschen – Entscheid getroffen hatte: Als ich mit Schreiben angefangen habe, habe ich mir vorgenommen, alles zweisprachig zu machen. Die Erzählungen alle Deutsch und Vallader, den Roman Deutsch und Putèr. Der Entscheid hatte damit zu tun, dass ich lange Lehrerin gewesen bin. Und ich weiss noch, dass es bei den in den Schulen behandelten romanischen Texten nur sehr wenige gab, die ich gerne auch zweimal gelesen hätte…

Welche romanischen Texte und welche romanischen Autoren würdest Du zweimal lesen wollen?

Luisa Famos. Die Lyrik von Luisa Famos hat für mich den gleichen Stellenwert wie die Rose Ausländers.

Und von den Zeitgenossen?

Dumenic Andry. Das ist mein Lieblingsautor. Rut Plouda schätze ich auch, aber sie schreibt leider nicht so viel.

Was war letzten Endes dafür ausschlaggebend, den ideologischen Entscheid der Zweisprachigkeit wieder fallenzulassen?

Ich habe gemerkt, dass ich einfach diese kulturpolitische Message nicht mit mir herumschleppen, sondern einfach nur meine Geschichten erzählen wollte.

Da sind wir natürlich jetzt im Fahrwasser Kafkas, also bei der «kleinen Literatur»: Belastet die romanische Literatur denn der kulturpolitische Druck, den sie ja gar nicht loswerden kann?

Extrem. Das Schreiben in der Sprache einer Minorität ist ja immer mit der Botschaft der Selbstbehauptung befrachtet. Man steht immer mit dem Rücken an der Wand, muss sich immer beweisen.

In dieser Kampfstellung wäre die romanische Literatur also tatsächlich eine «littérature mineure» im emphatischen Sinn?

Nun ja: Zum einen ist das sicherlich eine bedrohte, zum anderen aber – um bei der Wahrheit zu bleiben – auch eine subventionierte literarische Identität. Und letzteres steht natürlich der Emphase etwas im Weg. Hugo Loetscher hat vor diesem Hintergrund bei einer Schulveranstaltung in Samedan einmal gesagt, dass das Beste, das dem Romanischen passieren könnte, ein Verbot wäre. Tatsächlich ist die Wahrheit ja noch eine andere: Die Sprachregion Graubünden kennt eigentlich nur «littératures mineures». Meine Eltern sind Deutsch-Bündner und dementsprechend musste ich zuhause für das Romanische kämpfen. In der Schule hingegen war Deutsch auf dem Schulhof bei Strafe verboten, deswegen musste ich da für das Deutsche kämpfen und habe dann irgendwann auch das Romanische verweigert. Meine Heimat ist immer nur das Dazwischen gewesen, der Flüela-Pass, also die Verbindung zwischen Susch und Davos. Ich kann kein Wort. Ich kann nur übersetzen. Graubünden hat mich – und nicht nur mich – sprachlich zu einer Heimatlosen gemacht. Das ist Bürde wie Privileg.

Das Gespräch führten Gianna Conrad und Philipp Theisohn.

Romana Ganzoni: Granada Grischun. 200 Seiten. Zürich: Rotpunktverlag 2017. 28,- CHF.

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