KW22

Am langen Tisch. Rückblick auf die 39. Solothurner Literaturtage

Lukas Bärfuss

Schon die antike Rhetorik unterschied je nach Anlass zwischen drei Gattungen der Rede. Dass vor Gericht anders gesprochen werden sollte als in einer Beratung oder auf einem Fest, ist eigentlich klar. Und doch erleidet regelmässig rhetorischen Schiffbruch, wer im Register der genera causarum danebengreift. Oder dazwischen. Wo also ansetzen, da den 39. Solothurner Literaturtagen nach drei Tagen intensiver Berichterstattung  das Schlusswort zu sprechen ist? Richten, abwägen, preisen? Nicht weniger kompliziert werden diese Fragen übrigens deshalb, weil auch die Solothurner Programmkommission ihnen Jahr für Jahr ausgesetzt ist. Und in diesem Jahr recht deutliche Antworten gegeben hat. Mit insgesamt sehr grossem Erfolg und kleineren Abstrichen jeweils dort, wo das Festliche zugleich kritisch und abwägend werden sollte.

Von Christoph Steier
30. Mai 2017

Schon die antike Rhetorik unterschied je nach Anlass zwischen drei Gattungen der Rede. Dass vor Gericht anders gesprochen werden sollte als in einer Beratung oder auf einem Fest, ist eigentlich klar. Und doch erleidet regelmässig rhetorischen Schiffbruch, wer im Register der genera causarum danebengreift. Oder dazwischen. Wo also ansetzen, da den 39. Solothurner Literaturtagen nach drei Tagen intensiver Berichterstattung  das Schlusswort zu sprechen ist? Richten, abwägen, preisen? Nicht weniger kompliziert werden diese Fragen übrigens deshalb, weil auch die Solothurner Programmkommission ihnen Jahr für Jahr ausgesetzt ist. Und in diesem Jahr recht deutliche Antworten gegeben hat. Mit insgesamt sehr grossem Erfolg und kleineren Abstrichen jeweils dort, wo das Festliche zugleich kritisch und abwägend werden sollte.

Lob des Spektakels

Preisen liegt am nächsten, fährt doch kaum eine Besucherin des Solothurner Literaturfests mit schlechter Laune nach Hause. Ein Fest wollen die Literaturtage sein, und sie sind es auch. Der Charakter des friedlichen Spektakels, des auf eine sonnige Flaniermeile von kaum 300 Metern zusammengedrängten Schweizer Literaturbetriebs, ist angesichts der durchaus politischen Historie der Literaturtage keine Selbstverständlichkeit. Das Bekenntnis dazu jedoch ein Gewinn, der wohl nicht zuletzt der klugen Vermittlung Reina Gehrigs zu verdanken ist. Unter ihrer Leitung ist es zumindest für die Ausstehenden gelungen, die dem Vernehmen nach traditions- und selbstbewusste Programmkommission mit den Ansprüchen von Publikum und Schreibenden zu versöhnen. Besonderes Lob verdient die unangestrengte Abbildung der vier Landessprachen, die kaum einmal nach Pflichtübung riecht. Dass die Losung dabei grenzenloser Überfluss lautet und selbst der penibelste Logistiker nur einen Bruchteil dessen wird „mitnehmen“ können, was auf der heimischen Kulturagenda ein Höhepunkt wäre, gehört zur Logik des Spektakels. Und auch dass sich Vielfalt und Beliebigkeit nach einigen Höhenmetern zum Verwechseln ähnlich sehen können , ist den Veranstaltern nicht vorzuwerfen. Wem all das zu viel ist, der wird viele der Eingeladenen in den nächsten Monaten im kleineren Rahmen erleben können. Wer sich treiben lässt oder auch einfach hocken bleibt, dürfte in diesem Jahr einige Entdeckungen gemacht haben. Für das Team des Buchjahrs gehörten zu diesen Entdeckungen unter vielen anderen in diesem Jahr Julia Weber, Martina Clavadetscher, das Autorenkollektiv L’AJAR, Ernst Burren oder Flurin Jecker – nachzulesen im Blog.

No politics at the dinner table?

Abzuwägen bleibt, um die Festrede auf die Festspiele zu verlassen, ob und in welcher Form der Debatten-Anspruch der Literaturtage eingelöst wurde. Allzu prominent war er ohnehin nicht, die kuratierte „Werkschau“ und damit die klassische Autorinnenlesung stand im Vordergrund. Die Versuche, Autoren miteinander übereinander oder gar miteinander über ein gesellschaftlich dringendes Thema ins öffentliche Gespräch zu bringen, schlugen mehrheitlich fehl. Der mangelnde Schwung fiel nicht nur unserem Team auf, sondern wurde auch andernorts ausführlich thematisiert. Sicher wäre es einseitig, die Verantwortung dafür nur bei den Moderatorinnen und Moderatoren zu suchen. Als Festverantwortliche geraten diese in die Zwickmühle, wo konsequentes Gegensteuern, Nachhaken oder auch Ausbremsen angezeigt wäre. Doch auch für die geladenen Autorinnen und Autoren schien es nicht immer einfach, nach einigen Lesungen als hofierter Gast noch einmal aus der Wohlfühlzone in den Kontroversenmodus zu wechseln. Und selbstredend gilt in Solothurn wie anderswo, dass die meisten Schreibenden ohnehin ‚nur‘ Sachverständige dessen sind, was sie in oft jahrelanger Arbeit zu Papier bringen. Tagesaktuell und statementkompatibel ist das nur in den seltensten Fällen. Ein denkbarer Weg, Moderatoren und Autorinnen zu entlasten bzw. zu motivieren, wäre das von Lukas Bärfuss seit einiger Zeit am Zürcher Schauspielhaus etablierte Gesprächsformat: Hier ist es der Autor selbst, der sich eine Expertin einlädt und mit seinen drängendsten Fragen konfrontiert. Die durchaus auch unterhalb solcher Grossthemen wie Demokratie oder Migrationsbewegungen angesiedelt sein dürfen. Könnte klappen.

Unten bunt, oben grau

Zu richten schliesslich gibt es von unserer Seite nichts, da das Publikum selbst entscheidet. Auf erstaunliches Interesse stiess beispielsweise die offene Bühne, die gleich hinter der Brücke auf die ankommenden Besucher wartete. Wer sich eintrug, durfte vortragen – vom Fremdschämen bis zur Trouvaille lag auf den, nun ja, sonnenverwöhnten Bierbänken alles drin. Dass der grosse Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur weitgehend hinter den verschlossenen Türen des Künstlerhauses stattfand, bewahrte zwar den ohnehin dichten Fussverkehr vor dem Kollaps, trug aber nolens volens zur Uniformität in den Sitzreihen bei. Unten bunt, oben grau. Vielleicht aber auch der geschickteste Schachzug des Ganzen, denn so mochte man sich über den Eindruck, dass fast alles unter Vierzig mit einer Autorinnen- oder Pressekarte behängt war, hinwegtrösten: Es gibt sie bestimmt, die nächste Generation Leserinnen und Leser, sie ist nur gerade dabei, der übernächsten Generation „Die Amsel heisst Selma“ vorlesen zu lassen. Schauen wir mal, im nächsten Jahr.

Bildnachweis: Simon Leuthold

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