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«…dass es der Körper ist, der sich meldet und aus dem die Erinnerung kommt.» br>Gespräch mit Henriette Vásárhelyi

Lukas Bärfuss

Nachdem ihr jüngster Roman «Seit ich fort bin» vor wenigen Wochen bei uns ausführlich besprochen wurde, unterhielt sich Henriette Vásárhelyi mit dem Buchjahr über die Poetik des Erinnerns sowie über die politische Dimension ihres Textes.

Von Salomé Meier
12. Juni 2017

In einer der Anfangsszenen Ihres zweiten Romans „Seit ich fort bin“ erzählt die Protagonistin Mirjam von einem Einbruch, bei dem weniger Wertsachen als Dinge von ideellem Wert gestohlen werden. Fotos, die Festplatte. Als später der Polizist nach Mirjams Namen fragt, dauert es einen Moment, bis er ihr einfällt. Inwiefern sind Erinnerungen nicht etwas, das wir haben, sondern auch sind?
Ich glaube, dass wir natürlich sehr unsere Erinnerungen sind. Aber dass diese sich verändern und damit meine ich nicht nur, dass eine einzelne Erinnerung sich verändert, sondern dass wir uns auch immer wieder fokussieren auf unterschiedliche Lebensphasen in der Erinnerung. Dass manches mehr in einen toten Winkel rutscht, was vielleicht noch nicht so lange zurückliegt, aber auch nicht gerade erst war, sondern irgendwo dazwischen. Oft ist es auch die Relevanz eines Geschehnisses, die darüber bestimmt, ob wir uns daran erinnern und wie. Aber ich glaube, es gehört trotzdem auch sehr viel weniger Einflussnahme dazu, als man sich gerne einbildet.
In der Rezeption des neuen Buches begegnet mir das immer wieder: Der Unterschied zwischen dem, was mir fremde Menschen über den Text sagen, und wie andererseits damit umgegangen wird, je besser mich die Leute kennen. Das ist zum Teil sehr irritierend, denn darin spiegelt sich, wie Erinnerung wahrgenommen wird, die sich doch irgendwo immer an Fakten langhangelt und an der eigenen Wahrnehmung und dem eigenen Sumpf, aus dem man auf andere schaut.

Wo liegt denn der Unterschied in den Rezeptionen von Leuten, die Sie kennen und Leuten, die Sie nicht kennen?
Das ist sehr fliessend. Aber es interessiert mich natürlich theoretisch, weil das interessant ist, dass gerade Leute, denen ich z.B. das Buch gewidmet habe – dazu muss ich vielleicht sagen, ja es ist jetzt nicht die Geschichte, wie sie war; es ist Literatur –, die sind dann vielleicht ein bisschen enttäuscht. Je fremder ich umgekehrt den Lesern bin, desto autobiographischer wird das Buch gelesen. Das ist für mich selber sehr interessant, und da habe ich auch solche Momente, wo ich dieses Autobiographische, fast wie so’n Ekel, von mir wegzuschieben versuche.

Sie haben es bereits angesprochen: Ihr Roman wird oft autobiographisch ausgelegt. Sieht man da vielleicht auch die Verbindung zu Ihrem Debüt «immeer» (2013)?
Es ist ja nicht falsch, das autobiographisch zu sehen, auch. Aber ich erzähle in erster Linie eine Geschichte, und das Autobiographische ist oft vielmehr die Atmosphäre. In «Seit ich fort bin» fängt es sehr autobiographisch an und verliert sich dann in Fiktion. Das ist für mich eine Art Metaidee über Erinnerung. Es gibt die Erinnerung, und wenn man die mit anderen Menschen abgleicht, dann sieht man wieviel Fiktion bei jedem Einzelnen in der Erinnerung verankert ist.

Zur Autorin

Henriette Vásárhelyi, geboren 1977 in Ostberlin und aufgewachsen in Mecklenburg, ist ausgebildete IT-Systemkauffrau und studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Bis 2014 absolvierte sie einige Semester des Masterstudiums Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste in Bern. 2012 erhielt sie für ihren Debütroman «immeer» den Studer/Ganz-Preis, der 2013 für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. 2014 erhielt sie den Literaturpreis des Kantons Bern für ihre herausragende literarische Arbeit. Henriette Vásárhelyi lebt mit ihrer Familie im Seeland.
Foto: © privat

Bestimmte Dinge werden also von verschiedenen Menschen anders erinnert und auch Menschen selbst erinnern zu verschiedenen Zeiten Dinge unterschiedlich. Erinnerungen sind demnach variierende Wiederholungen von Erlebtem. Diese Erinnerungen haben oft etwas Zwanghaftes: Ich erinnere mich nicht aktiv, sondern ich werde erinnert. Inwiefern könnte man sagen, dass «Seit ich fort bin» einem Wiederholungszwang von Erinnerungen unterliegt, dem auch schon «immeer» unterlag?
Das hat wohl eher mit der Abbildung von Leben im Text zu tun. Es gibt ja sehr kontrollierte Menschen, die durchaus eine Distanz zwischen sich und ihrer Vergangenheit schaffen können.

Gelingt das denn?
Ich glaube, vielen Leuten gelingt das, ja. Indem sie die Rolle wahrnehmen können, die von ihnen erwartet wird. Anderen gelingt es weniger, die gehen mehr aus dem hervor, was sie vielleicht aus anderen sozialen Interaktionen schon mitbekommen haben, und können das nicht so trennen.
Sie nennen es Zwang, manchmal ist es auch Zwang, also es drängt sich einem auf. Mit manchen Erinnerungen kann man spielen, das sind dann mehr so Geschichten, wie Tausend und eine Nacht, die eigenen Legenden. Was im neuen Buch genauso prägend ist wie beim ersten ist das Körpergedächtnis, also dass es der Körper ist, der sich meldet und aus dem die Erinnerung kommt, ob man das nun kognitiv möchte oder nicht.

Mirjam gelingt es zunächst scheinbar ganz gut, diese Erinnerungen wegzupacken. Doch dann reist sie in die alte Heimat. Beim Lesen dachte ich oft, dass die Erinnerungen eine räumliche Komponente haben: Da ist die Reise zurück in die alte Heimat, auch das Haus ist sehr wichtig. In Mirjams Träumen etwa, in denen Driew im Türrahmen steht und das Haus ist voller Müll. Das erinnert doch stark an Freuds berühmte These, das Ich sei „nicht mehr Herr im eigenen Haus“?
Ja gut, es ist immer die Frage, wie man sich bündeln kann. Ich glaube, dass in „immeer“ diese Bühne der Vergangenheit sehr wohl räumlich ist. Eva hat diese Bühne aufgebaut und in dieser Vergangenheit gelebt, auch im Bühnenbild, es ist fast überzeichnet, dass sie das wie ein Protest dargestellt hat. Aber das andere ist eben das, was ich mit Körpergedächtnis meine. Es kommt halt einfach zurück, wenn du alte Orte besuchst und dich darauf einlässt – man kann sich auch dagegen wehren –, aber wenn man sich darauf einlässt… Zu anderen Zeitpunkten kannst du dich auch nicht mehr dagegen wehren, dann ist es einfach dran. Das ist auch eine Chance im Leben, dass die Dinge einfach bearbeitet werden wollen. Und das ist so ein bisschen die Idee. Ich habe das nicht so genau beschrieben meines Erachtens, wie stark Mirjam vorher mit ihrer Geschichte gelebt hat oder nicht, aber ich denke, dass sie bereit ist und dass sie eine Chance darin sieht, etwas hinter sich zu lassen, wenn sie den Faden wieder aufnimmt.

Oder gerade weil diese kritische Phase da ist. Sie ist schwanger, da wird die Zukunft im Hinblick auf die Vergangenheit reflektiert.
Ja, ich denke, das passiert ja wirklich.

Wir haben Erinnerungen bis jetzt vor allem im persönlichen Kontext besprochen. Inwiefern dürfen wir Ihren Roman auch politisch lesen?
Für mich ist wichtig, dass ich nicht darauf dränge, sondern dass sich das aufdrängt im Text.

Und die öffentliche Geschichte ist ja verknüpft mit dieser persönlichen Geschichte.
Ja, immer. Wir sind ja durchdrungen. Also ein Bewusstsein erlebt ja diese ganzen Facetten der Information und der Eindrücke, und die sind natürlich privat, aber zugleich politisch, auch nonverbal. Das ist die Atmosphäre, die ich schaffen wollte gerade in dem Rückblick in die 90er Jahre, wo eben das Private massiv durch die politischen Veränderungen bedrängt und auch stark verändert wurde. Wenig aktives Selbstbewusstsein hat da stattgefunden bei vielen Leuten, was auch oft bedauert wird von Erwachsenen, die nachwachsen, da besteht eine starke Verunsicherung.

Die Rezensentin Bernadette Conrad formulierte es so: Die DDR ging in Mirjam selbst zu Ende. Da ist nochmals das Verknüpfungsmoment stark.
Es ist ja überaus heikel, überhaupt nochmal irgendetwas mit DDR zu schreiben. Von aussen kann man das immer einfach in eine Schublade schieben. Ich verstehe das selber auch, weil ich das auch sehr heikel finde, gleichzeitig kann man nicht das, was den Einzelnen relevant begegnet ist, einfach negieren und sagen: «Du kannst jetzt nicht mehr darüber schreiben, das kennen wir schon.» Offensichtlich besteht da schon ein grosser Diskussionsbedarf, vielleicht weniger ausserhalb dieser Region als innerhalb. Das erlebe ich ja, dass Leute das lesen und darüber reden wollen und das auch noch einmal ganz anders reflektieren.

Aus heutiger Sicht.
Genau. und gerade auch jetzt. Ich finde nochmal, dass diese ganze Zeit ganz anders zu betrachten ist aus jetziger Sicht, aus der jetzigen politischen Situation, wo Gesellschaftsformen, die jetzt vorherrschen auch nicht mehr so als das Wahre und ideologisch hochstehend betrachtet werden, nach dem Motto: «Wir haben’s richtig gemacht und der Sozialismus war Mist». Das kann man ja sagen, aber diese kleine Bewegung, die da nicht stark genug war, die DDR von innen heraus zu verändern, das sind ja interessante Leute gewesen … Aber die anderen waren halt stärker, die Reformer konnten dann nicht mehr ihre Ideen auf den Tisch bringen und selbstbewusst ein Teil dieses Deutschland anders verändern, als es dann so von der Masse – auch sehr kurzfristig offenbar – gewollt war. Wenn man heute Reden von Václav Havel oder so hört, dann wird klar, dass damals schon ganz viele Veränderungen gesehen worden sind und Vorschläge gemacht wurden. Aber das System stand damals nicht zur Debatte, es war damals dran, diese Ostsysteme abzuschaffen, was ja auch in Ordnung war, aber die Chance wurde nicht ergriffen. Ich hoffe sehr, dass man heute nochmals auf diese Zeit zurückschaut und guckt, was sich jetzt daraus noch machen lässt, um die Gesellschaft so zu verändern, wie es wichtig ist. Und nicht nur aus Angst, vor dem Markt sich anzupassen bis zum Gehtnichtmehr und die Leute so zu verlieren und sie einzuteilen in Gruppen von Abgehängten und Flüchtlingen und Besserverdienenden und prekärem Akademikertum. Solche Milieu- und Klassengeschichten, die eigentlich sinnlos sind und über die wir hinweg sind.

Das kommt im Roman einerseits in den Dialogen rüber, andererseits in der Figur Obréns.
Ich hatte ursprünglich einen Text, der stärker von der sogenannten Flüchtlingskrise handelte. Das geht schon seit vielen, vielen Jahren, wie die Festung Europa sich abgrenzt nach aussen, das ist ja kein neues Phänomen der letzten fünf Jahre. Mir war das dann aber zu stark, das Aussen war so stark medial. Da hatte ich tatsächlich Angst, dass das zu stark ein zu gewollt politischer Text gesehen wird, und da war ich dann nicht mehr bereit dazu.

Das Gespräch für das Buchjahr führte Salomé Meier.

Henriette Vásárhelyi: Seit ich fort bin. 240 Seiten. Zürich: Doerlemann 2017. 30,- CHF.

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