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Road Novel und zartes Erzählexperiment

Nach dem Auslesen des Romans «Und dann verschwinden» bleiben die Sehnsuchtsbilder: nächtliches Motorradfahren im Sommer, baufällige Häuser, die Suche nach der Fremde. Das atmosphärische Debüt ist zugleich auch das literarische Vermächtnis der Schweizer Theaterschaffenden Monika Neun.

Von Anna Larcher
27. April 2023

Getrieben vom Fernweh

Und dann verschwinden ist eine Geschichte des Aufbruchs. Die Protagonistin schnürt sich ihren Seesack und zieht in eine Stadt südlich der Alpen – vielleicht Italien, vielleicht Frankreich. Angetrieben von dem Hunger nach Glücksmomenten, in denen der eigene Körper nicht gross genug ist, um all die Lebendigkeit und Schönheit der Welt zu fassen. Sie findet dieses Gefühl zeitweilig in der Liebesbeziehung zu einem Er, der Zigarillos raucht und barfuss in seine Schuhe schlüpft. Doch es zieht sie weiter. Erst zurück in die Heimat gen Norden und dann lange Zeit auf Reisen.

Quer durch die Welt jagt das Fernweh die Protagonistin: «Es gefällt mir, eine Fremde unter Fremden zu sein, eine Zeit lang, und zu verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen.» Der Roman tappt trotz der aufgeladenen und vielfach bearbeiteten Reisesehnsucht-Thematik nie in die Kitschfalle und überzeugt mit höchster Sprachsensibilität. Obwohl Monika Neun nur reduziert beschreibt, erschafft sie mittels auserlesenen Segmenten, wie den winzigen Farnen in den Mauerritzen oder der im Wind segelnden Plastikplane, eine umfassende Szenerie. Zudem überraschen ungewöhnliche Metaphern: Das Theater ist ein Drache, die Protagonistin von Beruf Ritter – sprich Schauspielerin –, die den Drachen erlegt.

Zur Autorin

Monika Neun, geb. 1967 in Basel, studierte Literatur-, Film- und Theaterwissenschaften und lebte lange Zeit in Rom und Paris. Als Filmkritikerin schrieb sie für die NZZ, ausserdem inszenierte sie an den grossen Schweizer Theaterhäusern. In Basel war sie in der Freien Szene aktiv und gründete sie ihr eigenes Theater, raum33 . Im Juli 2022 verstarb sie an Krebs. Ihr Romandebüt "Und dann verschwinden" ist 2023 erschienen.
Foto: © ZVG/Peter Schnetz

Poetik des Verschwindens

Das wiederkehrende Motiv des Verschwindens, der Auflösung des Subjekts, verbinden den Roman denn auch mit dem Genre der Road Novel. In Momenten der Euphorie wünscht sich die Protagonistin zu sterben und auch die Perspektivgestaltung wird vom Verschwinden bestimmt: Einige Passagen sind aus der Ich-, andere aus der Sie-Perspektive erzählt. Das Erlebte ist für die Hauptfigur wie ein Film, der ihr nicht mehr gehört, sie sieht sich selbst als Schauspielerin darin. Das Changieren der Erzählposition gelingt reibungslos und zeigt, wie ausgereift der Roman ist. Mehrere Jahre arbeitete Monika Neun an ihrem Debüt, das Ende Februar 2023 postum im Atlantisverlag erschien. Ein halbes Jahr zuvor verstarb die Schweizer Künstlerin kurz vor ihrem 55. Geburtstag an Krebs. Als ihr Meisterwerk gilt die Theaterinstallation Protect Me From What I Want, in der das Publikum selbstständig seinen Weg durch die parallel ablaufenden Szenen wählt. Ein Parcours rund um menschliche Intimitäten, der sich thematisch in Monika Neuns Schaffen einreiht: Viele ihrer Projekte kreisen um die Fragilität von Beziehungen.

Le vrai et le réel

Auch in ihrem Romandebüt legt Neun den Finger auf die labilen Kippmomente in der Beziehung zwischen der Protagonistin und ihrem Geliebten. Anziehungskraft ist da, doch genauso die unüberwindbaren Lücken. Die Besuche und der Telefonkontakt, die dem Roman als strukturierende Elemente dienen, schleichen sich Stück für Stück aus, sodass sich Leser:innen fragen mögen: Was war erträumt, ersehnt – und was Wirklichkeit? Im Duras-Zitat, das dem Roman als Motto vorangestellt ist, findet sich die Antwort: «Il n’y a rien de vrai dans le réel, rien.»

Bei Und dann verschwinden handelt es sich eben nicht zuletzt auch um ein Erzählexperiment. Der Roman ist vielmehr Collage als lineare Handlung. Zeitebenen verschwimmen, die Erlebnisse bleiben fragmentarisch. Die Protagonistin resümiert an einer Stelle: «Es gibt gar keine Geschichten, nein. (…) Die Tage sind in Bilder zerfallen, in Einzelteile ohne Sprache. (…) Die Reihenfolge und den Zusammenhang zu finden, ist die Schwierigkeit.» Schlussendlich ist es diese Suche nach einem Gefüge im unaufhörlichen Zerfallen, die Monika Neun in ihrem künstlerischen Schaffen umgetrieben hat und die sie nun mit diesem ersten und letzten Roman über ihr eigenes körperliches Verschwinden hinaus als Vermächtnis an uns weiterreicht.

Monika Neun: Und dann verschwinden. 144 Seiten. Zürich: Atlantis 2023, ca. 29 Franken.