KW17

Postmoderne im Anschauungsunterricht

Tom Kummer

Dass Gion Mathias Cavelty nichts heilig ist, schon gar keine konventionellen Regelpoetiken, das ist bekannt. Mit «Innozenz» treibt er seinen postmodernen Unfug auf eine bisher unerreichte Spitze der Groteske und stosst das Erzählen über die Klippe.

Von Oliver Camenzind
20. April 2020

Von einem Buch mit weissen, reinen Seiten bekommen wir folgende Geschichte aufgetischt: Der Inquisitor Innozenz muss nach Schwamendingen, weil dort mal wieder der Teufel los ist. Im Dorf an der Glatt hat es der Kirchenmann aber nicht etwa mit gewöhnlichen Hexen und normalen Ungläubigen zu tun, sondern mit den groteskesten und monströsesten Figuren, die man sich überhaupt denken kann. Einer dieser Mensch-Zombie-Zwitter ist in den Besitz des Schädels von Adam, dem ersten Menschen, gekommen. Innozenzens Mission im Auftrag des Heiligen Stuhls: Den Knochen aus den Händen des Heiden befreien und den vatikanischen Schatzkammern zuführen.

Gion Mathias Caveltys neues Buch ist, das kann man wohl sagen, ziemlich eigenartig geworden. Das heisst aber nicht, dass «Innozenz» ohne Plan geschrieben worden wäre. Im Gegenteil erweist sich der Bündner Schriftsteller als Meister postmoderner Verfahren. Dass er sein eigenes Buch als Figur auftreten und zu seinem Publikum sprechen lässt, ist dabei nur ein kleiner narratologischer Scherz am Rande eines ungeheuren Durcheinanders. Eine «Legende» will er hier geschrieben haben, aber Innozenz ist mindestens zu gleichen Teilen eine Satire auf diese Gattung. Was dieses Buch im Buch uns da verzapft, ist nämlich selbst in höchstem Grad unheilig: Bald liest sich dieser Text wie das Drehbuch zu einem drittklassigen Gruselfilm, bald wie eine Persiflage auf die Bibel.

Zum Autor

Gion Mathias Cavelty, geboren 1974 in Chur, studierte ab 1993 in Fribourg Italienisch und Rätoromanisch. 1997 erschien sein Debütroman «Quifezit oder Eine Reise im Geigenkoffer» bei Suhrkamp, fünf weitere Romane folgten, darunter der Bestseller «Endlich Nichtleser». Sein literarisches Werk umfasst Prosa, Dramen, Kinderbücher und Hörspiele. Ausserdem schreibt Cavelty für den Nebelspalter und andere Zeitschriften, 2012 erhielt er den Zürcher Journalistenpreis. «Innozenz» ist sein achter Roman.
Foto: © Paolo Dutto

Aber nicht nur der Plot ist haarsträubend, auch in seiner Form gleicht das Buch einem Kuriositätenkabinett. Die Sprache der Erzählung ist biblisch, und das so übertrieben, dass es zum Lachen ist. Zwischendurch sind pseudolateinische Sentenzen, pathetische und dadurch völlig unglaubwürdige Glaubensbekenntnisse eingeschoben. Und immer mal wieder rezitiert das so auf so ätzende Weise unschuldige Buch ein Gedichtelchen oder gibt englische Sätze von sich, die eher nach den Songtexten einer mittelmässigen Hardrockband tönen als nach vatikanischer Bibliothek.

Doch damit nicht genug. Gewissermassen als Tüpfelchen auf dem I haben auch Andeutungen auf Geschlechtsteile und Körperflüssigkeiten ihren Weg in den Text gefunden. Und hinter jeder Ecke droht der Leibhaftige: Darum sind die Kapitel nie länger als zwei Seiten. Jedes Wort könnte schliesslich schon das letzte sein. Und als das letzte Wort dann doch irgendwann gesagt ist, kommen noch ein paar unbedruckte Seiten. Gewissermassen als performative Bestätigung dafür, dass wir wirklich das leere Buch in den Händen halten, das uns diese Story weismachen will.

Offenkundig hat sich der Autor hier einen Spass daraus gemacht, jede Regel des schönen Erzählens zu brechen. Darum ist Cavelty weder Logik noch Stringenz heilig, von so etwas wie gutem Stil ganz zu schweigen. Fäkalhumor, exaltiert altertümliche Ausdrucksweise und okkultistische Anleihen noch und nöcher; das und der Ungeheuerlichkeiten mehr wirft Cavelty in einen grossen Topf, um es dann durch den literarischen Fleischwolf zu jagen. Was dabei herauskommt, ist ein einziger Schmarren, und zwar so sehr, dass man sich darüber aufregen kann.

Aber dieser Schmarren hat natürlich seine Absichten. Ernsthaft dafür zu argumentieren, warum «Innozenz» ein schlechtes oder weiss Gott was sonst für ein Buch ist, würde darum vollkommen an seinem Witz vorbeizielen. Denn dieser scheint gerade darin zu bestehen, dass der Text unsere Begriffe von guter Poesie herausfordert. Erwartungen, die wir an dieses Buch herantragen, werden sofort und mit Absicht enttäuscht. Was wir für literarische Qualität halten, darauf pfeift der Text sein schräges Liedchen. Stattdessen zerlegt er Genres, literarische Vorbilder und die eigene Erzähltechnik in Einzelteile, die er dann neu zusammenflickt. Das ist Postmoderne in Reinform: Da macht es nichts, dass die Sache an vielen Stellen etwas fadenscheinig wirkt und dass nicht alle Stücke gleicht gut ins Ganze passen. Innozenz hat seine ganz eigene Virtuosität. Und wenn wir uns nach der Lektüre fragen, worüber wir uns hier eigentlich ärgern, dann hat der Innozenz schon mehr geleistet als man von ihm erwarten kann.

Gion Mathias Cavelty: Innozenz. Eine Legende. 176 Seiten. Zürich: lectorbooks 2020, ca. 20 Franken.

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