KW16

Der Zerschellte

Tom Kummer

Nach 1984 und 2007 wendet sich Reto Hänny mit «Sturz» ein drittes Mal dem «Materialkomplex FLUG» zu. Die grosse Frage lautet: Was wird hier überschrieben?

Von Philipp Theisohn
13. April 2020

Sechs Jahre ist es her, da sandte Reto Hänny mit Blooms Schatten ein literarisches Lebenszeichen nach nahezu zwei Dekaden des Schweigens, die mit seinem Bachmannpreis 1994 eingesetzt hatten. Es war eine Rückkehr in der Camouflage einer anderen Autorschaft, nämlich der von James Joyce, dessen Ulysses Hänny in einem einzigen Satz neuzuschreiben sich unterstand. Mit Blick auf die Gründe seines Verstummens (zu denen sich Hänny hier geäussert hat) schien die Wahl der «Schattenschrift» nur konsequent zu sein, liess sich in ihr doch der radikale Gegenentwurf zu einer personell zuzuordnenden Textarbeit begreifen. In der Rückschau erscheint Blooms Schatten freilich vielmehr als die strategische Vorarbeit eines weitaus grösseren und überaus persönlichen Schreibprojekts, das den Titel Sturz trägt – und hinter dem sich die nunmehr zweite, gewaltige Um- und Überarbeitung von Hännys 1984 erschienenem Flug verbirgt.

Epik? Epik.

War Hännys erste ‹Übermalung› des Textes von 2007 dabei eindeutig darauf angelegt gewesen, diesen zu entschlacken, so lässt ihn Sturz wieder auf gut den doppelten Umfang, auf ganze 580 Seiten anschwellen. Am Erzählverfahren hat sich dabei wenig geändert: Hänny ist und bleibt der Autor der Kaskade. Er erzählt topisch, schreitet die ineinander verschachtelten Erinnerungsräume aus, ohne Rücksicht auf das syntaktische Gedächtnis seiner Leser zu nehmen. Eine harte Schule der Literarizität betritt man hier und offen gesteht der Erzähler es ein: «ein Wust mit dem Bleistift malträtierter Zettel, die […] in lauter Nebensächlichkeiten verzettelt kaum den Ansatz einer Geschichte hergeben». Seitenlange Parenthesen und Einschübe entführen einen so immer wieder in das Leben von Randfiguren, ihre Erinnerungen, Zukünfte, Sünden und Schicksale, um am Ende wieder in einem nahezu punktlos dahinfliessenden Zeichenstrom zu versinken. Echte Epik also bekommt man hier zu Gesicht, die Ausbreitung von Welt, zur Not und gerne um den Preis ihres Stillstands.

Zum Autor

Reto Hänny, geboren 1947 in Tschappina, einem kleinen Bergdorf in Graubünden. Nach ausgedehnten Reisen und verschiedenen Tätigkeiten u.a. als Ziegenhirte, Schullehrer und Bühnenarbeiter am Theater in Chur, debütierte er 1979 mit «Ruch. Ein Bericht» und erregte mit «Zürich, Anfang September», einem Bericht über die Zürcher Jugendunruhen 1980, erstmals großes Aufsehen. Hänny, der zahlreiche literarische Auszeichnungen erhielt, u.a. den Ingeborg-Bachmann-Preis und zuletzt den Zolliker Kunstpreis, lebt als freier Schriftsteller in Zollikon/Zürich und Graubünden.

Der Sturz in die Geschichte

Was aber wird erzählt? Wenn man so will, vollzieht sich Sturz anhand dreier Flugszenarien. Ein- und Ausgang bildet das Ab- und Anfluggeschehen rund um den Flughafen Zürich, das Ensemble der Geschäftsreisenden und Urlaubenden, der Dutyfreeshops, Gepäckkontrollen und des Abtastpersonals, der Bildschirme und Sprechautomaten. Von hier aus öffnet sich das Erzählen zum einen der heroischen Zeit der Aviatik, der «Ära Blériots» zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zum anderen der Bündner Jugendvita eines Menschen, der anfangs durch die Wohnstube, späterhin an den Abhängen der Adoleszenz entlangfliegt – kaum glaubt man ihn zu fassen, so weht es ihn «bereits wieder weiter».

Geflogen wird hier indessen, wie es vom Buchumschlag verkündet wird, um zu stürzen – und gestürzt wird oft und tief in diesem Text. Es stürzen Menschen «vom Heustock herab ins Schroteisen», geraten in Schneebretter und werden in die Tiefe gerissen. Es stürzen die Jäger, von «Gemsblindheit» geschlagen. Es stürzt der Nachbarsjunge bei einem riskanten Überholmanöver auf der Via Mala mit seinem Rad übers Geländer an der Punt da Tgiern. Es stürzt der Herr Stadtgeometer a.D. bei einem nächtlichen Heimweg in einen Kanalisationsschacht und macht des Erzählers Schlummermutter dadurch zur Witwe. Es stürzt der «Sturzflieger» Lulatsch bei einer volltrunken absolvierten Turnprüfung mit einer derartigen Wucht «kopfvoran zwischen den Holmen» hindurch, dass es sich «angefühlt haben muss, […] als steckte er nach dem Sturz mit dem Kopf bis zu den Schultern im Turnhallenboden fest». Es stürzt der in Chur gescheiterte deutsche Theatermann nach einer nächtlichen Brandrede aus dem Glockenstuhl von Sankt Regula. Es stürzt der Alpenüberquerer Oskar Bider mit seiner Blériot XI beim Versuch einer Zwischenlandung ins Brackwasser, überlebt den Crash aber mitsamt seiner beiden Privatpassagiere. Der letztgenannte Sturz, Biders Sturz, ist nicht nur deswegen erwähnenswert, weil in der Erstfassung des Textes besagter Unfall noch von einem anderen Piloten, nämlich von Claude André durchlitten wird. Die historische Retuschierung der Szene, in deren Zug André durch den Schweizer Starpiloten ersetzt wird, der an jenem Dübendorfer Schaufliegen im Oktober 1910 gar nicht anwesend war, macht vor allem deutlich, dass Hännys Schreiben stets von jenem Moment ausgeht, in dem der Sturz endet: vom Aufprall. Genau das ist der Moment, der in diesem dritten Flug-Versuch überschrieben wird: Indem man einen auf den ersten Blick unscheinbaren Figurentausch vornimmt, verdunkelt man auf einen Schlag das Geschehen. Hinter der lapidaren Sturzlandung im Morast lauert der Abgrund der Geschichte: Oskar Biders suizidaler Sturz im Juli 1919, unmittelbar gefolgt vom Selbstmord seiner Schwester, legt sich wie ein Schatten über den Flugplatz, bleibt unerzählt und doch markiert als ein Punkt, an dem die Loopings, die dieses Erzählen vollführt, ein Ende finden müssen.

Zerschmetterte Prosa

Dieser kleinen, aber ungeheuer bedeutsamen Verschiebung korrespondieren weitere Abweichungen, die unmittelbar auf das Gesamtkonzept dieses Textes hinweisen. 1984 endete der Flug noch mit den Zeilen «– geht ein Rütteln durch die Maschine / sind wir bereits zerschellt / untergetaucht». In jenem letzten Wort «untergetaucht» blieb damals die Rede verankert: Vermeintlich ‹bereits zerschellt›, läuft die Schrift doch untergründig weiter, überwindet das Ende, reisst noch einmal das Steuer hoch. In Sturz ist jenes letzte Wort gelöscht, ‹zerschellt› die Prosa tatsächlich – und nach ihr kommt erst einmal nichts mehr.

Vor dem Aufprall jedoch eben der Blick zurück, hinunter, denn «genau, dort ist’s ja, rechts, am Fuße jener markanten Pyramide, welche, den höchsten Gipfeln vorgelagert, alles rundum überragt – ein Stich durchfährt einen, als man, ganz aufgeregt, die weiße Spitze im letzten Moment durch die Luke erspäht –, das in einem Stausee ertränkte Tal der Kindheit». Das Leben, das dieses Ich als «Koffer voll Papierkram» in die abwärts trudelnde Maschine gerettet hat, gleich somit tatsächlich einem «ikarischen Traum», dem Wunsch, sich lesend und schreibend über ein Leben zu erheben, von dem man weiss, dass es einen einholen, zu Boden schmettern wird.

Scharf und böse

Dieser Erzähler hat von den Besten gelernt: von Jean Paul und Flaubert, von Arno Schmidt, Hermann Burger und Paul Nizon – und manchmal, so muss man einräumen, wirkt das Vexierspiel mit den berufenen Stimmen, ihrer Anverwandlung und Abverwandlung durchaus etwas angestrengt und entsprechend narkotisierend. Andererseits gibt es unter den Schweizer Autorinnen und Autoren keine andere und keinen anderen, der diesen Rolf Dieter Brinkmann-Flow besitzt und aus der Verachtung für die Verhältnisse, die ihn umgeben, mehr machen kann als jammernde Anklage oder selbstgewisse Polemik. Die Misanthropie, die man Hänny zu seinem Leidwesen vorgehalten hat: Sie hat durchaus ihre Stärken. Keine der doch nicht gerade seltenen «Bündner Geschichten» jüngerer Zeit kann es mit der Schärfe und Präzision aufnehmen, mit welcher Sturz das grischuner Gesellschaftsleben seziert. Noch spricht man arglos von den «faszinierenden Dinge[n], deren konfuseste Aufzählung dem Kopf mehr Raum lässt als jede Beschreibung»; schon bald wird man gewahr, dass die ‹konfuse Aufzählung› ein ebenso probates Mittel ist, um einen ganzen Erzählkosmos Stück für Stück rücksichtslos zu zerlegen. Nichts kann bösartiger sein als jenes sukzessive Abschreiten der Karrieren, die die Churer (bzw. «Rucher») Klassenkameraden hinlegen werden und nirgends wird die Erosion des ‹Kulturraums Graubündens› sinnfälliger als in der Figur des Knocha, der es «nach dem Motto Der eine wartet, dass die Zeit es wandelt, der andere handelt, jodelnd und alphornblasend vom Schweinehirten über den Kommandanten der Gebirgsgrenadiere sich die Karriereleiter bis zum Direktor des Nobelkurorts emporjassend, dessen Namen er mit dem als Jenatsch-County vermarkteten Hochtal zusammen zum Label stylt, auf die Frontseite der Financial Times bringen wird».

Von den Trümmern her

Gehässiger wird diese Prosa nur noch dort, wo sie sich durch Zürich bewegt, der Stadt, welcher der sich im Anhang befindende «Brief an einen polnischen Freund» gewidmet ist. Wiederaufgenommen wird dabei eine Tirade, die in Hännys Am Boden des Kopfes (1991) ihren Anfang genommen hatte. (Und von dort stammt auch Janusz, der Adressat des Briefes). Zürich, «Chrysopolis», wie der Erzähler es konsequent nennt – und dabei weniger an «the City of Gold» als vielmehr an die «Stadt der schönen Geschäfte» denkt –, ist ihm dabei auf der einen Seite das altbekannte Klischee: Escher-Denkmal, Bahnhofstrasse, Baur au lac, die bösen Kreditanstalten als das ‹Gehirn des Monsters›, Kronenhalle, das arme apothekenzerklüftete Café Odeon, das Opernhaus als Inbegriff bürgerlicher Kulturindustrie etc. Nicht alles falsch, vielleicht sogar richtig, aber eben Klischee und damit irrelevant. Das kann jeder. Auf der anderen Seite jedoch öffnet dieser Brief dann doch den Blick für eine echt misanthrope, kynische Fantasie, die darin besteht, «dass Chrysopolis über Nacht zur Nekropolis, besser sagte man: zu einem Kenotaph in Form jener Stadt, die der einst bewohnten aufs Haar gleicht, geworden sein soll». Erneut: Es ist das Ende, von dem her hier gesprochen wird, von dem her der Blick noch einmal über alles schweift, was sich vor ihm nicht retten kann. Von den Fremdenverkehrsvereinen über die standardisierten Maronistände, vom falschen Stolz auf einen «von den lieben nördlichen Nachbarn aufoktroyierten Begriff» (nämlich den der «Schweizer Literatur») über die Rätoromanen als «Weltmeister im Jammern», von Sprüngli-Pralinen bis zum Bündnerfleisch, von Frischs hochtrabenden Architektenplänen bis hinab ins Réduit: Alles muss hier von den Ruinen, den Trümmern her gedacht werden. Und wenn Sturz auch sicher nicht davor gefeit ist, hinter sperriger Phrasierung bisweilen auch etwas wohlfeile Zeitkritik zu verstecken, so ist zu konstatieren: Das Mass an dunkler Energie, das Reto Hännys Prosa freisetzt, ist wirklich, wirklich beachtlich. Mehr davon.

Reto Hänny: Sturz. Das dritte Buch vom Flug. 584 Seiten. Berlin: Matthes & Seitz 2020, ca. 46 Franken.

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