KW20

Wilhelm Tell: Nationalheld, Mythos… Mensch?

Die Figur Wilhelm Tell ist vieles: Freiheitskämpfer, Urschweizer, Nationalheld, Stoff von Schillers letztem Drama und (für einige) die Erinnerung an eine verstaubte Schullektüre. In seiner Neuerzählung des Stoffes lässt Joachim B. Schmidt in Tell den Mythos Mensch werden. Doch wie viel Mensch ist zu viel?

Von Melissa Vogt
16. Mai 2022

Er ist ein grosser, bärenstarker Mann, ein vollbärtiger Urschweizer mit Armbrust über der Schulter. Ein mutiger Freiheitskämpfer und treffsicherer Schütze, der sich mit stolzgeschwellter Brust den feindlichen Habsburgern entgegenstellt, ein Sinnbild schweizerischer Identität. Wilhelm Tell ist ein klassischer Held. Und dann schreibt Joachim B. Schmidt, ein in Island lebender Auslandsschweizer, seinen Roman Tell und wirft all diese Vorstellungen einfach über den Haufen. Die Inspiration zu dieser Neuauflage der Tell-Figur holte sich Schmidt bei Einar Kárason, einem isländischen Autor, welcher die Sturlunga-Saga in einer modernen, nahbaren Form wieder aufleben liess. Diese Erzählweise lässt die Figuren authentisch werden, sie sind fehlbar, haben eine Vergangenheit und entsprechen gar nicht mehr dem Ideal der helvetischen Heldengestalt. Im Vordergrund dieser Neuerzählung stehen nicht der Rütlischwur oder der Apfelschuss, sondern die Menschen um Wilhelm Tell und er selbst.

Zum Autor

Joachim B. Schmidt, geb. 1981 in Thusis (Graubünden), lebt heute in Reykjavik. Seit 2007 ist er als Autor, Journalist und Reiseleiter auf Island tätig. Schmidts Romandebüt «In Küstennähe» erschien 2013 im Landverlag. «Tell» ist Schmidts fünfter Roman.
Foto: © Eva Schram

Der Tod des Helden

Was ist das denn nun für ein Held, der keiner sein will und vielleicht auch gar keiner ist? Wilhelm Tell führt mit seiner Familie ein hartes und bescheidenes Leben in der Innerschweiz. Bereits zu Beginn wird schnell klar: dies ist nicht die Geschichte eines klassischen Helden. Hier geht es um eine Familie, um einen Vater-Sohn Konflikt, um die Überwindung vom Traumata. Wilhelm Tell ist ein gebrochener, einfacher Mann, der durch menschliches Verfehlen und ausufernde Gewalttaten in eine unglückliche Situation gerät, als er in Altdorf eine Kuh verkaufen will. Er übersieht den Gessler-Hut auf dem Dorfplatz, die Situation läuft aus dem Ruder: Apfelschuss, Jubel, Verhaftung. Doch Wilhelm entkommt, rächt sich an den Habsburgern, schleppt sich verletzt nach Hause und verschwindet in einem Felsspalt. Der Mythos ward geboren. Mit einem unglaublichen Tempo rast die Geschichte dem Ende zu und wir erhalten Einblick in die Perspektive zahlreicher Figuren um Wilhelm Tell. Der eigentliche Mythos rückt dabei in den Hintergrund und macht Platz für die Geschichten beinah echter Menschen.

Mehr Menschlichkeit

«Die Alpen sind kolossal, aber die Welt, in der wir uns bewegen, ist winzig klein.» Nicht treffender liesse sich beschreiben, wie Schmidt den Spagat zwischen Mensch und Mythos stemmt. Wo er den mächtigen Stoff des Tell auf eine realitätsnahe Ebene herunterbricht, ergänzt er seine Adaption um den Faktor Menschlichkeit. Das lässt die Welt der Erzählung zwar klein und einfach erscheinen, Tell als Person mit Gefühlen und Problemen kennenzulernen, macht ihn jedoch vielmehr zu einem der unsrigen, als er es als Held jemals hätte sein können. Doch trotz all dieser menschlichen Tiefe bleibt ein fader Nachgeschmack. Durch die traumatischen Hintergrundgeschichten psychologisiert Schmidt seine Hauptfiguren so stark, dass man Seitenweise über die emotional aufgeladenen Szenen hinwegliest, ohne sie dabei inhaltlich noch greifen zu können. In Kombination mit der Geschwindigkeit des Romans gerät die Handlung in den Hintergrund. Die Traumabewältigung der Figuren überschattet das eigentliche Geschehen und grenzt ans Plakative. Unweigerlich stellt sich die Frage: darf Schmidt das oder übertritt er eine Grenze, indem er sich einer helvetischen Sagengestalt so umfangreich bemächtigt und ihr einen traumatischen Hintergrund von sexuellem Missbrauch und Verlust andichtet? Sicherlich ist diese Neuerzählung des Tell eine erfrischende Grundlage für jeden, der gerne den Menschen hinter dem Helden kennenlernen und einen Nationalmythos in leicht verdaulichen Portionen serviert bekommen möchte. Tell lässt einen verstaubten Stoff in neuem Glanz erstrahlen und macht ihn für die Allgemeinheit als schillernden Blockbuster im Buchformat zugänglich. Anspruchsvolle Lesende und Geschichtsinteressierte mögen jedoch nach diesem rasanten Abenteuer den Buchdeckel schliessen und mit der Frage zurückbleiben, inwiefern Joachim Schmidt die Grenzen seiner Verantwortung als Autor überschritten haben mag.

Joachim B. Schmidt: Tell. 288 Seiten. Zürich: Diogenes 2022, ca. 28 Franken.

Weitere Bücher