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Entmystifizierung. Verena Stefans «Häutungen» revisited

Verena Stefan Häutungen

Am 29.11.2017 verstarb Verena Stefan im Alter von 70 Jahren in Montreal. Anstelle eines Nachrufs widmet sich Philipp Theisohn nochmals Stefans «Häutungen» (1975).

Von Philipp Theisohn
4. Dezember 2017

«Häutungen» – in seiner ursprünglichen Erscheinungsform – ist ein Buch, das sich bis auf die Knochen entblösst. 1975 im Münchner «Verlag Frauenoffensive» erschienen, macht es keinen Hehl aus den ihm zugrundeliegenden Produktionsverhältnissen: Billigste Broschur, spartanischer Satz, DIY bis ins Mark. Im Nachsatz hat Verena Stefan die Phänomenalität ihres Textes als die einzig aufrechte, da die gesellschaftliche Wahrheit widerspiegelnde Gestalt aufgewiesen:

«Bis jetzt gibt es niemanden, der einen auftrag in unserm sinn erfüllen kann. der inhalt eines buches erfordert jeweils eine bestimmte gestaltung. das heisst, ein bestimmtes format, einen bestimmten umschlag, einen bestimmten schriftsatz, eine bestimmte schrifttype.

Kein geld! mit dieser feststellung beginnen alle unsere projekte. bis jetzt hat das dazu geführt, nur die billigsten verfahren anzuwenden. wo blocksatz angebracht ist, muss im flattersatz gedruckt werden, was farbig werden soll, wird schliesslich schwarz-weiss.»

«Uns» – das sind die Frauen, die «wir umsonst arbeiten», die ökonomisch marginalisiert werden – und die deswegen auch literarisch nicht sichtbar sein können, da auch die Bücher durch und durch ökonomisierte Körper sind, an denen ersichtlich wird, wem was gehört und wer wen für sich arbeiten lässt. Markiert wird mit den «Häutungen» somit weniger ein sozialer Missstand, dem man sich klagend gegenüberstellen und seine Rechte einfordern kann, sondern vielmehr steigt dieser Text dort hinunter, wo es vermeintlich nichts mehr zu sagen, zu schreiben, zu drucken gibt: Wie muss ein Buch aussehen, das von denen geschrieben wird, die keinen Zugang zum Markt haben, für diejenigen, die keinen Zugang zum Markt haben? Gespenstisch muss es aussehen. Weitestgehender Verzicht auf Majuskeln, dünnes Papier, eine verblasste Schwarzweiss-Kopie eines Autorinnenfotos. (Dass das Cover dann doch in einem bläulich-braunen Ton gehalten ist – auf die Wiedergabe der korrekten Farbabstufungen kam es Stefan an -, irritiert vor diesem Hintergrund eher.) Es kann kein Zweifel bestehen, dass dieser Text Strukturen freilegen wollte – und diese Aufgabe gestaltete sich umso schwieriger, als dass er aus einem Milieu heraus geschrieben wurde, das sich selbst bereits als «Befreiungsbewegung» verstand.

Zur Autorin

Verena Stefan (1947-2017), absolvierte nach ihrer Ausbildung zur Krankengymnastin ein Studium der Soziologie und der Religionswissenschaften in Berlin. 1972 war sie Mitgründerin der feministischen Gruppierung Brot und Rosen. 1975 debütierte sie mit ihrem Text «Häutungen» - vielleicht dem zentralen Text der deutschsprachigen feministischen Literatur. Verena Stefan wurde zweimal (1988 und 1994) mit dem Buchpreis der Stadt Bern und  2008 auch mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung für ihren Roman «Fremdschläfer» ausgezeichnet. Seit 1998 lebte Stefan in Montreal, Kanada.

Das Ich der «Häutungen» ist Augenzeugin der sexualpolitischen Entwicklungen Ende der 1960er Jahre. Es kennt die Debatten, die kanonischen Texte, es ist umgeben von Männern, die für alles Verständnis haben und wie selbstverständlich Frauen für «bessere menschen […] demokratischer humaner diplomatischer» halten. Die Frage bleibt aber immer dieselbe: Was ändert sich? Der Schluss, den die «Häutungen» ziehen, lautet: Nichts ändert sich, da auch die sexuelle Revolution die «erste kolonialisierung in der geschichte der menschheit» – die der Frauen – nicht rückgängig macht, sondern ihr nur ein neues Design verpasst. Den Systemfehler erkennt die Erzählerin in der immer noch vorhaltenden Arkanisierung des Sexus:

«Sexualität wollten wir entmystifizieren. Sie sollte eine leicht zu nehmende angelegenheit sein, nicht mehr der höhepunkt einer begegnung mit einem andern menschen, sondern eine schwerelose möglichkeit, sich kennenzulernen.»

«Entmystifizierung»: Das zielt auf die Zerschlagung dessen, was Marcuse in «Eros and Civilization» (1957) die «Herrschaft des Realitätsprinzips» genannt hatte. Gemeint war damit das Konzept der Kultur als Triebverzicht, das in eine Gesellschaft münden musste, die sich auf repressive Produktions-, Herrschafts- und Sexualverhältnisse zurückzieht. Hatte Freud in «Jenseits des Lustprinzips» (1920) das Kollabieren des Realitätsprinzips, seine Überwältigung durch das Lustprinzip noch für gefährlich (da kulturauflösend) gehalten, so versprach sich Marcuse davon gerade «ein neues Realitätsprinzip»:

«Die kulturelle Moral wird durch die Harmonisierung von Triebfreiheit und Ordnung aufgehoben und ersetzt: befreit von der Tyrannei repressiver Vernunft richten sich die Triebe auf freie und dauerhafte existentielle Beziehungen.»

Marcuse wird in den «Häutungen» explizit referenziert, und tatsächlich ist dieser Text beseelt von der Vorstellung der «dauerhafte[n] existentielle[n] Beziehungen», die in der Schwerelosigkeit des Eros warten könnten. Wie aber kommt man in diese Schwerelosigkeit hinein? Die Antwort suchte und fand Stefans Buch auf zwei Ebenen.

Zum Ersten in der Zurückweisung der heterosexuellen Kodierung, die für es letztlich immer Versklavung der Frauen durch die Männer bleiben muss. Das sexuelle Handeln erkennen die «Häutungen» als bedingt durch ein Wirklichkeitsprinzip, das sich in die Körper, die Haut, die Geschlechtlichkeit eingeschrieben hat. Solange man diesen Körper bewohnt, bleibt man auch an dessen soziale Schwerkraft gebunden, man fügt sich also dem Stärkeren und tut immer nur das, was dieser von einem verlangt. Die erste «Häutung» besteht also im Abtragen resp. dem Ablegen der fremdbeschriebenen Körperlichkeit, durch welches die Erzählerin Stück für Stück sich den sie umgebenden Machtstrukturen zu entziehen versucht. Auf dem Plateau der erzählten Biographie schliesst das den Abschied von der heterosexuellen Beziehung zu Samuel und die Hinwendung zur Freundin Fenna ein. Mit letzterer entdeckt das Ich nun eine neue Körpersprache, die unter der alten gelegen hatte, und in diesem Sinne eigentlich eine archaische ist.

«Wir befanden uns in einem leeren feld. wir wollten nicht nachahmen, sondern aus uns heraus, aus dem erotischen rohstoff zwischen uns neue wege und handlungen formen. Die leere wirkte verwirrend. Die erinnerung an die alten verhaltensweisen verblasste unendlich langsam. Die übertragung schien griffbereit.»

Das ist das Stichwort für die zweite Häutung, nämlich die Häutung der Sprache, die ebenfalls einen Körper darstellt, der gehäutet werden muss, bis er keine Spuren der Unterdrückung mehr aufweist und liebesfähig wird:

«Wenn ich über heterosexualität schreibe, benutze ich die klinischen ausdrücke. sie sind neutraler, weniger beleidigend, verfremdender. Die sprache versagt, sobald ich über neue erfahrungen berichten will. Angeblich neue erfahrungen, die im geläufigen jargon wiedergegeben werden, können nicht wirklich neu sein. artikel und bücher, die zum thema sexualität verfasst werden, ohne dass das problem sprache behandelt wird, taugen nichts. sie erhalten den gegenwärtigen zustand.

Ich zerstöre vertraute zusammenhänge. ich stelle begriffe, mit denen nichts mehr geklärt werden kann in frage oder sortiere sie aus. – beziehung, beziehungsschwierigkeiten, mechanismen, sozialisation, orgasmus, lust, leidenschaft – bedeutungslos. sie müssen durch neue beschreibung ersetzt werden, wenn ein neues denken eingeleitet werden soll. jedes wort muss gedreht und gewendet werden, bevor es benutzt werden kann – oder weggelegt wird.»

Der Weg aber zu dieser neuen Sprache, den Weg aus der Sprachlosigkeit: den sucht dieser Text auf seine ganz eigene Art und Weise. «Häutungen» ist kein Manifest, sondern ein eminent literarisches Gefüge. Wenn sich das Buch im Paratext ausweist als «Autobiografische Aufzeichnungen Gedichte Träume Analysen», dann wird damit nicht zuletzt auch eines gesagt: Dass es nicht zuletzt das poetische Sprechen ist, über welchem die Körper frei werden – und nicht von ungefähr tritt die Lyrik im Verlauf des Textes dann auch immer stärker in den Vordergrund –  just da, wo der «Ausnahmezustand» erreicht wird, wo es auf jeden Satz, jedes Wort ankommt.

Verena Stefan Häutungen

Verena Stefan war nicht neben allem, sondern vor allem, was zu ihr zu sagen ist, eine Dichterin. Am vergangenen Mittwoch ist sie im Alter von 70 Jahren in Montreal verstorben.

Verena Stefan: Häutungen, Autobiografische Aufzeichnungen. Gedichte. Träume. Analysen. Erstausgabe: München: Verlag Frauenoffensive 1975; aktuell greifbare Edition: Frankfurt a.M.: S. Fischer 2015. 160 Seiten. ca. 16.90 CHF.

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