KW23

Alte Rechnung

Lukas Tonetto legt mit «Die Standhaften» seinen ersten Roman vor, in dem die Grundüngszeit der Schweizer Eidgenossenschaft zur historischen Schaukulisse einer metamorphotischen Geldpoetik wird.

Von Marco Neuhaus
7. Juni 2021

Gottlieb Kerr war 1848 noch ein Freiheitskämpfer, doch im Jahr 1868, in dem Lukas Tonettos wunderbarer Erstlingsroman Die Standhaften einsetzt, ist er zu einem angesehenen Ölmüller arriviert. Im Städtchen nennt man ihn, der Todfeind von Adel und Krone, den Ölbaron. Das Geschäft läuft gut, doch in Kerr ist es nicht ruhig geworden, er glaubt immer noch an die Revolution und träumt von der radikalen politischen Freiheit. Zu diesem Zweck zweigt er Geld ab, um eine Schattenarmee aufzubauen, die den Kampf gegen Ludwig II. aufnehmen soll.

Währenddessen erwacht in der Tochter eines Bauern der Geschäftssinn: Nüsse, geröstet und gesalzen, sollen als Snacks an die Bierdurstigen im Wirtshaus verkauft werden. Das Produkt schlägt ein, sodass der Bauer bald nur noch «Nusskönig» heisst. Als deswegen die Nusslieferungen an Kerrs Presse geringer werden, sieht dieser seine politische Bewegung gefährdet. Bald heisst es Nusskönig gegen Ölbaron, doch im Hintergrund bahnt sich der Krieg an…

Zum Autor

Lukas Tonetto, geboren 1972, lebt in Aarau. Publizistische Tätigkeiten u.a. als Kolumnist bei der NZZ am Sonntag und als Blogger. Seit 1994 lebt er als freier Schrifsteller und veröffentlicht Prosaerzählungen. Für sein Romandebüt «Die Standhaften» erhielt Tonetto Förderbeiträge vom Kuratorium Kanton Aargau und Pro Helvetia.
Foto: © Zak van Biljon

Diese vertrackte Geschichte über Wirtschaft und Politik erzählt Tonetto in einer prunkschweren Sprache, die man so noch nicht gelesen hat. Grossartige Sätze oszillieren zwischen syntaktischer Opulenz und kargem Schlagwortstil; bildliche Assoziationen, schlaglichtartige Sinneseindrücke, Perspektivenwechsel und Segensformeln überwuchern die Sätze, bis die Syntax auseinanderbricht:

«Seine [Kerrs] Habichtfinger griffen sich eine Nuss, ein Knacken, und heiss durchfuhr ihn eine Erinnerung, ein Feuer brannte, gebratenes Fleisch, Salz in den Mündern, Rauch in den Nasen, die sich wie die Nüstern der Gäule blähten, noch ein Knacken, und dann knackten Kiefer Nüsse, mahlten, schwiegen, der Wirt strahlte, ein Bauer hätte sie verkauft, und blickte zum Kerr, der kaute, kauerte über seinem Bier, derweil wie von Geisterhand sich die anderen Bierhumpen leerten, der Wirt, seiner Fülle zum Trotz, behende wuchtete er seine schweren Hinterbacken hoch, und schon waren – und fünf und sechs frische Märzen gezapft, und eins für den Ölbaron, Prosit!»

Nur langsam schälen sich die Figuren aus dieser Sprache, sie wachsen wie in Zeitlupe aus ihr heraus, bis sie überlebensgross dastehen und ein üppiges Panorama politischer Ideale und wirtschaftlicher Interessen bilden. Die politischen Verhältnisse, von denen Tonetto erzählt, scheinen äusserlich befriedet, doch unter der Oberfläche gären die inneren Widersprüche dieser Gesellschaft. Das Joch hat sich trotz anhaltender Knechtschaft und allgegenwärtiger Korruption durch Reformen gelockert, jedoch nur damit der König umso sicherer im Thron sitzen kann. Die Wohlstandsträume der Aufstrebenden und der utopische Kampfgeist, von der freiheitlichen Fortschrittskraft zum scheinbar gestrigen Gespenst verkommen, durchkreuzen sich gegenseitig – und zum Schluss werden all diese Konfliktlinien in der falschen Einstimmigkeit deutscher Nationaleuphorie aufgelöst.

Nicht zuletzt ist Die Standhaften ein ökonomischer Roman, in dem bisweilen das Geld zur Protagonist:in wird. Überall klingelt und klimpert und zirkuliert es, es macht die Zungen ruhig oder geschwätzig, es zündet die Einbildungskraft an und macht gleichzeitig politisch behäbig, es entscheidet über Gedeih und Verderb. Vom Geld ist in Romanen ja häufig die Rede, und häufig ist der eine oder andere Plot Point ökonomisch motiviert, aber selten besteht das heimliche Gerüst eines Romans so sehr aus den Metamorphosen des Geldes, ob es sich nun in Nüsse, Verschwiegenheit oder politische Aktion verwandelt.

Die tektonische Langsamkeit, mit der sich Handlung und Figuren entwickeln, wird hervorragend in Balance gehalten von der dichten Sinnlichkeit des Romans: Selten war ein Roman – schon gar nicht ein Historienroman – so sehr von Gerüchen, Geschmäckern und prägnanter Haptik getragen. Gelegentlich wird das Buch indes fast von den eigenen Stärken erdrückt: Gleichmässig und streng bündelt es auf jeder Seite seine Kräfte, so dass sich die berückend dynamischen Sätzen gelegentlich zu statischen Kapiteln verfestigen. Die überbordende Ambition und der Wille zum Grossen werden auch irritieren, doch Tonettos Gewichtigkeit ist eben nicht nur gesucht, sondern auch brillant gefunden.

Lukas Tonetto: Die Standhaften. 348 Seiten. Zürich: Verlag Palinurus 2020, ca. 35 Franken.