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In einer einzigen Welt

Benjamin von Wyl hat mit «In einer einzigen Welt» einen zynischen Zeitkritik-Roman geschrieben. Aus der unerwarteten Erzählperspektive eines Pilzes werden drängende Gesellschaftsdiskurse der Gegenwart aufbereitet, zusammengewürfelt und verhandelt: Von Social-Media, Verschwörungstheorien bis Individualismus.

Von Silvan Preisig
15. November 2022

Die junge Influencerin Nora – vier Millionen Follower*innen – reist um die Welt und besucht Krisengebiete mit dem Anspruch deren schöne Seiten hervorzuheben. Ihre Onlinecommunity wird mit Videos gefüttert. Die aufrichtige Idee eines «Wir» schlummert in ihr. Von der Öffentlichkeit wird ihr aber Propaganda-Tourismus vorgeworfen. Dann ein Sinneswandel, sie hat genug von Hasskommentaren und den Shitstorms. Sie zieht sich in ein altes Kino an der Küste zurück und möchte ihre Verbindungen loswerden. Stattdessen öffnet sie ihre Verbindungen für einen Parasiten. Nora wird zum essenziellen Wirt eines Pilzes. Eines ambitionierten Pilzes, der lernt, die Idee eines Bewusstseins von den Menschen zu übernehmen.

Zum Autor

Benjamin von Wyl, geboren 1990 in Lenzburg (AG), studierte Germanistik und Geschichte in Basel. Er arbeitete als freischaffender Journalist u.a. für die WOZ und ist heute Reporter für Swissinfo.ch. Literarische gab von Wyl sein Debüt 2017 mit dem Roman «Land ganz nah». Für seinen zweiten Roman «Hyäne – eine Erlösungsfantasie» (2020) wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2021 ausgezeichnet. Mit «In einer einzigen Welt» veröffentlicht er seinen dritten Roman. Von Wyl lebt heute in Basel.
Foto: © Yves Bachmann

Sporen, Hyphen, Myzel

Der Pilz lockt über die Onlineverbindungen Noras weitere «Soloexistenzen» zu sich. Darunter der verurteilte Stalker Andreu, der sich auf einem Kreuzfahrtschiff befindet und Nora ständig belästigende Nachrichten sendet. Er will sie, bildet sich ein als Fan ein Anrecht auf sie zu haben. Als Nora ihm endlich antwortet weiss er nicht, dass er geködert vom Pilz wird. Nora ist besessen vom Pilz, Andreu ist besessen von der Influencerin – die Pilzausbreitung und das Internet als plausible Parabel. Es werden so die Gefahren der Funktionsmechanismen des Internets aufgezeigt und bildstark dargestellt. Dabei erzählt das Buch aus der Perspektive des Pilzes, der durch Nora zu uns Leser*innen spricht. Dies eröffnet sich den Lesenden erst nach und nach. Man muss sich an die anspruchsvolle Erzählweise gewöhnen. Aber sie greift, weil sie die Verästelung, das unbemerkt vorankriechende und vermehrende der Hyphen aufnimmt. Den Leser*innen werden Spu(o)ren gelegt, ohne dass die Erzählinstanz ein Gesicht bekommt. Vielmehr wird einem bewusst, dass der Pilz die Vision eines allumfassenden «Wir» verfolgt, ähnlich zu Noras Community-Gedanken.

(K)eine einzelige Welt

Dem Text gelingt es, die beiden Pole Dystopie und Utopie geschickt zu verbinden. Damit schliesst er gut an Benjamin von Wyls bisherige Romane Hyäne und Land ganz nah an. Ein Pilz, der unbemerkt vom Bewusstsein der Menschen lernt, sich daran nährt und sich so verbreitet. Man stellt beim Lesen ein ums andere Mal fest, wie ähnlich das Verhalten des Pilzes dem Prinzip einer künstlichen Intelligenz (AI) ist. Die Ideologie, die der Pilz dabei verfolgt, hat aber durchaus utopische Züge: «Es fehlt einzeligen Menschen an Verknüpfungen, es fehlt Ihnen an gemeinsamem Fühlen, an Erspüren, wie sie mit anderen wechselwirken». Das liest sich als Plädoyer für ein emphatisches Miteinander und die Abschaffung des Individuums. Verdeutlicht wird dies an den vielfältigen, sich abwechselnden, denunzierenden Neologismen für den Menschen: «Einzelig», «Soloexistenz» oder «Individudumm». Paradoxerweise wird eine vermeintliche Verschwörungstheorie eingeführt. Die «Baumfrau», eine Aussteigerin und selbstbezeichnete Redpillerin, berichtet von einem Machtzentrum, wo Silberfische geklont und Menschen mit Pilzen vernetzt würden. Erlösung biete die Insel «Liberall», wo die Individuen entfesselt und die Chips rausoperiert würden, um frei und egoistisch zu sein. Dieser Erklärungsversuch ist skurril und etwas verwirrend, doch erschreckend nahe am Ist-Zustand der gegenwärtigen Skeptikerbewegungen.

Wann immer Macht verhandelt wird, geht es auch um Sprache. Der Pilz möchte seine Ideologie sprachlich vermitteln, um uns Leser*innen einzuweihen. Auch deshalb hat er Nora als Medium ausgesucht. Sie beherrscht Sprache und kennt ihr manipulatives Potenzial. In der Überzeugung, mit welcher der Pilz in den Schlusszeilen zu uns spricht, steckt eine Warnung, getarnt als Angebot. In einer einzigen Welt ist ein dichter, anspruchsvoller und gleichwohl unterhaltsamer Roman, der zum Denken anregt – wenn es denn noch unsere eigenen Gedankengänge sind.

Benjamin von Wyl: In einer einzigen Welt. 208 Seiten. Zürich: lectorbooks 2022, ca. 30 Franken.

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