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Literaturwissenschaft braucht Sibyllen und Propheten

Faust verkommt zum trockenen Schleicher, Cervantes sitzt im Gefängnis und der Struwwelpeter gehört zerrissen. In «Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten» wirft Peter von Matt wieder einen Blick auf die Weltliteratur, deckt Unbekanntes auf und erzählt Altbekanntes neu.

Von Sarah Schwedes
4. September 2023

Wieder hat der Zürcher Emeritus ein neues Werk vorgelegt. Er präsentiert mit Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten eine unterhaltsame Aufsatzsammlung zur meist deutschen Literatur und ihrer Geschichte. Selbstbewusst wendet sich von Matt gleich zu Beginn seinen fiktiven Kolleg:innen zu: all den Fausts, Jeckylls und Frankensteins. In den ersten zwei Kapiteln skizziert er die Geschichte der literarischen Wissenschaftler-Typen und der europäischen Universität nach, ihre langsame Entwicklung aus den drei oberen Fakultäten – Theologie, Jura und Medizin – und der unten gelagerten philosophischen Fakultät. Von Matts Buch kann in diesem Kontext auch als Aufwertung der unteren Fakultät gelesen werden. Als Verankerung des literarischen und philosophischen Wissens im kollektiven Bewusstsein.

Zum Autor

Peter von Matt, geb. 1937 in Luzern, studierte Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich. Darauf promovierte er bei Emil Staiger über Franz Grillparzer und forschte in seiner Habilitation zu E.T.A Hofmann. 1976 wurde von Matt zum ordentlichen Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich ernannt. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen Literatur und die Psychoanalyse sowie die politische Schweiz. Von Matts umfassendes Werk wurde mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht, u.a. mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main (2014).

Dies ist, so scheint es, die Lebensaufgabe des Peter von Matt. Der Zürcher Germanist, der sich einst über E. T. A. Hoffmann habilitierte und nun seit bald 60 Jahren schreibt, legt zuverlässig alle paar Jahre einen neuen Sammelband mit Gedanken zur Literatur nach. Dabei ist ein beachtliches und mehrfach preisgekröntes Werk entstanden. Unlängst wurde er in den literarischen Adelsstand erhoben: Das Schweizer Literaturarchiv hat seine Schriften in seinen Bestand aufgenommen.

Dieser Sammlungscharakter seiner Arbeit kommt auch in Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten zum Ausdruck: Angefangen mit dem literarischen Typus des Wissenschaftlers – immer oszillierend zwischen Genie und Wahnsinn, gefeierter Lichtgestalt und abgesetztem Schleicher – arbeitet er verschiedene Narrative, Typen und Topoi heraus: Kunst und Verschwendung etwa, und damit das menschliche Unbehagen gegenüber der Kunst als Verschwendung. Oder Gerechtigkeit und Sympathie, die, so von Matt, in der Literatur häufig Partei ergriffen für die Unterlegenen, Vergessenen, Verurteilten. Wenn er ein Stück Literaturgeschichte erzählt, will man das Buch stellenweise nicht mehr aus der Hand legen. Dann lenkt er den Blick wieder auf Details, die die kritische Leserin zum Bücherregal greifen lassen: Ist Papageno wirklich so subversiv? Wie verhält es sich nochmal mit den Figuren Edward Albees? Und für was steht eigentlich Peter Schlemihls Schatten? Über Literatur lässt sich bekanntlich streiten; auf stilistischer wie auf interpretatorischer Ebene. Gerade in ihrer Offenheit der Materie gegenüber liegt auch die Stärke der Texte von Matts. Obwohl sie meist stringente Interpretationen vorlegen, sind sie nicht dogmatisch und lassen genügend Platz für eigene Gedanken.

An manchen Stellen schwankt man zwischen Schmunzeln und Stirnrunzeln; etwa, wenn von Matt vorschlägt, vor Gericht doch anstelle der psychologischen Expert:innen auch einmal einen Philosophen oder eine dreifache Mutter zu Wort kommen zu lassen. Das Interesse für diese Figuren-eigenen Perspektiven verweist auf von Matts eigene Forschung; schliesslich war er es, der die Psychoanalyse in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft etablierte. Dennoch muten solche gedanklichen Experimente heutzutage kurios an. Sie sind aber schnell verziehen, rühren sie doch von der geisteswissenschaftlichen Inbrunst her, die von Matts gesamtes Werk durchzieht. Denn bei ihm wird das geschriebene Wort zur Anthropologie, wird Literatur zur Messlatte der Realität. Sein Grundgedanke, Literatur sei ein Spiegel des kollektiven Bewusstseins und lege somit auch immer anthropologische Tendenzen offen, wird von manchen Germanist:innen heute rundheraus abgelehnt. Diese, die eigene Disziplin teilweise selbstüberhöhende Idee, liegt aber schlussendlich immer noch den meisten Leseakten zugrunde – ob am Gymnasium, in der ausgewählten Sortimentsbuchhandlung oder an Literaturfestivals. Und so verteidigt Peter von Matt weiterhin in der Schweizer Öffentlichkeit seinen Platz als literaturwissenschaftliche Lichtgestalt.

Peter von Matt: Übeltäter, trockne Schleicher, Lichtgestalten. 240 Seiten. Berlin: Hanser Verlag 2023, ca. 39 Franken.