KW23

Ein Hochseilakt

Annette Lory

Annette Lorys zweiter Roman ist ein feinfühliger Tanz entlang der steilen Klippe zwischenmenschlicher Berührungsängste. Vergangenen Montag wurde das neue Buch im Spheres vorgestellt.

Von Kathrin Egolf
4. Juni 2018

Monika, am Berg gestürzt, liegt im Spital und phantasiert im komatösen Zustand vor sich hin: Mal ist sie ein Blatt im Wind, mal zerpflückt sie zuckerwatten-rosa-Wolken, tanzt auf einem Seil oder sieht Bekannte vor sich. Dem Eklat des Sturzes, der Grenze und Offenbarung zugleich ist, vorangegangen war eine Wanderung als Wiederannäherungsversuch zwischen den beiden ehemals besten Freundinnen Monika und Helen. Erhofft hatte man sich die Wiederkehr jener Vertrautheit, die seit den gemeinsamen Ferien vor einem Jahr in Griechenland verloren gegangen war. Dort waren sie aneinander geraten, hatten sich gestritten und seither den Kontakt abgebrochen.

Wie Berg und Meer

Helen liebt die Berge, ist eine «Feuerfrau», stets in Bewegung und ein Naturkind. Sie arbeitet nach abgebrochenem Jurastudium im Bioladen und schläft lieber im Zelt als in einer Unterkunft. Sie lebt nach ihrer Intuition und geht der Nase lang. Monika hingegen mag lieber das Meer und ihre Yogastunden, ist unsicherer, hat Angst vor Konfrontation und wäre am liebsten ein Chamäleon. Sie hat ihre Ausbildung abgebrochen, jobbt in einer Klinik und sehnt sich nach jemandem, der ihr sagt, wo ihre Bestimmung liegt und wo sie ihre Leidenschaft findet. Trotz grosser Höhenangst lässt sie sich auf die Wanderung ein, aus Hoffnung, die enge Verbindung zu Helen wieder aufleben zu lassen. Doch ihr Stolz und die Scham davor, Schwäche zu zeigen, erlauben ihr nicht, ihre Angst zuzugeben. So hangelt sie den orangenen Schuhe von Helen hinterher. Wären die Schuhe rot gewesen, wäre es für sie das Zeichen gewesen, die Wanderung abzubrechen. Doch sie waren eben orange.

Zur Autorin

Annette Lory, geboren 1968 im Berner Oberland, lebte in verschiedenen Sprachregionen der Schweiz, später auch längere Zeit in den USA und in Lateinamerika. Heute ist sie in Zürich zuhause, wo sie als Sozialarbeiterin und Autorin tätig ist. Ihr Debütroman «Vom Fliegen ausser Atem» erschien 2016 im Kommode Verlag. Ihr literarisches Schaffen wurde unter anderem mit dem Baarer Raben und einem Werkbeitrag der Stadt Zürich ausgezeichnet.

«Meer und Berge» ist ein Roman über Beziehungen, über das Bedürfnis nach Nähe, der Sehnsucht nach Orientierung und Zugehörigkeit, und der gleichzeitigen Angst vor Verbindlichkeit. Er erzählt von der Angst vom Loslassen, wenn man dafür nicht bereit ist, und von der Ratlosigkeit, wenn einem der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Denn mit dem Bruch der Freundschaft gerät Monikas Leben aus der Ordnung oder vielmehr: Es gerät in eine Ordnung, auf die sie nicht vorbereitet ist.

Wirre Suche

Die Auseinandersetzung mit Helen lässt Monika ihr Leben analysieren. Ihre letzte Beziehung mit Mauro, der sie betrogen und verlassen hat und danach ebenso verschwunden ist, wie Helen nach den Ferien in Griechenland. Den hedonistischen Paradiesvogel Sila, jene Frau, die in Griechenland zwischen Helen und Monika herumgewirbelt hat. Die Trennung der Eltern und die Weigerung der Mutter, ihren Beistand anzunehmen. Die Emigration des Bruders in die USA, wo er sein Glück findet.

So wird Monikas Geschichte zu einer Odyssee durch einen Wald voller Zeichen und Andeutungen. An jeder Strassenecke finden sich plötzlich Farben, Menschen oder Gegenstände, geschehen Dinge, welche eine Antwort auf die Fragen oder Erklärung der Umstände liefern könnten. Doch all diese Antworten sind doppelbödig, entziehen den Halt zugleich, den sie zu versprechen scheinen.

Die Menschen in Monikas Leben gehen alle ihren eigenen Weg und verwehren ihr dadurch die ersehnte emotionale Zuflucht, den wohl behüteten Platz in ihrem Leben. Monikas Flucht in Kindheitsnostalgie, das Herumphantasieren mit dem Mitbewohner, auch der Ferienspass mit Sila sind immer nur von kurzer Wirkungsdauer: Nirgends gibt es eine echte Ankunft.  So ist «Meer und Berge» tatsächlich als Entwicklungsroman einer jungen Frau im Kampf um Selbstbestimmung zu lesen.

Annette Lorys Roman entwirft einen bildstarken Kosmos, in dem alles Signalcharakter hat. Mit der Schicksalshaftigkeit dieser Zeichenfülle bewegt sich der Roman zwar immer wieder an der Grenze der Überzeichnung und droht damit in eine allzu banale Figurenzeichnung abzudriften. Doch lebt die Erzählung gerade auch von jener beklemmenden Stimmung, die sich in der immer wegweisenden Welt Monikas auftut. Und so begibt man sich mit «Meer und Berge» nicht nur auf eine emotionale Hochseefahrt mit grossem Wellenschlag, sondern auch auf eine poetische Entdeckungsreise – und lernt, was es heisst, jemandem nahe zu kommen.

Annette Lory: Meer und Berge. Zürich: Kommode Verlag 2018, Kommode Verlag, 216 Seiten. ca. 27 CHF.

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