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Nichts riskiert, viel verloren

Mit «Oder?» hat sich Judith Keller zum ersten Mal an der grossen Form versucht und bleibt darin dennoch dem fragmentarischen Erzählen treu. Ein poetischer Drahtseilakt, der dem Text leider nicht glücken will.

Von Oliver Camenzind
12. April 2021

Mit Oder? legt Judith Keller ihren Zweitling vor. Ihr erstes Bändchen erschien vor nunmehr vier Jahren und wurde für seinen Sprachwitz gelobt, für die präzisen Beobachtungen, die es enthält. Und in der Tat gleichen die Fragmente, aus denen Die Fragwürdigen sich zusammensetzt, den Einträgen in einem Poesiealbum. Es gibt in dem Büchlein keine grosse Erzählung, und dennoch scheint alles zusammenzupassen. Es ist der immergleiche Sound der Schwermut, der sich durch die Prosaskizzen zieht und aus den Fragmenten ein Ganzes macht; die Sprache verleiht den Miniaturen eine unverkennbare Gemeinsamkeit und hält sie dadurch zusammen.
Die Fragwürdigen, das ist unbestritten, ist ein originelles Buch. Es enthält viele schöne, sogar manch einen poetischen Satz, einige überraschende Anekdoten und den einen oder anderen sprachkritischen Ansatz. Hie und da reizt es zum Lachen, dann wiederum nimmt die Nachdenklichkeit überhand. Die Texte plaudern, einer nach dem anderen, munter vor sich hin, und schon nach ein paar kurzweiligen Stunden hat man die 140 Seiten hinter sich. Dass die Texte aus ihrer Redseligkeit an keiner Stelle richtig herauskommen und dadurch ziemlich belanglos bleiben: geschenkt.

Zur Autorin

Judith Keller, geboren 1985 in Lachen (SZ), lebt heute in Zürich. Sie studierte Germanistik in Zürich, Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá. Ihr literarisches Debüt gab Keller 2017 mit dem Erzählband «Die Fragwürdigen», für das sie mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich gewürdigt wurde. Mit «Oder?» legt Judith Keller ihren ersten Roman vor.
Foto: © Ayse Yavas

Ein völliges Durcheinander

Jetzt hat sich Judith Keller wieder am Prinzip der kleinen Form versucht. Denn Oder? funktioniert genau wie sein Vorgänger, auch hier wechseln sich fragmentarische Miniaturen ab, die mal mehr, mal weniger zusammengehören. «Roman» steht auf dem Buchdeckel dabei nur, weil die kurzen Szenen, die manchmal nur aus einem Satz bestehen, von einer Rahmenhandlung eingefasst sind: Zwei Frauen kommen in den Besitz eines Notizhefts, darin sie einen Roman finden. In diesem Roman-im-Roman spielen sie die Hauptrollen, doch ihre Figuren erscheinen ihnen «einfach schlecht erzählt». Also machen sie sich daran, den Text umzuschreiben, zu kürzen und zu erweitern.
So nehmen die Dinge ihren Lauf, oder besser: würden die Dinge ihren Lauf nehmen. Denn von «Dingen» kann überhaupt keine Rede sein, und damit fangen die Probleme dieses Buchs an. In Oder? gibt es nämlich weder einen stringenten Plot noch einen Ort des Geschehens, von konturierten Figuren ganz zu schweigen. Bald ist von Oerlikon die Rede, bald von Griechenland. Bald suchen die zwei Frauen einen gewissen Herrn Kneter, den Autor des ominösen Notizhefts, bald ist von einer verwirrten Punkfrau die Rede. Dann gibt es eine ganze Reihe von absurden Nebengeschichten, die aber überhaupt nichts zur Sache tun, sondern nur dem als Schmuck dienen, was wohl der primäre Erzählstrang hätte sein sollen. In diesem aber weigert sich die Autorin konsequent, auch wirklich etwas zu erzählen. So besteht Oder? nicht aus vielen Kleinteilen, die sich zu einem Ganzen zusammenfügen, sondern nur aus vielen, offensichtlich planlos übereinandergeworfenen Skizzen.
In Die Fragwürdigen war der lose Zusammenhang der Textchen noch attraktiv, weil er nirgends behauptet wurde: Was keine Anknüpfungspunkte zu bieten schien, stand eben für sich. Hier aber, wo Dutzende Geschichten angerissen, aber nie weiterentwickelt und zu Ende erzählt werden, ja: wo eigentlich überhaupt nichts erzählt wird, verkommt die collagierte Form zum Ärgernis, weil sie keinem Konzept zu folgen scheint. Das Buch ist ein grosses Durcheinander von Beschreibungen geworden, ihr Inhalt sowohl als auch ihre Reihenfolge wirken völlig beliebig. Und damit trifft natürlich genau das zu, was im (fiktiven) Vorwort kokett angekündigt wurde – Das Buch «ist überhaupt kein Roman». Sondern ein hoffnungsloses Gewurstel.

Unter den Möglichkeiten geblieben

Aber seine missglückte Form ist nur das erste von zwei grossen Problemen dieses Textes. Das andere und noch weit gewichtigere ist seine totale Inhaltslosigkeit. Es ist nicht recht auszumachen, worum es in diesem Buch eigentlich gehen soll. Die Figuren haben – das scheint mit Absicht so zu sein – zwar Namen, aber keine Charaktere und keine Konturen. Die meisten von ihnen kommen denn auch nur ein- oder zweimal vor, die meisten von ihnen stellen sich als völlig irrelevant heraus. Die Handlung ist bestenfalls an den Haaren herbeigezogen, meistens aber absurd und mehr oder weniger austauschbar. Und natürlich gibt es in einem solchen Buch auch überhaupt keine Pointe. Schluss ist ganz einfach dann, wenn nichts mehr kommt. Das könnte nun natürlich alles Teil einer grossen poetischen Versuchsanordnung sein. Nur ist schlicht nicht ersichtlich, was ein solcher Versuch, so es denn einer ist, zu bezwecken versucht.

Nach der heiteren Belanglosigkeit ihres Erstlings dürfte es niemanden wundern, wenn Judith Keller auch in ihrem zweiten Buch nicht besonders tief schürft. Dass Oder? aber dermassen seicht geworden ist, ist nun doch einigermassen enttäuschend. Hier wird – abgesehen von der Form – überhaupt nichts mehr riskiert, nichts mehr auch nur ansatzweise verhandelt, nichts mehr versucht. Einmal rasten die Frösche im Park aus, einmal ist es schönes Wetter. Dann wird eine Schreibmaschine gefressen. Einem Highlight kommen jene Stellen gleich, wo Roger Federer entführt werden soll, was aber dann natürlich nicht passiert und auch nicht mehr aufgenommen wird. Die geradezu krampfhafte Leichtigkeit rettet das Buch aber nicht etwa ins Amüsante hinüber, sondern lässt es plump und vor allem eines: langweilig daherkommen.

Schade ist das darum, weil Keller damit unter den Möglichkeiten ihres Stoffs bleibt. Allein die Ausgangslage, dass zwei Figuren sich darüber klar werden, dass sie in einem Roman geschrieben stehen und ihre Geschichte ändern können, indem sie das Manuskript redigieren, hätte fast unendliches poetologisches Potenzial geborgen, das man hätte fruchtbar machen können. Dass Keller daraus nicht mehr macht, ist mehr als bedauernswert. Stattdessen versieht sie ihren Text mit Fussnoten, in denen sie auf Texte von sich selbst verweist, die in der Zukunft erscheinen sollen. Das kann einmal ja lustig sein, aber nach dem vierten oder fünften Mal lacht niemand mehr über solch kindische Spässe.

Judith Keller: Oder? 280 Seiten. Luzern: Der gesunde Menschenversand 2021, ca. 27 Franken.