KW18

Die Tricks der Erinnerung

Romana Ganzoni Gianna Conrad

Erinnern wir oder werden wir erinnert? Henriette Vàsàrhelyis Roman «Seit ich fort bin» tastet sich an die Mechanismen der Erinnerung und erzählt darüber die Geschichte einer Frau, die langsam die Herrschaft über ihre Vergangenheit hergeben muss.

Von Salomé Meier
2. Mai 2017

Für die Hochzeit ihres Bruders reist Mirjam nach zwanzig Jahren das erste Mal wieder in die Stadt, in der sie aufgewachsen ist. Mit dem Weg durch altvertraute Strassen und Fassaden schlagen lange vergessene Erinnerungen die Protagonistin in den Bann. Die Reise in die alte Heimat hat von Anfang an etwas Unheimliches; wenn die Vergangenheit an jeder Strassenecke unvermittelt aufblitzt und es scheint, als sei die Zeit ihrer linearen Logik enthoben, drängt sich Vergessenes auf und verlangt nach einer neuerlichen Auseinandersetzung. Beständig begleitet Mirjams lakonische Erzählung das Unbehagen, dass früher oder später Verborgenes und Verdrängtes an die Oberfläche treten wird. Durch geschickt eingeflochtene Rückblenden zeichnet Henriette Vàsàrhelyi in ihrem zweiten Roman langsam die in einer Kleinstadt der DDR verlebte Jugend von Mirjam, ihrer ersten Liebe Driew und ihrer verstorbenen Freundin Anis nach.

Der Einbruch ins Ich

Je mehr die Protagonistin ihre Erinnerungen zu konservieren und zu verwalten versucht, desto mehr bemächtigen sich diese ihrer selbst. Diese Be- und Entmächtigung erlebt Mirjam dabei durchaus gewaltvoll; wie das Freudsche Ich ist sie längst nicht mehr Herr im eigenen Haus. Als sie eines Tages ihre Wohnung betritt, hängen die Schubladen der Kommoden heraus, Kleider liegen am Boden, die externe Festplatte, die sie noch an jenem Morgen zur Sicherung an den Laptop angeschlossen hatte fehlt. Eine Fotografie, das die drei Freunde zeigt, findet sie wenig später zusammengeknüllt und durch weisse Striemen bis zur Unkenntlichkeit entstellt unter dem Waschbecken. Indem es von der Entstellung der Vergangenheit zeugt, wird das Foto zum zentralen Symbol dieser Erzählung werden.

Zur Autorin

Henriette Vásárhelyi, geboren 1977 in Ostberlin und aufgewachsen in Mecklenburg, ist ausgebildete IT-Systemkauffrau und studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Bis 2014 absolvierte sie einige Semester des Masterstudiums Contemporary Arts Practice an der Hochschule der Künste in Bern. 2012 erhielt sie für ihren Debütroman «immeer» den Studer/Ganz-Preis, der 2013 für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. 2014 erhielt sie den Literaturpreis des Kantons Bern für ihre herausragende literarische Arbeit. Henriette Vásárhelyi lebt mit ihrer Familie im Seeland.
Foto: © privat

Seit ich fort bin ist Henriette Vàsàrhelyis zweiter Roman und gehört thematisch in die Reihe deutscher Heimatliteratur, die sich dem Motiv einer prekären, wenn nicht unmöglichen Heimkehr widmen und damit die Veränderungen und Verwerfungen thematisieren, die der deutschen Geschichte zu eigen sind. Mit der Geschichte von Mirjam verflicht die Autorin individuelle und kollektive Vergangenheit im Angesicht des Verfalls einer Identität. Nach und nach verliert Mirjam dabei ihre sachliche Contenance, mit der die an die Vergangenheit gebundenen Gefühle in Balance gehalten werden, und fördert schmerzhafte Erinnerungen zutage: an die Zeit zu dritt, an Anis’ Abschied und ihre Depression. Deutlich knüpft der Roman an die Motive von Vàsàrhelyis – mit dem Berner Literaturpreis ausgezeichneten – Debütromans immeer (2013) an. Schon dort zerbrach eine Dreiecksbeziehung jäh, schon dort war der Verstorbene die heimliche Hauptperson der Geschichte.

Ein nostalgischer Text?

Auch Seit ich fort bin geht dabei der Frage nach, wie Erinnerung eigentlich funktioniert. Was schlummert in den Tiefen unseres Gedächtnisses und auf welche Tricks verfällt die Erinnerung, «um die in der Gegenwart lauernde Wirklichkeit zu ertragen»? Wo immer Ohnmacht und Schmerz angesichts bestimmter Ereignisse Überhand gewinnen, entzieht sich das Erzählen einer sprachlichen Symbolisierung und wird figurativ. Henriette Vàsàrhelyi nähert sich Vergangenheitsbewältigung deshalb in Bildern: In gepackten Koffern, die überquellen, in verblassenden Körpern in Träumen und Schriftspuren im Sand. Es sind Metaphern, die so ähnlich auch schon in ihrem Erstling immeer zu finden sind. In Seit ich fort bin wird das Erzählen der persönlichen Geschichte nun mit der historischen Dimension erweitert. Das Zer- und Wegbrechen dieser doppelten Vergangenheit, die sich ohne Mirjams Wissen zu einer Wirklichkeit auswächst und bei ihr eine gewisse Nostalgie evoziert, muss ausgehalten werden, ob sie diese versteht und annimmt – oder nicht.

Henriette Vásárhelyi: Seit ich fort bin. 240 Seiten. Zürich: Doerlemann 2017. 30,- CHF.

Zum Verlag

Weitere Bücher