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«Die literarische Sprache ist kein Mittel, um der Realität zu entfliehen».

Romana Ganzoni Gianna Conrad

Seine Familie stammt aus Italien; aufgewachsen ist Yari Bernasconi im Tessin, dann zog es ihn für sein Studium in die Westschweiz. Heute lebt er in Bern. Insbesondere vor dem Hintergrund der «schmerzhaften Rückkehr des Nationalismus» vertritt der junge Autor die Idee einer «beweglichen Geografie», der er auch in seiner Dichtung  Ausdruck verleiht. Gianna Conrad hat ihn für das Schweizer Buchjahr getroffen und sprach mit ihm über das besondere Wesen der Lyrik, über das bürgerschaftliche Engagement in der zeitgenössischen Literatur - und über das Etikett «Schriftsteller der italienischsprachigen Schweiz».

Von Gianna Conrad
18. April 2017

Oft wird behauptet, dass der Ausdruck in Versen veraltet sei und Lyrik deshalb weniger gelesen werde als Prosa. Was denkst du darüber?

Das ist leider wahr, aber es handelt sich dabei um eine irreführende Vorstellung, welche auf der Annahme basiert, dass Lyrik die literarische Gattung schlechthin für eine und von einer gesellschaftlichen Elite sei. Das hat zur Folge, dass die Leute sich vor ihr verschliessen anstatt sich ihr gegenüber zu öffnen. Beigetragen hat dazu freilich auch die in der Dichtung konstant vorhandene Selbstreferentialität, die sich sowohl auf das Genre im Allgemeinen als auch auf das Geschriebene im engeren Sinne bezieht. Natürlich ist es wichtig, dass Autorinnen und Autoren auch Leserinnen und Leser sind, dass sie literarische Vorbilder haben und dank ihnen, beziehungsweise durch sie, ein Bewusstsein für die literarische Tradition entwickeln. Ich bin aber dennoch davon überzeugt, dass Gedichte zu schreiben heutzutage nicht bedeutet, überholte Begriffe zu verwenden, Dichter aus der Vergangenheit als Modelle zu imitieren oder gar ihre Verse und Zeilen zu kopieren.

Was bedeutet es für Dich dann, Gedichte zu schreiben?

Für mich verfügen Gedichte über besondere stilistische Eigenschaften, die ihnen eigen sind und sie somit von ihrer grossen Schwester, der Erzählprosa, unterscheiden: Die Erkundung des Ungesagten, mit anderen Worten die Mehrdeutigkeit der poetischen Sprache, die brevitas als leitendes Prinzip in der Komposition der verschiedenen Teile des Gedichtes, die prägnante Wortwahl, die es einerseits ermöglicht Dinge direkter und auf noch ausdrucksstärkere Art und Weise zu sagen und andererseits den Vorteil mit sich bringt, den Rhythmus und die Töne der Wörter zu untermauern. Für mich war der Entscheid, mich in Versen auszudrücken, an ein persönliches Erlebnis gekoppelt – an meinen Aufenthalt in der Ortschaft Dejevo in Estland. Dort erschien mir die lyrische Sprache erstmals als die am besten geeignete Ausdrucksform, um das Erlebte zu erzählen und jene Einzelheiten in Worte zu fassen, die mich beschäftigten.

Zum Autor

Yari Bernasconi wurde 1982 in Lugano geboren und doktorierte an der Universität Fribourg in Italienischer Literaturwissenschaft. Er ist Dichter und Literaturkritiker. Seine Gedichte sind in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften, unter anderem «Lo Straniero» und «Ground Zero», wie auch in Gedichtbänden erschienen. Mit seinem letzten Buch, «Nuovi giorni di polvere» (Bellinzona:Casagrande 2015), erhielt er den Preis Terra Nova 2016 der Schweizer Schillerstiftung. Er lebt und arbeitet gegenwärtig in Bern.

Deine Erfahrungen in Dejevo bilden ja auch den ersten Teil deines Gedichtbandes Nuovi giorni di polvere (Casagrande, 2015). Das stark symbolisch konnotierte Bild dieser Region scheint von einer anderen, vergangenen Zeit zu erzählen.

Die verschiedenen Abschnitte aus dem Buch thematisieren einige der prägenden und entscheidenden Momente meines Lebens und das Bewusstsein dafür, dass man in seinem Rucksack mitträgt, wenn man sich auf Reisen begibt. Die Lettera da Dejevo («Ein Brief aus Dejevo») bildet den Prolog des Buches, da sie gleichzeitig auch den Anfang meines Lebens als Schriftsteller kennzeichnet. Ich wollte aber nicht die tatsächliche Reise beschreiben, sondern vielmehr deren metaphorische Bedeutung, d.h. meine gemischten Gefühle in Bezug auf diesen Ort zum Ausdruck bringen. Zu Zeiten der Sowjetunion diente Dejevo den russischen Offizieren und deren Familien als Ferienresidenz. Gegenwärtig hat er sich zu einer gewaltigen im Wald eingewachsenen Ruine gewandelt. Diese Kombination von Ort/Nicht-Ort, Gegenwart/Vergangenheit sowie die ephemere Präsenz dieses «entwurzelten» Dorfes – mit seinen zertrümmerten Dächern und den Bäumen, welche alles in sich verschlingen – zusammen mit der schweren Last der Vergangenheit, die ebenso an diesem Ort haftet – haben in mir bereits bei erster Betrachtung eine eigenartige Kombination von Schuld-und Gerechtigkeitsgefühlen ausgelöst. Dies wiederum stiftete mich zum Nachdenken an und löste in mir eine Erzähllust – in Versen! – aus.

Ein weiteres charakteristisches Merkmal deiner Gedichte ist die lineare und fast schon prosaartige Erzählstruktur sowohl auf der intradiegetischen als auch der extradiegetischen Ebene deiner Texte. Möchtest du damit eine «andere» lyrische Sprache zum Ausdruck bringen?

Ich nenne es ein Buch, da ich mit ihm auch einige präzis gewählten strukturellen Absichten verfolge, unter anderem das Spiel zwischen Lyrik und Prosa. Dennoch weist es eine Erzählstruktur auf, die sicherlich weniger linear ist als die eines Romans oder einer anderen literarischen Gattung. Während einige meiner Texte Nostalgie adressieren, wie beispielsweise ein Gedicht, das ich dem Geburtstort meiner Mutter in Ligurien gewidmet habe, handeln  andere vom Verlassen einer realen oder fiktiven Örtlichkeit, wie zum Beispiel Trittico per un paesaggio («Triptychon für eine Landschaft»). Weitere wiederum heben die Nichtmitteilbarkeit zwischen den Generationen hervor, zwischen Menschen, die in unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten der Welt gelebt haben.

Sind Gedichte für dich somit das adäquate Hilfsmittel, um die gegenwärtige Realität und die damit verbundenen Emotionen in Worte zu fassen?

Ich verfolge die Idee einer literarischen Sprache und mit ihr einer Form der Dichtung, welche den Lesern die Möglichkeit bietet, sich der unmittelbaren Realität anzunähern. Mit anderen Worten: Meine Gedichte möchten einen Raum schaffen, in dem die Leserin bzw. der Leser zu ihrem Resonanzkörper wird und somit auch als real existierendes Individuum im Mittelpunkt steht und wahrgenommen wird. Ich denke also, Gedichte sind ein geeignetes literarisches Werkzeug, um die Realität zu beschreiben – und damit auch ein Mittel des bürgerlichen Engagements. Gedichte ermöglichen es, Empfindungen auszudrücken, die in der Sprache des Alltags oft keinen Platz finden. Natürlich handelt es sich dabei auch um eine soziokulturelle und politische Wirklichkeit, die früher oder später in unvermeidlicher Weise mit der Wertvorstellung jeder/s Einzelnen kollidiert. Ohne jetzt eine Polemik auslösen zu wollen, möchte ich aber doch betonen, dass Leute, die behaupten, in ihrem literarischen Schaffen der Realität entfliehen zu wollen, im Grunde nur einräumen, das alltägliche Leben nicht auszuhalten.

Inwiefern?

Für mich muss die Gegenwart als eine bewusste Reaktion auf das, was geschehen ist, verstanden werden – und nicht als eine blosse Wiederholung des Gleichen und somit bereits Gewesenen. Die heutige Realität ist nicht einfach zu fassen, wir befinden uns sicherlich nicht im glücklichsten Moment der Menschheit – wie man das ja auch aus meinen Texten herauslesen kann –, aber eine Reaktion darauf ist möglich und muss stets möglich sein. Ich bin kein Verfechter der Idee einer tabula rasa, denn ich glaube nicht daran, dass man im Leben alles hinter sich lassen und seine Augen komplett vor der Realität verschliessen kann.

Erklärt sich daher auch Deine Selbstdeklaration als «engagierter Schriftsteller»?

Für mich ist es Aufgabe des Schriftstellers, Verantwortung gegenüber sich selbst und seinen Lesern zu übernehmen. Mein Buch soll genau dies zum Ausdruck zu bringen: Das literarische Schaffen bedeutet für mich, sich in der Welt umzusehen, Eindrücke in sich aufzunehmen und auf das, was real geschieht, zu reagieren. Daher auch mein Interesse für die Residuen und Reste, die uns noch bis in unsere unmittelbare Gegenwart verfolgen und es uns ermöglichen, ein Bewusstsein sowohl für das Vergangene als auch für das Gegenwärtige zu entwickeln.

Dein Buch wirft jedoch auch Fragen nach Identität und Fremdsein auf. Hat das etwas mit Deiner eigenen Herkunft zu tun?

Identitätsfragen liegen mir aus verschiedenen Gründen sehr am Herzen. Die Tatsache, dass ich im Tessin und an der Grenze zu Italien aufgewachsen bin, erzeugt sicherlich in mir das Interesse für Themen wie Identität, Orte oder Räume. Ohne jedoch einem bestimmten, fixen geographischen Standort den Vorrang zu lassen, verfolge ich die Idee einer «beweglichen Geographie», in der die verschiedenen Orte und Länder miteinander im Dialog stehen. Das Gefühl des «Zuhause-Sein» ereilt mich nicht nur an Orten, die in einem bestimmten Land oder in einer spezifischen Region verankert sind, sondern dort, wo ich mich wohlfühle. Folglich akzeptiere ich zwar das Etikett «Schriftsteller aus der italienischsprachigen Schweiz» aus journalistischen Gründen, aber in Bezug auf die Art und Weise meines Schreibens hat sie keinerlei Bedeutung. Die Sprache und die Kultur, die wir benutzen, stammt zwar aus Italien, aber dennoch sind viele Südschweizer «helvetischer» als man es vermuten würde – wurden sie doch in einem Land geboren, das sich schon seit jeher über den Multikulturalismus definiert und in dem Identitätspolitik stets Gegenstand der öffentlichen Reflexion gewesen ist.

Yari Bernasconi: Nuovi giorni di polvere. 96 Seiten. Bellinzona: Casagrande 2015. 20 CHF.

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