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Been there, read that. Das Schweizer Buchjahr 2017

Schildkrötensoldat

Das Buchjahr 2017 ist Geschichte. Auch zu diesem Jahreswechsel drücken wir für einen Moment die Pausetaste und denken darüber nach, wie die literarische Schweiz sich die letzten zwölf Monate so angehört hat – und was jetzt kommen sollte. Und kommt.

Von Redaktion Buchjahr
2. Januar 2018

Was also hatte uns 2017 anzubieten? Zunächst einmal den Moment, in dem in den Trümmern der Neunzigerjahre sich noch einmal etwas (anderes als Stuckrad-Barre oder Robbie Williams) regte, aufstand, sich den Staub abklopfte – und Tom Kummer war. «Nina & Tom» war ein bewegender Nekrolog, in einer Härte vorgetragen, die man längst nicht mehr an jeder Ecke kaufen kann. Das Buch machte keinen Hehl daraus, dass seinem Erzähler etwas zerbrochen war. Abgeklärt war hier gar nichts, hoffnungslos sentimental im starken Sinne vieles – und gerade darin ist das vielleicht einer der reizvollsten Romane des Jahres gewesen. Zumindest aber die literarische Entsprechung des ebenso vom Himmel gefallenen Reunion-Albums von Slowdive oder «Trainspotting 2». Ein Jahrzehnt sieht sich verschwinden und erinnert sich an die eigene Grösse, indem es wie Kleists berühmter Dornenauszieher noch einmal mit Gewalt die Posen wiederholen will, die damals funktioniert haben, die heute aber nur noch den Schmerz der Verfehlung zum Ausdruck bringen. Aber der fährt ein.

Zu den bemerkenswerten Erscheinungen des zurückliegenden Jahres gehört auch das Auftauchen zweier bislang nur Insiderinnen und Insidern bekannter Autorinnen auf der grossen Bühne – die Rede ist von Julia Weber und Martina Clavadetscher. Beide landeten mit ihren Romanen am Ende auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, beide zeichnen sich aus durch einen jeweils eigenen Stil der Ernsthaftigkeit, der aus der Fabel einer märchenhaften Oberfläche Schicht für Schicht die Abgründe freilegt. Webers «Immer ist alles schön» vollzieht diesen Akt in einer bewundernswerten Beiläufigkeit; eine Geschichte von alkoholkranker Mutter und einfallsreicher Tochter, die gerade deswegen einen Sog zu entwickeln vermag, weil sie vorwurfslos bleibt. Das Schwere, das Schwerste wird in dieser teils virtuosen Prosa auf einmal leicht, und dass der Roman tatsächlich auch ein Publikumserfolg wurde, hat darin seinen Grund. In Strategie und Duktus stehen Martina Clavadetschers «Knochenlieder» dem diametral gegenüber. Wer beide Autorinnen einmal bei Lesungen erlebt hat (im Mai bei den Solothurner Literaturtagen konnte man das tun), der wird Zeuge zweier ganz unterschiedlicher Konzeptionen des literarischen Schreibens und Sprechens: Die sachte, betörende Nüchternheit Webers setzt auf die Stärke des Prosaischen. Clavadetscher hingegen ist ganz poeta vates, Beschwörerin, Pythia: Strenge in Form und Ton, ausser sich in der Inventio, in jedem Atemzug lyrisch, selbst da noch, wo sich die Handlung in der digitalen Zukunft verliert. Weitaus mehr Hypnose als Roman sind die «Knochenlieder», man muss sie eigentlich eher hören als lesen.

Wenn wir schon beim Thema «Roman» sind: Mehr denn je erweist sich die Schweiz als Big Player im Geschäftsbereich schmaler Bücher. Während in Deutschland dem Genre Roman dann doch eher ein Buchtyp zugesprochen wird, mit dem im Zweifel auch erschlagen werden kann, bleibt die Kernkompetenz der Eidgenossenschaft auch 2017 das Erzählen unter 200 Seiten. Und Lesenswertes war da durchaus dabei. Flurin Jeckers Adoleszenz- und Blogroman «Lanz», Yael Inokais vielstimmige Dorfgeschichte «Mahlstrom», Noëmi Lerchs poetische Mutterbeschwörung «Grit»: alles schmale Texte, keiner ohne eine gewisse Bitterkeit. Von Carmen Stephans «It’s all true», nur 116 Seiten schwer und doch ein gewichtiges Komplement zu Christian Krachts «Die Toten», wird in den nächsten Wochen noch zu reden sein.

Weniger kurz in der Form, wohl aber im Prozess ging es auch 2017 den Krisenmännern an den Kragen. Christoph Höthker, im letzten Jahr noch mit dem Frank-Stremmer-Roman «Alles sehen» auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, fand mit dem letzten Teil der Stremmer-Trilogie nicht ganz die erhoffte Aufmerksamkeit: Stremmers zynisches Lebensmüdigkeitsprojekt «Das Jahr der Frauen» landete zwar auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, konnte sich gegen den übermächtigen Schatten der Vorbilder Houellebecq und Ellis aber nicht durchgehend behaupten. Höher im Kurs als Stremmers Zynismus stand hingegen der etwas kumpelhaft geratene Humor von Jonas Lüschers Erzähler, der den deutschen Rhetorikprofessor Richard Kraft auf seinem Kreuzgang ins Silicon Valley begleitete: Als Abgesang auf Old Europe und die digitale Spätmoderne gleichermassen konnte «Kraft» das Publikum und die Schweizer Buchpreis-Jury überzeugen, wobei die breitgetretene Querele um die Interessenkonflikte im Umfeld der Preisverleihung nicht nur dem Preisträger, sondern vor allem dem Fokus auf der kritischen Debatte nachhaltig schadete: Trefflich wäre nämlich zu diskutieren gewesen, ob und wie sich in Krisentexten wie Lüschers «Kraft», Lukas Bärfussʼ «Hagard» oder eben auch Urs Faesʼ autofiktionalem Krebsroman «Halt auf Verlangen» noch einmal Walter Benjamins Diktum bestätigt, den Romanleser interessiere vor allem «die Hoffnung, sein fröstelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu wärmen». Was der Romanleserin – wie notabene in Bärfussʼ «Hagard» ingeniös reflektiert – recht, sei der Romankritik im Jahr 2018 in diesem Sinne zu billig: Statt selbst in den Dramolettmodus zu wechseln, halte man sich im kommenden Jahr also lieber an die ohnehin überreichen Krisenherde der Literatur selbst. Mit neuen Büchern von Arno Camenisch, Dana Grigorcea und Peter Stamm stehen die Chancen nicht schlecht, dass zumindest die Schweizer Literatur weiter zu reden geben wird. Wie, warum und von wem wird das Buchjahr auch 2018 interessieren – Antworten werden auf dem Platz gegeben.

P.S.: Natürlich fehlt an dieser Stelle der ausführliche Blick auf die Literaturen der nichtdeutschsprachigen Schweiz. Der folgt in Kürze – wir bekommen 2018 nämlich Verstärkung…

Kurzfassung – unsere völlig subjektive und unsortierte Shortlist 2017:

Tom Kummer Nina Clavadetscher KnochenliederSchwarz Fleisch der Welt Schildkrötensoldat

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Blickfeld:

  • Lukas Bärfuss: Hagard
  • Urs Faes: Halt auf Verlangen
  • Christoph Höhtker: Das Jahr der Frauen
  • Lukas Holliger: Das kürzere Leben des Klaus Halm
  • Flurin Jecker: Lanz
  • Jonas Lüscher: Kraft
  • Simone Meier: Fleisch
  • Carmen Stephan: It’s all true

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