KW17

Abstieg ins Innere des Bären

Bärfuss Mora

In seinem Debütroman «Dort» geht der Luzerner Niko Stoifberg der Frage nach, ob man andere für das eigene Glück ins Unglück stürzen darf. Glücklicherweise bleibt er dort nicht stehen und wendet sich abgründigeren Fragen zu.

Von Dino Tsakmaklis
27. April 2019

Sebi, gefragter Gärtner, steht mit seinem Konzept Nature directe kurz vor dem internationalen Durchbruch. Seine bestechend einfache Idee, durch Holzstege die angrenzende Natur mit den umliegenden Häusern zu verbinden, trifft den minimalistischen Zeitgeist. Wie Sebi, Sohn eines Militärpiloten, kommt auch Lydia aus bürgerlichem Haus. Ihre Mutter ist Hotelier und ihr verstorbener Vater war angesehener Architekt. Sie lebt im Villenviertel der Stadt und verfolgt ein ähnliches Projekt wie Sebi, nur in einem anderen Betätigungsfeld: Sie fotografiert beruflich rohe Nahrungsmittel. Doch die Ruhe der beiden geglätteten Lebensentwürfen (#minimalism) wird schon bald empfindlich gestört.

Zufällig sieht er sie und ist sich sicher: «Sie ist es, sie halt mir gefehlt». Um als heroischer Retter dazustellen, schubst er ihren kleinen Bruder in den See. Sein Rettungsversuch misslingt jedoch und der Junge stirbt. Lydia aber ist Sebi für seinen Versuch dankbar und sucht die Nähe des vermeintlichen Retters. Von Schuld geplagt, deutet er der falschen Person unbedacht seine Tat an, was ungeahnte Konsequenzen nach sich zieht.

Zum Autor

Niko Stoifberg, geboren 1976 in Luzern, hat Anglistik und Germanistik studiert und als Kellner, Zeitungsausträger, Journalist, Cartoonist und Redakteur gearbeitet. Eine Auswahl seiner «Vermutungen», die seit 2005 als Kolumne im Kulturmagazin «041» erscheinen, wurde in der Anthologie «Das Blaue Büchlein» publiziert. «Dort» ist sein erster Roman.
Foto: © Hendrik Dietrich

An dieser Stelle mehr über die Handlung preiszugeben, käme einem Verrat an der ebenso überraschenden wie sorgfältig durchkonzipierten Dramaturgie des Buches gleich. Soviel sei jedoch gesagt: Der unkontrollierte Stoss ins Wasser bildet bloss den Anfang einer Reihe von Wendung und Zuspitzungen im sich zunehmend beschleunigenden Thriller. Rasant pendelt Stoifberg zwischen Alptraum und alptraumhaftem Wachzustand hin und her. Immer wieder ist Sebi gezwungen, sich die Frage zu stellen: «Träume ich?» Es folgen ein Abstieg ins Innere eines Bären, eine Bunkerinternierung sowie Begegnungen mit aussätzigen Arbeiter*innen.

Wie sich in der Handlung Unergründliches und Irrationalitäten pausenlos aneinanderreihen, so nimmt sich auch Stoifbergs Sprache aus. Ob in Dialogen oder Beschreibungen: Von beschönigter und überblickbarer Nature directe kaum eine Spur mehr, vielmehr überlagern sich die Parataxen. Ausrufe, atemlose Gedankenströme und hämisches Gelächter unterbinden moralische Kontemplation über Sebis Tat und verweisen auf Tieferliegendes. Die vorangestellte Frage, ob man andere für das eigene Glück ins Unglück stürzen darf, wäre sodann durch die Frage zu ersetzt, ob man denn überhaupt «Herr im eigenen Hause» ist. Wie mit der Moral verhält es sich auch mit den Vereinfachungen des Lifestyle-Minimalismus. Stoifberg persifliert diesen Minimalismus – und mit ihm auch weitere trendige Methoden achtsamer Souveränitätserlangung – als händeringenden Versuch, ein an und für sich brüchiges Subjekt mit sterilen Reduktionen zusammenzuhalten.

Wie das Testimonial von Stoifbergs Arbeitgeber und Ratgeber-Erfolgsautors Rolf Dobelli auf dem Umschlag des Buches eine falsche Fährte legt, so bleibt glücklicherweise auch die Frage nach Schuld und Sühne nur vordergründig wichtig. Stoifberg unterlegt den rasenden Plot mit grundlegenden Fragen nach dem Unbewussten und nach all dem, was üblicherweise mit den ‹seelischen Abgründen› assoziiert wird. Genau das ist es auch, was dieses Buch eine Radikalität gibt, welche die Lektüre zu einem Ereignis macht.

Niko Stoifberg: Dort. 328 Seiten. Zürich: Nagel & Kimche 2019, ca. 36 Franken.

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