KW20

Männlein, zählen bitte!

Bärfuss Mora

Sind Frauen im Schweizer Literaturbetrieb unterrepräsentiert? Diese Frage beantwortet für uns Tabea Steiner. Sie hat gründlich nachgezählt und kommt zu einem überraschenden Schluss.

Von Tabea Steiner
13. Mai 2019

Clownfische leben in Gruppen von bis zu sechs Tieren gemeinsam in einer Anemone. Das grösste Tier ist ein Weibchen. Wenn das Weibchen stirbt, verwandelt sich sein männlicher Brutpartner, das zweitgrösste Tier der Gruppe, in ein Weibchen. Der bisher drittgrösste Fisch wird zum Brutpartner des neuen Weibchens; alle rücken einen Rang höher, wobei die Hierarchie konstant bleibt. Bei den Clownfischen kümmern sich die Männchen um die Jungen, auch kommen sie alle als Männchen zur Welt und können es, sofern sie alt genug werden, bis zum Weibchen bringen.

Das war es aber auch schon mit dem idyllischen Teil dieses Textes. Es wird jetzt ein bisschen hart. Wer aber bis zum Schluss durchbeisst, auf die wartet dort eine Überraschung.

An der Universität Zürich in der Abteilung für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft sind derzeit drei von fünf Lehrstühlen von Frauen besetzt; eine Förderungsprofessur hat ein Mann inne. Die drei entsprechenden Lehrstühle an der Universität Basel sind von zwei Männern und einer Frau besetzt. An der Universität Bern ist es gelungen, alle fünf ordentlichen Professuren mit Männern zu besetzen.

Der Frauenanteil unter den Studierenden der Deutschen Literaturwissenschaft in der Schweiz liegt laut Statistiken aber deutlich über 50 % und beträgt bis zu über 80 %. Je höher der akademische Grad, desto tiefer die Frauenquote.

In der vormaligen, mittlerweile revidierten Leseliste zur Zwischenprüfung für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Zürich waren 589 Texte von Männern und 113 Texte von Frauen aufgeführt. Gerade drei Texte von Frauen gehörten zur Pflichtlektüre.

An einer Kantonsschule im Mittelland stehen für die diesjährige Matura Bücher von drei Frauen und von 35 Männern zur Auswahl. Das sind knapp acht Prozent. Die Schülerinnen und Schüler wählen ihre Lektüre frei aus der Liste und haben sich in diesem Jahr für insgesamt sieben Prozent Bücher von Frauen entschieden. Möglicherweise haben wir es hier mit einer eigenwilligen Modifikation der Trickle-down-Theory zu tun.

Zur Autorin

Tabea Steiner, geboren 1981 in der Ostschweiz, lebt heute in Zürich. Sie studierte Germanistik und Alte Geschichte in Bern. Steiner ist als Literaturvermittlerin, Moderatorin und Veranstalterin tätig. Sie initiierte das Thuner Literaturfestival, ist Organisatorin des Lesefests Aprillen in Bern und amtiert als Jurymitglied der Schweizer Literaturpreise. Mit ihrem Debütroman «Balg» wurde Steiner für den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert.
Foto: © Markus Forte

(Angesichts dessen, dass wir jetzt fast in der Hälfte dieses Textes angelangt sind: Liegt der Frauenanteil bei Literaturkritiken, Lehrstühlen, Festivals, Literaturpreisen und so weiter bei knapp fünfzig Prozent, dann ist das – im Jahr 2019 –ein sehr hoher Schnitt.)

In einer Neuauflage eines Schweizer Lehrbuches für Deutsch am Gymnasium aus dem Jahr 2018 wird konsequent das generische Maskulinum verwendet.

Seit dem Herbstsemester 2017 findet an der Volkshochschule Zürich die Reihe «Grosse Bücher – grosse Autoren» statt, die von einer Literaturkritikerin geleitet wird. Unter den 15 bisherigen Gästen befindet sich eine Frau – eine Schauspielerin, die Texte von Männern liest.

Die Zeitschrift Quarto des Schweizerischen Literaturarchivs hat bisher 23 Ausgaben Autoren, drei Ausgaben Autorinnen gewidmet.

Beim deutschen Buchpreis besteht die Jury seit 2005 aus durchschnittlich 41 % Frauen. Für die Longlist waren durchschnittlich 31 %, für die Shortlist 35 % Frauen nominiert.

Für den Schweizer Buchpreis wurden seit 2008 34 Männer und 21 Frauen nominiert. Der Preis ging sieben Mal an Männer, drei Mal an Frauen.

Der Schweizer Grand Prix Literatur ging seit 2012 an neun Männer und an vier Frauen. Den Schweizer Literaturpreis für Neuerscheinungen haben seit 2012 25 Männer und 17 Frauen erhalten. In der Jury sassen bisher insgesamt zwölf Männer und sechs Frauen.

Ich habe nun einen verschwindend kleinen Prozentsatz all der Erhebungen, die es zum Thema gibt, ausformuliert. Weitere Studien finden sich unten bei den vermerkten Links.

Und nun kommt die versprochene Überraschung: Wenn Literaturpreise anonym verliehen werden, die Jurymitglieder also nicht wissen, von wem die Texte stammen, dann werden sehr viel mehr Frauen ausgezeichnet. Es stellen sich Fragen wie jene, ob wir als professionell Lesende uns tatsächlich so stark von männlichen Namen auf dem Cover beeindrucken lassen, oder aber, ob die sogenannte Männerliteratur – was auch immer das heissen mag – unsere Lesegewohnheiten weniger beeinflussen konnte als bisher angenommen.

Und noch eine Zugabe: Ich verstehe plötzlich, warum Nemos Vater Merlin so fürsorglich ist und ihn alleine suchen muss – und auch, warum seine Mutter so früh verstorben ist.

 

Dank an: Nicole Pfister Fetz, Martina Wernli, Ulrike Ulrich und RAUF

Quellen: http://frauenzählen.de/index.htmlhttps://www.54books.de/auch-ein-land-der-dichterinnen/

 

Dieser Beitrag erscheint im Rahmen der feministischen Woche am Deutschen Seminar der Universität Zürich, die vom 13. – 17. Mai im Hinblick auf den Frauen*streik am 14. Juni veranstaltet wird. Anlässlich dieser Woche veröffentlichen wir Beiträge von Autorinnen, die Literatur im Brennpunkt feministischer Perspektiven reflektieren. Detaillierte Informationen zum Programm und zur Aktionswoche: Flyer & Veranstaltungsseite

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