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«Das Schreiben wendet sich dem zu, woran wir uns nicht mehr erinnern können, aber das dennoch in uns liegen bleibt.»

Am kommenden Sonntag wird der Schweizer Buchpreis vergeben. Eine der Nominierten ist die in Lausanne ansässige deutsche Schriftstellerin Lioba Happel. Ausgehend von ihrem neusten Buch «Pommfritz aus der Hölle» spricht die Autorin über die Entwicklungen innerhalb ihres Schaffens und Werdens.

Von Redaktion
22. November 2022

Lioba, hast du mit Pommfritz aus der Hölle geplant einen Roman zu schreiben oder hätte sich die Geschichte rund um die Hauptfigur Pommfritz genauso gut zu einem Gedicht entwickeln können?

Es ergeben sich immer verschiedene denkbare Schreibwege und Abzweigungen, die ein Text nehmen kann. Lange Zeit habe ich nur Lyrik geschrieben und gelesen. Doch das lyrische Schreiben ist ein anderes als das Erzählen. Ein Lyrikband muss zum Beispiel nicht alles plausibel machen können, sondern er darf wie ein abstraktes Gemälde auftreten, um beispielsweise eine gewisse Stimmung abzubilden.

Das heisst, der Roman rund um Pommfritz war schon lange in Planung?

Bei mir zu Hause liegt eine ganze Kiste voller Manuskripte. Manchmal verliere ich komplett das Interesse an einem Text. In anderen Fällen, wie das bei Pommfritz der Fall war, spricht ein Manuskript nach mehreren Jahren wieder zu mir. Dann ist der Moment gekommen, um an einem Text weiterzuarbeiten. Das ist nicht planbar, genauso wenig wie die Textform, die sich aus dem Thema und dem Sprachmaterial ergibt. Denn durch die Erfahrung des Schreibens muss zuerst hindurch gegangen werden, um zu einem fertigen Text zu finden.

Zur Autorin

Lioba Happel, geboren 1957 in Aschaffenburg (D), wuchs in Franken auf. Sie begann ein Studium der Sozialpädagogik in Bamberg und wechselte später zu Germanistik und Hispanistik. Danach war sie viele Jahre in Deutschland und der Schweiz im schulischen und sozialen Bereich tätig. Literarisch debütierte Happel 1994 mit der Erzählung «Der Abgrund». Es folgten mehrere Gedichte und Prosatexte, für die sie zahlreiche Förderungen und Preise erhielt, zuletzt den Alice Salomon Poetik Preis 2021. Ihr Roman «Pommfritz aus der Hölle» (2021) ist für den Schweizer Buchpreis 2022 nominiert. Lioba Happel lebt in Berlin und Lausanne.
Foto: © SRF

Bleiben wir doch ein wenig bei der Hauptperson von diesem Roman: Pommfritz. Er gilt als Aussenseiter und hat einen ziemlich skurrilen Charakter. So skurril, dass er sogar seine eigene Mutter isst. An welchen Themen knüpft diese Figur an, welche dich die letzten Jahre über begleitet haben?

Ein Thema, das mich schon immer begleitet hat, ist das der Randständigkeit. Da ich als Sozialarbeiterin gearbeitet habe, war ich tagtäglich mit Menschen in Kontakt, die am Rande der Gesellschaft stehen. Diese Arbeit wiederum hat mir damals das Dichten finanziert. Zudem laufe ich bei Ungerechtigkeiten jeglicher Form an, was ich wiederum in Texten zu verarbeiten versuche. Momentan schreibe ich an einem umfangreichen Buch vom Leben meiner Grossmutter in einem kleinen Dorf. Sie war zu Zeiten des Nationalsozialismus widerständig und schliesslich auch inhaftiert. Ich habe 20 Jahre lang mit ihr zusammen gelebt. Das war auch der Grund, wieso ich zuerst Abstand von der Geschichte gewinnen musste, um jetzt darüber schreiben zu können.

Kannst du ein wenig ausführen, wie sich die Erinnerung und das Erzählen gegenseitig überlagern in solch einem Prozess der Verarbeitung?

Zuerst muss ich einen Zugang zum Inneren finden. Denn das Schreiben wendet sich dem zu, woran wir uns nicht mehr erinnern können, aber das dennoch in uns liegen bleibt. Die mächtigsten Momente sind diese, die noch einen Bezug zu uns haben, ohne dass wir dies gleich erkennen. Das Schreiben ist ein Erinnerungsakt, ohne dass ich mich dabei aktiv frage, was denn einmal war, worüber ich nun schreiben könnte. Dieser liegengelassene Punkt ist derjenige, der uns am meisten berührt, von dem aus können wir die Hebel setzen, um in den Modus des Erzählens zu kommen.

Ich gehe bei Pommfritz aus der Hölle von einer grossen Experimentierfreudigkeit aus, die sich sowohl auf inhaltlicher als auch formalen Ebene zeigt. Kannst du mir verraten, wie ich mir den Schreibprozess von diesem Buch vorstellen kann?

Das Schreiben von diesem Buch ist stosshaft und sehr schnell passiert. Ich war wie vom Schreiben besessen. Das heisst, die erste Niederschrift ist in ein paar Wochen passiert und die erste Überarbeitung davon dann erst viele Jahre später. Es gibt eine Figur, die bleibt, wie in diesem Beispiel Pommfritz, welche den Urton dieses Romans ausmacht. Nach einer gewissen Distanz wird diese dann erst zu versprachlichtem Material. Bei Gedichten ist das anders: Die Sprache initiiert in diesem Fall häufig zum Schreiben.

Wir haben viel vom Schreiben gesprochen. Wenn wir davon ausgehen, dass das Lesen und das Schreiben nicht voneinander zu trennen sind, nimmt es mich zum Abschluss unseres Gesprächs wunder, welche Lektüre dich momentan nicht mehr loslässt?

Ich bemühe mich darum, dem Geist von dem schweren Thema des Nationalsozialismus, an dem ich gerade schreibe, eine Pause zu gönnen. Deshalb lese ich zur Zeit Northanger Abbey von Jane Austen. In diesem Buch wird sehr gewitzt über Pferdekarossen geschrieben. Das ist in etwa so, wie wenn heutzutage die Leute über Porsches schwadronieren.

Interview: Joëlle Bischof / Foto: © Diana Obinja

Lioba Happel: Pommfritz aus der Hölle. 168 Seiten. Wädenswil: pudelundpinscher 2021, ca. 28 Franken.

Weitere Bücher