KW26

Der Mann ohne Eigenschaften

Charles Lewinsky

Nicht einmal der Titel sitzt. Lorenz Langeneggers neustes Werk verspricht ein «Jahr ohne Winter», dabei hält sich die Hauptfigur Jakob Walter keine fünf Tage an der australischen Sonne auf. Der profillose «Held» bleibt dabei so einfallslos wie Form und Inhalt des Romans.

Von Dominik Fischer
22. Juni 2020

Ursprünglich schrieb Lorenz Langenegger, der in Bern Theater- und Politikwissenschaft studierte, für die Bühne. Doch nun erscheint mit Jahr ohne Winter bereits sein vierter Roman und dabei der dritte, der sich den unspektakulären Abenteuern des Jakob Walter widmet. Fand im 2014 erschienen Bei 30 Grad im Schatten die Trennung von seiner Frau Edith und eine Frust-Reise durch Griechenland statt, so reist Walter ihr in Jahr ohne Winter nach Australien nach. Wieso man dem kleinkarierten Zeitungsausträger dabei folgen soll, bleibt auch in der Fortsetzung unerklärlich. «Lektüre kann auch eine Art Strafhaft sein, wenn man die Lektürezeit mit einer durch und durch uninteressanten Person verbringen muss», urteilte Martin Ebel nach Walters erstem Abenteuer und das harte Verdikt behält seine Gültigkeit auch für Langeneggers neusten Wurf.

Bereits die Ausgangslage des Textes missglückt gründlich. Die krebskranke Mutter von Walters Ex-Frau kauft ihm ein Flugticket nach Australien, damit er ihre Tochter Edith aus einem einmonatigen Schweige-Retreat zurückholen kann und sie die lebenswichtigen Stammzellen spendet. Die Krebsdiagnose kam erst nach dem Abflug der Tochter, ihr Handy ist ausgeschaltet. So muss sich Walter auf die Suche begeben und schlurft auf den Fersen eines naturverbundenen Aborigines durch den australischen Outback. Sein Funken Motivation stammt eher aus der naiven Hoffnung auf eine Versöhnung mit der entflohenen Edith, als aus Sorge um die sterbenskranke Ex-Schwiegermutter. Dem absurden Inhalt wird durch die Form nicht geholfen. Prompt und unvorbereitet blenden die Szenen zwischen Bern und dem australischen Cairns hin und her, nur um von Walters ängstlich-zweifelnden inneren Monologen und unzähligen Fragen unterbrochen zu werden, die keinen Mehrwert zur Handlung beisteuern.

Zum Autor

Lorenz Langenegger, geboren 1980 in Gattikon (ZH), lebt heute in Wien und Zürich. Grundstudium in Theater- und Politikwissenschaft an der Universität Bern, Beginn seiner Tätigkeit als Dramatiker. Seit 2004 verschiedene Auftragsarbeiten u.a. für das Nationaltheater Mannheim und das Schauspielhaus Zürich. Nebst Theaterstücken veröffentlichte Langenegger Hörspiele und Prosa. Seit 2014 schreibt Langenegger zusammen mit Stefan Brunner Drehbücher für den Tatort. Sowohl seine Dramen als auch seine Romane wurden mehrfach mit Preisen bedacht. Für sein Romandebüt «Hier im Regen» (2009) wurde er mit dem Berner Literaturpreis und dem Franz Tumler-Preis ausgezeichnet. «Jahr ohne Winter» ist Langeneggers vierter Roman.
Foto: © Ruth Erdt

«Walter überlegt…», «Walter denkt…», «Walter befürchtet…». Die nie vom Schema «Subjekt-Verb-Objekt» abweichenden Primarschul-Sätze werden zu Langeneggers unglücklichem Markenzeichen und vermitteln den Anschein, als handle es sich um erste persönliche Projektnotizen des Autors und nicht um einen ausgereiften Text, der das Prädikat des Romans verdiente.

Walters selbstzweifelnde Einschübe gipfeln im denkwürdigen Dialog mit der ehemaligen Flamme Lena: «– Was macht mich einzigartig? – Nichts. – Aber du liebst mich doch. – Habe ich das gesagt? […] Warum willst du einzigartig sein? – Weil ich sonst keine Stelle finde. – Wer sagt das? – Mein Laufbahnberater.» Dessen autoritäre Worte werden vom Mitläufer Walter kaum angezweifelt und auch Lena “vertraute dem Rat von Fachleuten.” So wird die Chance verpasst, das Gefasel des Laufbahnberaters über «Employability» angemessen zu kritisieren und das Reflexionsniveau der Figuren zu steigern. Stattdessen verwebt das Buch Zukunftspessimismus mit Antiintellektualismus.

An abgeschmackten Stereotypen gibt es dabei keinen Mangel: Die Adresse des ortskundigen Aborigines Tarka erhält Jakob Walter von einem bulligen Glatzkopf mit Narben und Tattoos namens Chris, dem er zufällig über den Weg läuft. Dessen Charakterisierung als «eine Mischung aus einem Rockmusiker und einem Minenarbeiter» erspart dem Lesenden mit seinen abgestandenen Rollenklischees jegliche Denkarbeit. Als sie im Garten seines selbst gebauten Bungalows ein Bier am Lagerfeuer trinken denkt sich Walter scharfsinnig: «ein Motorrad würde zu Chris passen», und bedient sich damit weiter bei den naheliegendsten Assoziationen. Genau so schnell wie Langenegger die Figur des stereotypen Rockers in die Erzählung einführt, verschwindet sie jedoch wieder, als Chris für Trunkenheit am Steuer seines Pick-Ups verhaftet wird.

Mit dem überexpliziten Benennen der Sachverhalte stellt Langenegger nicht nur seinen Helden als unterbelichtet da, sondern auch sein Publikum. Während diese Textstellen bloss Qualität vermissen, wird es andernorts geschmacklos: Tarka, der im Text meist als «der Aborigine» bezeichnet wird, ist Schulabbrecher und Tankwart, jagt Essen für sich und den Berner «Weissen», mag Sterne und Schildkröten und ist schweigsam. Seine Motive dafür, den unsympathischen Berner zu helfen, bleiben dabei völlig schleierhaft.  Im Verlauf des Textes lässt sich Langenegger zu einem Vergleich mit Indianern und Bleichgesichtern hinreissen und erzählt von Aborigines mit Alkoholproblemen.

Die stets meditierende Edith im Retreat bildet den Lichtblick in dieser bornierten Welt. Doch Walter ist das Meditieren zutiefst suspekt und er ist unfähig, sich nur annähernd in seine Ex-Frau hineinzuversetzen. Passend dazu kommt sie in tragikomischer Manier nie zu Wort – denn auch auf dem vorzeitigen Rückflug von Australien nach Zürich bricht sie ihre auferlegte Schweige-Zeit nicht ab. Während des Fluges schreibt sie Walter einen Brief, den die Leser*innen jedoch nicht zu Gesicht bekommen.

Das Schweigen der einzigen interessanten Figuren – Edith und Tarka – steht sinnbildlich für das Scheitern des Texts. Zwanzig Seiten vor Schluss findet Walter Edith. Gegen den Willen ihres Gurus kehrt sie wie erwartet heim und rettet der Mutter mit der Transplantation das Leben. Wozu erzählt man so etwas? Die einzige Überraschung, die Langenegger im gesamten Text zu liefern vermag: Chris, der tätowierte Glatzkopf, besitzt doch kein Motorrad.

Lorenz Langenegger: Jahr ohne Winter. 160 Seiten. Salzburg: Jung und Jung 2019, ca. 25 Franken.