Flüchtige Gäste

Düstere Stimmung am letzten Solothurner Lesetag, Wolken ziehen über den Himmel. Trotzdem versammelt sich eine beachtliche Anzahl Menschen vor der Aussenbühne. Mit kurzem „Ja“, als Begrüssung und schnellem Hinsitzen ist der Anfang gemacht. Angelika Overath zückt ihr Buch und liest uns eine Geschichte aus ihrem 2017 erschienenen Buch Der Blinde und der Elephant.

„Der flüchtige Gast“, so heisst die erste Geschichte. Der Sohn findet einen Vogel und bringt ihn nach Hause. Dort päppeln sie ihn wieder auf. „Er sitzt auf meiner Goethe-Ausgabe, Goldschnitt, und scheisst!“ sagt der Vater. Nicht alle nehmen den Distelfinken gleich wahr. Aber er gehört nun zur Familie. Ob man will oder nicht.

„Noch eine Tiergeschichte!“, sagt Overath. Tiere sind hier die Helden. Und Hunde im Speziellen. „Nur ein Hund“ heisst die Geschichte. Hunde zeigen nicht, dass sie leiden. (Macht das denn den Helden aus?) „Er war eine Sie“, mit rotem Fell. Und dann wurde Sie krank. Es geht um den Moment, in dem eine Frau den eigenen, zur Familie gehörenden Hund einschläfern muss. Ein so menschlicher Moment. Man gibt ihm nochmal etwas Gutes zu essen und schämt sich. Dann kommt der Tierarzt und gibt ihm eine Spritze. Ernst-betroffene Gesichter im Publikum. Die Pointe: Die Frau möchte auch so sterben wie der Hund, denn es war ein ruhiger Moment. „Das kannst du nicht“, meint ihre Freundin dazu.

Applaus und schneller Abgang der Autorin. Auch sie war ein flüchtiger Gast.

Der allerletzte letzte Schnee

Arno Camenisch spricht hier im deutlich heruntergekühlten Solothurn am letzten Tag vom letzten Schnee  – wie passend. Die Stadt scheint noch etwas in Katerstimmung zu sein, es ist ruhiger als in den vergangenen zwei Tagen vor dem Landhaus. Der Landhaussaal hingegen ist gut gefüllt. Arno Camenisch ist ein Name, der die Leute anzieht.

Valeria Heintges, die Moderatorin der heutigen Lesung, bedankt sich erst bei Camenischs Bruder, der ihn davon abhielt seinem eigentlichen Berufswunsch, Koch, nachzugehen. Sie erzählt von seinen bisherigen Werken, von seinem Weg, um schliesslich seine Lesung (oder wie sie es nennt: Performance) anzukündigen. Wie sich sein Buch nur schwer in eine Gattung pressen lässt, lässt sich auch sein Auftritt scheinbar nicht unter dem Begriff Lesung einordnen.

Und Camenisch beginnt. In seinem kratzigen Bündnerdialekt führt er uns in die Szenerie von Der letzte Schnee ein. Paul und Georg, die beiden Protagonisten, stehen vor dem Skilift in den Bergen und unterhalten sich. Sie unterhalten sich über dies und das. Über die Skifahrenden, die doch jetzt bald einmal kommen sollten, über Stimmenzähler mit Diskalkulie, die „höhere Mathematica“ betreiben, über Sinalco-Sonnenschirme und Lehrer, die vom Pult aus auf Vögel schiessen oder den Schülern die besten Noten gaben, deren Schulhefte von der Treppe aus am weitesten flogen.

Camenisch liest meist frei mit grossen Gesten. Zu Beginn etwas hektisch, läuft er sich langsam warm, lässt sich mehr Zeit und beginnt mit dem Text zu spielen. Seine Lockerheit tut dem Text gut. Die banalen Alltagsszenen gewinnen an Witz, Paul und Georg werden zu charmanten Bergkäuzen. Das Publikum dankt es dem Autor mit Gelächter an den richtigen Stellen und kräftigem Applaus. Die Sympathien im Saal hat er auf seiner Seite.

Camenischs Buch erzählt nicht viel oder wie es ein Besucher nach der Lesung auf den Punkt bringt: „Da kannst du das ganze Buch lesen, aber viel passiert da nicht.“ Aber es erzählt Wichtiges. Die Probleme des Bündnerlands, so einzigartig es auch sein mag, seien eben die Probleme der ganzen Welt. Der letzte Sch**** war das definitiv nicht.

 

 

«Wie immer in solchen Fällen lösche ich die Markierung.»

Nachdem ich feierlich ein paar Hemdknöpfe mehr als gewohnt zugemacht habe, begebe ich mich ins Stadtheater, um Peter Stamm dabei zuzuschauen, wie er den diesjährigen Solothurner Literaturpreis entgegennimmt. 

Bevor irgendwer auf der Bühne das Wort ergreift, leitet der Virtuose Jaap van Bemmelen die Preisverleihung mit seinem Gitarrenspiel ein. Sehr viele geschwinde Noten tupft er impressionistisch über langsame Grundrhythmen. Das klingt nach stiller Melancholie nach einem betriebsamen Tag. Da möchte man grad im weissen Anzug oder Kleid in der abendlichen Strandbar nachdenklich an einem Cocktail nippen, es ist aber erst halb elf.

Nach mehreren Tagen dynamischer Vorträge kommt einem Walter Pretellis darauffolgende Rede wohl steifer vor, als sie ist. Dabei erzählt er durchaus Anregendes über das Verhältnis von, ja, Buchhaltung und Literatur. In beiden Sphären werde eine Differenz von «Soll und Haben», von «Soll» und «Ist», sprich: von Fiktion und Realität gedacht. In solchen Differenz- und Grenzgebiete von Realität und Fiktion bewege sich auch der Schriftsteller Peter Stamm. Ja, doch, warum auch nicht; das hat was.

In seinem Ehrenwort verdankt Kurt Fluri ganz ordnungsgemäss Sponsoren, Gönnern, Gemeinden, Amtsträgern, lässt dann aber auch politische Noten antönen und verweist auf Debatten über Bibliothekstantiemen und Urheberrechte. Nachdem er ganz generell eine Lanze für die Kulturförderung gebrochen hat, verweist er auf die gute Sache, nämlich den Verein der Freunde der Zentralbibliothek Solothurn, der sich gewiss über Unterstützung für die zweitgrösste nichtuniversitäre Bibliothek der Schweiz freue:

Peter Stamm polarisiere ja durchaus, sagt Nicola Steiner in ihrer Laudatio, um Vorwürfen zuvorzukommen, die Jury habe es sich ja arg leicht gemacht mit so einem etablierten Autor. «An dem scheiden sich die Geister». Aber sein Werk steche konsequent heraus: Lakonisch und rhythmisiert erzähle es immer wieder vom Leiden an der Langeweile und vom Traum von anderen, nicht gelebten Leben; es verwische so gleichsam die Grenze zwischen Fiktion und Realität.

Von Fiktionen und Realitäten handelt auch eine «Facebookanekdote», die sie nacherzählt. Nachdem sie Peter Stamm in einem Beitrag markiert hatte, erhielt sie als Antwort: «Liebe Nicola, wie immer in solchen Fällen lösche ich diese Markierung und ergänze: Ich bin nicht dieser Peter Stamm. Die Welt ist klein und so teilen wir uns einige Bekannte, auch im richtigen Leben. Ich mag Ihre Arbeit ganz gerne, würde aber verstehen (mit Bedauern), wenn dieser Vorfall unsere FB-Freundschaft beenden würde. Liebe Grüsse, Peter Stamm». Das ist ein wenig rätselhaft, trifft aber in dieser gerade nicht beherzten Entzugsbewegung wie zufällig etwas für die Arbeit von Peter Stamm ganz Grundsätzliches.

Existenzielle Situationen, so Steiner weiter, würden bei Stamm ganz ohne Pathos, gleichsam mit Achselzucken aufgelöst. Kein Frage- und Antwortspiel dürfe man von ihm erwarten, sondern ein Frage- und Fragespiel. Als Autor male er nur genauso viele Pinselstriche, wie nötig damit man Schemen erkennen könne.

Dann kommt er endlich selber auf die Bühne, die Hände in den Hosentaschen, den Blick im 45 Gradwinkel vor sich auf den Boden gerichtet, lässt er sich gratulieren und verschwindet auch sobald er kann wieder von der Bühne, als sei er tatsächlich direkt aus einem der eigenen Romane nur zufällig hierher geraten. Nachdem Jaap van Bemmelen noch einmal ein paar, diesmal beschwingtere, Takte vorspielt, tritt Peter Stamm wieder auf die Bühne. Eine Dankesrede hat er statt einer Lesung vorbereitet. Auch eine solche liest er aber gewohnt ruhig. Das Gegenteil von Atemlosigkeit, könnte man sagen, obwohl Peter Stamm ja, wie ich gehört habe, gerne raucht.

Er rekapituliert Figuren aus seinen Büchern, die sich von der Literatur und vom Lesen abwenden. «Sogar Musik kam ihm nur noch vor wie eine Ablenkung vom Wesentlichen». Er zweifelt an der Macht und Unsterblichkeit der Literatur: «Schreiben ist Nebensache, Lesen ist Nebensache.»

So könnte er anfangen oder auch abschliessen, führt er aus: Wie wäre es, wenn er jetzt endigen würde mit seiner Rede. Wenn einige langsam den Saal verliessen, andere noch warteten: «Vielleicht kommt ja noch was». «Eine Geschichte ganz ohne Personen». Nach diesem konjunktivischen Exkurs stellt er aber klar: Er wollte sich immer der Wirklichkeit stellen, ihr nicht entfliehen. Literatur könne die Wirklichkeit nicht ersetzen. Ein Hilfsmittel, die Wirklichkeit klarer zu sehen, sei sie vielmehr. «Das sehen kann sie uns aber nicht abnehmen.»

Er träumt vom von einer Geschichte ganz ohne Personen und Verstummen und denkt an ein Leben, das noch gar nicht stattgefunden hat. Kein gravitätisches Schweigen schwebe ihm dabei vor, sondern ein heiteres; eines im Sinne von Wittgenstein: «Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen».

Dann entlässt uns ein weiteres Stück von Jaap van Bemmelen. Er endet mit einem offenen, fast fragend klingenden Akkord. Auch mit diesem könnte man, meine ich, grad so gut anfangen wie aufhören. Ganz am Schuss, als die Leute schon rausspazieren, kommt Peter Stamm noch mal auf die Bühne und lässt sich comme il faut mit Blumenstrauss und Jury fotografieren. Er sieht immer noch ein wenig unbehaglich, fast verzagt aus. Diesmal lächelt er aber.

 

Home Office – Ein Plädoyer gegen das ECTS-Lamento

Bologna hat aus genuin wissbegierigen, intrinsisch motivierten Liz-Studierenden eine Horde geistloser ECTS-Trottel gemacht, die sich nur noch für eines interessieren: Punkte zählen. Damit wird jetzt aufgeräumt, denn an den Soloturner Literaturtagen sind wir Studierenden – man will es ja kaum glauben – freiwillig. Keine Leistungsnachweispeitsche, keine Punkte am Horizont, keine Wegabkürzung zum Masterdiplom. Kein Punktejunkie weit und breit. Obsessiv machen wir hier nur eines – schreiben. Essen, trinken, schlafen – wer braucht das schon? Wir jedenfalls nicht. „Mach ma’ Pause!“ Kein Mensch regt sich.
Nicht nur der Schlafentzug entlockt uns wiederholt ein müdes Gähnen, auch abgedroschene Studierendenklischees tun das. Und die Žižeks und Byung-Chul Hans könnt ihr im Übrigen auch wieder einpacken: das ist keine Ideologie-blinde Selbstausbeutung des Kulturprekariats unter dem Prätext der „Freiwilligkeit“. Was wir hier genau machen, darüber werden wir – zum Glück! – noch lange streiten, aber wieso wir tun, was wir tun, wissen wir ganz genau: Wir brennen für die Literatur. Echt jetzt. No money, no sex, no drugs – just words. Und trotzdem kriegen wir einfach nicht genug.

Tropenlyrik im Uferbau

Die Schlange vor dem Kino im Uferbau ist lang. Drinnen wird Raphael Urweider aus seinem neuen Gedichtband Wildern vorlesen. Die Tore öffnen sich und die Masse strömt hinein. Die Stühle im Publikum sind so begrenzt, dass sich Urweider und Moderator Gisi dazu bereit erklären, ihre eigenen an Zuschauer abzugeben. Sie selber nehmen am rechten Bühnenrand auf zwei anderen Stühlen Platz. „Sie dürfen sie besitzen, aber nicht mit nachhause nehmen“, meint Urweider zu den abgegebenen Sitzgelegenheiten. Es dauert ein bisschen, bis sich allgemeines Lachen im Publikum breitmacht. Die fast unerträgliche Hitze im Saal scheint sich auf die Übertragungsgeschwindigkeit der Synapsen auszuwirken.

Ungewöhnlich beginnt dann auch die Lesung. Es ist Urweider, der den Moderator vorstellt, und nicht etwa umgekehrt. Für solche formalen Regeln scheint sich der Lyriker wenig zu interessieren. Auch der Titel seines neusten Werks, das aus fünf Zyklen besteht, die von zwei Langgedichten umrahmt werden, ist kennzeichnend dafür. Ebenso die konsequente Missachtung der Gross- Kleinschreibung und die fehlenden Satzzeichen in den Texten. Das Bild der Gedichte sei ihm wichtiger, sagt Urweider. Er hätte auch nichts dagegen, wenn man diese an Wände von Hochschulen oder Tiefbauämtern anbringen würde. Ansonsten plädiert er dafür, dass man Gedichtbände am besten auf der Toilette aufbewahren soll. Dort könne man sich dann ein Gedicht mit entsprechender Länge für das jeweilige Vorhaben aussuchen.

Wenn man dem Folge leistet und auch Urweiders Wildern ebenda platziert, kann es sein, dass man plötzlich vom Örtchen an weit entfernte Orte gelangt. Der gesamte Band steht nämlich unter dem Motto „Alle Länder sind Träume“ von Gottfried Benn. Dieser Satz inspirierte Urweider. Eine Nation träume sich selber, ein Herrscher erträume sich sein Reich und der Tourist träume von seinem Ferienziel, erläutert er. Erträumt sich auch der Lyriker etwas von seinen Gedichten? Urweider wolle beim Schreiben vor allem etwas herausfinden. Dabei orientiere er sich mehr am Klang der Worte und an der inneren Logik der Texte. Interpretieren möchte er das Geschriebene lieber nicht.

Für die Interpretation ist dann wohl eher die Leserschaft zuständig. Das gefällt! Aber vielleicht sollten wir uns dafür an einen kühleren Ort begeben. Der Kinosaal hat sich mittlerweile so aufgeheizt, dass Urweider vorschlägt, man müsse hier eher Tropengedichte vortragen. Am Ende der Lesung werden freundlicherweise auch die Seitentüren des Kinos geöffnet, und die Zuschauer atmen einmal tief durch.

Dreisprachiger Ausflug nach Tel Aviv

Drei Leute sitzen bei der Lesung von Assaf Gavrons Roman Achtzehn Hiebe auf der Bühne. Und drei Sprachen klingen den Zuschauern dabei in den Ohren: Englisch, Deutsch und ein klein wenig Hebräisch. Auf Englisch wird das Gespräch mit Gavron geführt, Deutsch liest der Schauspieler Günter Baumann aus dem Roman vor, und mit Hebräisch entführt uns der Autor selbst nach Tel Aviv, den Schauplatz des vorgestellten Buches.

Assaf Gavron ist ein Mann mit vielen Talenten. Er ist Journalist, Videogame-Designer, schreibt Kolumnen als Falafel-Tester, arbeitet als Übersetzer und spielt in einer Band. Ganz nebenbei veröffentlicht er preisgekrönte Bestseller. Für diese Vorschusslorbeeren bedankt sich der Autor mit einem schelmischen Lächeln und meint, dass dies wohl das erste Mal sei, dass er zu 100% richtig vorgestellt wurde. Er liest daraufhin die letzte Seite seines Buches auf Hebräisch vor. Ein fremder, angenehmer Klang, den man ohne Angst vor Spoilern geniessen kann.

Auch Günter Baumanns Lesung kann man entspannt geniessen. Der Schauspieler füllt mit seinem kräftigen Bariton den ganzen Landhaussaal. Leider liest er nur aus dem ersten Kapitel „Taxi zum Friedhof“, in dem die Hauptfiguren eingeführt werden – man hätte ihm noch lange zuhören können.

Eine dieser Hauptfiguren ist Eitan Einoch, Taxifahrer in Tel Aviv. Er liebt es, seinen Gästen Geschichten von den Strassen zu erzählen, in denen sie zu ihm ins Auto steigen. Dabei fällt es ihm leicht, sie einzuschätzen. Er erkennt an ihren Stimmen, wann sie ungefähr geboren wurden, woher sie stammen, ob sie den Holocaust erlebt haben oder nicht. Auch seinen nächsten Fahrgast, eine alte Dame, ordnet er nach seinem Radar ein: eine typische Jeckin. Lotta Perl, so ihr Name, überrascht Eitan jedoch. Sie ist lockerer als erwartet, jünger als geschätzt und gibt unerwarteter Weise reichlich Trinkgeld. Fortan wird er sie täglich zum Friedhof fahren, bis sie eines Tages nicht mehr in sein Taxi steigt und Eitan zum Detektiv wird.

Ein typischer Detektiv-Roman ist Achtzehn Hiebe aber nicht. Eitan als Detektiv ist einer, der Fehler macht, der die Leser fehlinformiert, insgesamt ein unzuverlässiger Erzähler, der den Erkenntnissen, die man als Leser meist schon gemacht hat, zehn Seiten hinterherhinkt. Gavrons Wunsch war es ursprünglich, eine ganz neue Art von Detektiv-Geschichte zu schreiben, wo der Leser die Lösung kennt, der Detektiv hingegen zum Ende die falschen Schlüsse zieht. Das war ihm dann aber doch zu schwer umsetzbar. Die jetzige Form scheint ein Kompromiss zu sein.

Der Taxifahrer Eitan Einoch taucht nicht zum ersten Mal in einem Buch von Assaf Gavron auf. Deshalb auch die Frage, was zuerst da war: das Anliegen, das historische Thema der Mandatszeit aufzugreifen, oder der Wunsch eine Figur wiederzubeleben? Gavron meint, anfangs wollte er vor allem einen Text schreiben, der Briten und die Israelis verbindet. Seine Eltern emigrierten nach Israel, er hat aber Familie in England, studierte und lebte dort. Diese zwei Seiten haben nach Ausdruck gesucht. Gefunden hat Gavron sie im historischen Aufeinandertreffen von Briten und Israelis während der Völkermandatszeit. Er wollte zurückblicken auf diese Zeit mit Zeitzeugen, die es wohl nicht mehr lange geben wird. Doch da war diese Figur des Einoch, dessen Geschichte damals eher schlecht ausging. Was macht er heute, zehn Jahre später?

Dem Palästina-Konflikt kommt dabei eine bewusst untergeordnete Rolle zu. Gavron wollte nach eigener Aussage gerne etwas Leichteres, Spassigeres schreiben. Etwas, das sich unterscheidet von Romanen wie Auf fremdem Land, wo er sich diesem Thema zwar mit gewohnt leichtem Schreibstil aber auf eher ernste Weise nähert. Die ganzen Konflikte um Israel seien traurig, tragisch, schrecklich. Gleichzeitig seien sie aber eine literarische Goldmine, die für reichlich Stoff sorge. Dass er auch ausserhalb dieses Konfliktes fantastisch schreiben kann, hat Gavron mit seinem Roman Achtzehn Hiebe bewiesen.

 

Promenade à la Künstlerhaus

Si vous passez par la Schmiedengasse, vous tomberez sur une petite maison à la vitrine joliment décorée. Un personnage annonce dans une bulle : JARDIN. En poussant la porte de la Künstlerhaus, on découvre l’univers d’Albertine, entre ses fleurs aux couleurs vives et les longues créatures qui traversent ses dessins. Visite de l’exposition avec Agathe et Louise.
Au rez-de-chaussée, on découvre suspendus deux jardins séparés par un mur de briques : d’un côté, un homme tond sa pelouse impeccablement entretenue, de l’autre un jardin aux mille plantes colorées s’épanouit. Dans un autre cadre, un homme et une femme sont réunis dans une clairière : ils se regardent, la robe blanche se détache de l’ombre nocturne des arbres. Il y a chez Albertine cette attention à l’individu, cette écoute du personnage qui même au milieu de l’imagination foisonnante de l’illustratrice sort du décor et semble interpeller le spectateur. Plus loin, les fleurs et les végétaux se font plus rares, ce sont des étendues d’eaux monochromes, mais on y trouve toujours un homme, qui se baigne ou contemple, assis sur un rocher, ces espaces solitaires. Albertine elle-même affirme que son projet est né de cette volonté de placer ses personnages dans des postures méditatives, seuls face au monde, dans une attitude communicative de tranquillité et de réflexion. Et effectivement, on se prête à inventer des pensées aux petits hommes colorés, quand ce n’est pas toute leur vie.
Depuis les jardins d’Albertine, on emprunte l’étroit escalier qui craque pour se retrouver embarqué dans de bizarres rondes en noir et blanc qui rappellent l’univers de Jérôme Bosch. On se touche, on se serre, on se chevauche, l’homme aux bras-visages, dans le coin d’un cadre deux petits personnages enfantins étrangement reliés par une corde, là-bas une femme à trois têtes barbues. On traverse la salle en compagnie de ces êtres de cauchemar, à la fois effrayants mais d’une étrange familiarité qui nous les rendrait presque attachants. Ce sont toujours les détails qui attirent l’œil, des jeux décalés auxquels se prêtent certaines chimères jusqu’à la forme de leurs chaussures (il n’y en a pas deux semblables !).
On termine au troisième étage par une collection plus personnelle et hétéroclite, avec des portraits de Germano Zullo, des petits dessins qui se déplient des carnets de l’illustratrice, sur l’un la reproduction de la Vénus d’Urbin de Titien, sur l’autre la répétition de motifs abstraits bleu et rouge. La diversité des exercices présentés fait écho à l’œuvre d’Albertine, florissante, parfois surprenante, et dont l’originalité parvient toujours à trouver son chemin vers le spectateur. C’est avec regret que l’on quitte la charmante Künstlerhaus et son escalier poétique, encore un peu étourdies par cette promenade dans les jardins d’Albertine.

Agathe Herold & Louise Moulin

1:0 für den Tod – von Fussballspielen und ungewöhnlichen Anhaltern

„Kennsch s’Totemügerli ned?“ – „Jo hani mol einisch gläse, cha mi aber nüm erinnere“ – „Dasch da mit dene erfundene Wörter dinne, aaschnäggle und so“. So hört es sich an, wenn sich gefühlte hundert Leute auf engem Raum versammeln und auf Franz Hohler warten. „Dä het sich aber guet ghalte“, findet die Frau neben mir, als der Autor die Bühne betritt. Entgegen den Erwartungen liest er nicht aus seinem neusten Roman Das Päckchen. Er beginnt mit einem Gedicht über das Älterwerden, über Medikamente auf dem Frühstückstisch, das Einnicken über Büchner, Brecht und Shakespeare, aber auch über die Zuversicht, die der Blick seiner neugeborenen Enkelin mit sich bringt. Gegensätze bringt er auch in seinen Kurzgeschichten zum Ausdruck. Diese handeln zum Beispiel vom Fussballspiel zwischen Leben und Tod, das sowohl 0:1 endet als auch im Fazit, dass wir Lebenden wohl alle etwas mehr zusammenhalten müssen. Das Ende seiner Erzählung vom Teufel als Autostopper – tatsächlich ist es Jesus, der den ungewöhnlichen Anhalter mit nach Rom nimmt, da der Papst ja an keinen von ihnen beiden mehr glauben würde – überrascht das Publikum und erntet einige Lacher.

Franz Hohler verbindet aber nicht nur scheinbare Widersprüche mit überraschenden Pointen. Er verweist auch auf Autoren, die ebenfalls in diesem Jahr in Solothurn gastieren. Die Spannweite der Gegenwartsliteratur, wie sie hier präsentiert würde, sei enorm. Sie reiche von Robert Prossers Debütroman über „alles Elend der Welt“ bis hin zu Gion Mathias Caveltys „irrem non-sense-Text“. Diese Seitenblicke münden in die Frage, die heute alle zu beschäftigen scheint: Was ist Literatur? Und vor allem: Was kann Literatur? Hohler beantwortet diese Frage mit seiner nächsten Erzählung: In einem Halbkreis sitzen einige Kinder um eine Dichterin, welche ihnen die Geschichte eines Kindes erzählt, das glaubt, ein Feuer im Garten zu sehen. Ein 3-jähriger Junge rennt daraufhin zum Fenster, um dieses Feuer zu sehen und verpasst dabei den ganzen Rest der Geschichte. Diese Fortsetzung brauchte er aber gar nicht, konnte er sich doch bereits alles vorstellen, die Geschichte füllte seinen Kopf und erwärmte sein Herz. Ob das auf die Literatur im Allgemeinen appliziert werden kann, sei dahingestellt. Dem langen Applaus nach zu urteilen, hat zumindest Hohlers Geschichte beim anwesenden Publikum genau diese Wirkung erzielt.

Text im Entstehen

Das Format der Textwerkstatt wurde vor zwei Jahren aus dem Wunsch einiger Autoren gegründet, ihre Texte nicht nur beim Bier zu besprechen, wie es Moderator Donat Blum ausdrückte, sondern dies auch in einem passenden Rahmen zu tun. Offenbar weckt dieses Anliegen beim Publikum genauso grosses Interesse; die Veranstaltung war derart gut besucht, dass viele Zuschauer schliesslich auf dem Boden sassen oder sich an die Wände lehnten. Es scheint ein Bedürfnis unter den Literaturinteressierten zu bestehen, die Texte nicht bloss in ihrer fertigen Form präsentiert zu bekommen, sondern auch in ihr Entstehen Einblick zu erhalten.

Besprochen wurde ein unveröffentlichter Text von Rebecca Gisler, zu dem sich die anderen Teilnehmenden äussern durften. Mit dabei waren: Judith Keller, Robert Prosser, Adam Schwarz, Noemi Somalvico und Verena Stössinger.

Dem zu Anfang getroffenen Vorsatz nicht als Kritikerrunde aufzutreten, sondern als Schreibende, wurde das Sextett jedoch nicht ganz gerecht. Obwohl sogar scharfe Kritik durchaus wohlwollend und fair vorgebracht wurde, hätten wir uns gewünscht zu erfahren, wie die anderen Autoren und Autorinnen ihre Kritik denn im Text konkret umgesetzt hätten. Vielleicht blieb aber bei der Länge des Textes und der Grösse der Runde schlichtweg keine Zeit dafür.

Etwas verloren wirkte manchmal die Autorin selbst, die sich sehr vieles anhören musste, aber kaum Gelegenheit geboten bekam, darauf einzugehen und ihr Werk mit dem Schreibprozess in Verbindung zu bringen. Gegen Ende wurde dann die Diskussion für das Publikum geöffnet, das von dieser Möglichkeit regen Gebrauch machte und unerschrocken seine Kritik kundtat.

Julia Sjöberg, Sascha Wisniewski

 

 

Die Stille der Verlierer

Was passiert, wenn Woyzeck von der Bühne steigt, am Berner Hauptbahnhof an Sie herantritt und fragt: „hesch mer eh Stotz?“ Diese Frage, die das Verhältnis von sozialer Wirklichkeit und Literatur reflektiert, führt mitten ins Zentrum der Podiumsdiskussion „Die Stimme der Verlierer“. Geladen waren Corina Caduff, Anja Kampmann, Pedro Lenz und David Signer.

Der Moderator Lucas Gisi eröffnete das Podium mit der Formulierung eines Zweifels: „Wen meinen wir eigentlich, wenn wir von Verlierern reden?“ Caduff machte den Anfang mit einer weiteren Frage: Wer beschäftigt sich eigentlich mit den Verlierern? Dies sind vor allem SozialarbeiterInnen, PolitikerInnen und eben auch AutorInnen. Verlierer seien Menschen, die auf verschiedenen Ebenen Kränkungen erleben: Am Arbeitsplatz, aufgrund ihres Aussehens, ihres Geschlechts oder ihrer Herkunft. Es seien jedoch hauptsächlich die ökonomischen Verhältnisse einer Person, die darüber entscheiden, ob diese zu den Verlierern zählt oder nicht. Die Grundlage jeder Kränkung bilde das Bedürfnis nach Anerkennung, dessen Mechanismen in kulturellen, psychologischen wie auch ökonomischen Kontexten greife, fügte Gisi an. Sowohl Anerkennung als auch Kränkung verlangen nach einem Anderen und prägen Selbst- wie Fremdbild. David Signer warf ein, dass auch die Kategorie „Verlierer“ eine Fremdzuschreibung ist, die vom Selbstbild divergieren kann. In Dakar beispielsweise erzählte ihm ein Mann mit stolzer Brust, im Marketing tätig zu sein. Tatsächlich aber schnallte er sich lediglich einen Bauchladen um die Hüfte. Interessanterweise würden sich die SchweizerInnen, die in globalökonomischer Hinsicht zu den Bessergestellten gezählt werden können, oft als Opfer wahrnehmen. Der Begriff des Verlierers lässt sich somit nicht objektivieren, sondern variiert in Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive.

Kann die Literatur also einen genuin eigenen Blick auf die Verliererfigur anbieten? Lenz sieht seine Aufgabe als Schriftsteller darin, das Selbstverständnis von Verliererfiguren narrativ zu artikulieren. Die Verlierer wollen, dass man ihr Leben beschönige, so Lenz. Signer widersprach dem vehement. In der Idealisierung von Verliererfiguren liege eine grosse Gefahr, die Literatur allein auf maximale Rührung, Effekthascherei und Publikumswirkung auszurichten. Erwartungen zu bedienen, sei unredlich. „Hilfswerksprosa“, die Menschen in ihrem Gutmenschtum suhlen lasse, sei definitiv keine erstrebenswerte Literaturform. Diese ziele auf eine heuchlerische Form des Mitleids, die mehr Selbstbeweihräucherung als ehrliche Empathie sei. Ausserdem verberge eine solche pseudo-empathische Idealisierung von Verliererfiguren deren eigentliche Ausbeutung für ökonomische Zwecke.

Es stellte sich heraus, dass Funktion und Anspruch der Literatur eng verknüpft sind. Anja Kampmann plädierte für Empathie und Ernsthaftigkeit in der literarischen Auseinandersetzung mit Figuren am Rande der Gesellschaft. Man müsse diese Wirklichkeit erfahrbar machen, ohne diese zu idealisieren oder zu verurteilen, was die Reflexion der eigenen Position und eine klischeefreie Darstellung fordert. Je weiter die Lebenswelten auseinanderlägen, umso grösser sei die Verpflichtung, genau hinzuschauen, ergänzte Signer. Ausserdem, schloss Caduff, liege das eigentliche Potential der Literatur darin, die soziale Wirklichkeit durch ein Reservoir an Geschichten, die wir in die Welt hinaustragen, wirksam verändern zu können.

In einem Punkt waren sich die AutorInnen einig: Um diese darstellerischen Ansprüche umzusetzen, ist die Herausbildung einer differenzierten Vorstellungskraft vonnöten. Die Öffentlichkeit müsse den Literaten ein ausreichend ausgeprägtes Empathievermögen zutrauen. Wenn man nicht über den Tellerrand schaue, habe man am Schluss nur noch einen faden Brei von Autobiographien und Memoiren. Als Medium der Fiktion zeichnet sich die Literatur durch die Möglichkeit aus, Sprache nicht nur nachzuahmen, sondern auch erfinden zu können. Durch Variation von Klangfarbe, Rhythmus und Akzentsetzung kann die Literatur dem Verlierer tatsächlich eine eigentümliche Stimme geben. So wird die ästhetische Form notwendigerweise zur Erzählung und fügt der Darstellung etwas hinzu, das mimetischen Abbildungsverfahren entgeht.

Literatur, das ist ein feines Austarieren von Verfehlen und Erfassen der sozialen Wirklichkeit. Gelingt diese Gratwanderung nur dann, wenn die Erfahrung der Literaturschaffenden sich mit ihrem Erzählten deckt? Der Schriftsteller als Verlierer – ein altbekannter Topos. Doch das Künstlerprekariat, führte Caduff aus, unterscheide sich grundlegend von anderen Prekariatsformen: Ersteres sei frei gewählt, letzteres nicht. Da runzeln wir die Stirn. Wird hier nicht ausgeblendet, dass das prekäre Schriftstellerdasein eine Folge sozioökonomischer Verhältnisse ist und keine naturgegebene Notwendigkeit darstellt?

Es war Corina Caduff, der es zum Schluss der Veranstaltung gelang, die Reflexion um eine entscheidende Dimension zu erweitern. Wem steht die Deutungshoheit über Gewinner- oder Verlierersein überhaupt zu? Unweigerlich wurde damit die Legitimation dieser Podiumsdiskussion infrage gestellt und geriet somit selbst unter Verdacht, Verlierer für andere Zwecke zu instrumentalisieren. Leider bildete dieses Verdachtsmoment auch den Schlusspunkt der Veranstaltung. Dabei müsste gerade hier weitergedacht werden, führt diese Selbstreflexion doch direkt an die Wurzel der Soloturner Literaturtage selbst: Wieso kann „der Verlierer“ an diesem Podium nicht selbst für sich sprechen und bleibt ein Abwesender? Welche Formen müssten Kulturveranstaltungen wie diese Literaturtage annehmen, um die Woyzecks der Welt anzusprechen? In genau diesen Fragen zeigt sich das Potential und die Notwendigkeit der Literaturkritik.

Fabienne Suter, Shantala Hummler, Simon Härtner