Tropenlyrik im Uferbau

Die Schlange vor dem Kino im Uferbau ist lang. Drinnen wird Raphael Urweider aus seinem neuen Gedichtband Wildern vorlesen. Die Tore öffnen sich und die Masse strömt hinein. Die Stühle im Publikum sind so begrenzt, dass sich Urweider und Moderator Gisi dazu bereit erklären, ihre eigenen an Zuschauer abzugeben. Sie selber nehmen am rechten Bühnenrand auf zwei anderen Stühlen Platz. „Sie dürfen sie besitzen, aber nicht mit nachhause nehmen“, meint Urweider zu den abgegebenen Sitzgelegenheiten. Es dauert ein bisschen, bis sich allgemeines Lachen im Publikum breitmacht. Die fast unerträgliche Hitze im Saal scheint sich auf die Übertragungsgeschwindigkeit der Synapsen auszuwirken.

Ungewöhnlich beginnt dann auch die Lesung. Es ist Urweider, der den Moderator vorstellt, und nicht etwa umgekehrt. Für solche formalen Regeln scheint sich der Lyriker wenig zu interessieren. Auch der Titel seines neusten Werks, das aus fünf Zyklen besteht, die von zwei Langgedichten umrahmt werden, ist kennzeichnend dafür. Ebenso die konsequente Missachtung der Gross- Kleinschreibung und die fehlenden Satzzeichen in den Texten. Das Bild der Gedichte sei ihm wichtiger, sagt Urweider. Er hätte auch nichts dagegen, wenn man diese an Wände von Hochschulen oder Tiefbauämtern anbringen würde. Ansonsten plädiert er dafür, dass man Gedichtbände am besten auf der Toilette aufbewahren soll. Dort könne man sich dann ein Gedicht mit entsprechender Länge für das jeweilige Vorhaben aussuchen.

Wenn man dem Folge leistet und auch Urweiders Wildern ebenda platziert, kann es sein, dass man plötzlich vom Örtchen an weit entfernte Orte gelangt. Der gesamte Band steht nämlich unter dem Motto „Alle Länder sind Träume“ von Gottfried Benn. Dieser Satz inspirierte Urweider. Eine Nation träume sich selber, ein Herrscher erträume sich sein Reich und der Tourist träume von seinem Ferienziel, erläutert er. Erträumt sich auch der Lyriker etwas von seinen Gedichten? Urweider wolle beim Schreiben vor allem etwas herausfinden. Dabei orientiere er sich mehr am Klang der Worte und an der inneren Logik der Texte. Interpretieren möchte er das Geschriebene lieber nicht.

Für die Interpretation ist dann wohl eher die Leserschaft zuständig. Das gefällt! Aber vielleicht sollten wir uns dafür an einen kühleren Ort begeben. Der Kinosaal hat sich mittlerweile so aufgeheizt, dass Urweider vorschlägt, man müsse hier eher Tropengedichte vortragen. Am Ende der Lesung werden freundlicherweise auch die Seitentüren des Kinos geöffnet, und die Zuschauer atmen einmal tief durch.