KW19

Spiel und Verderben

Dragica Holzner

Matthias A.K. Zimmermann ist Medienkünstler und am ehesten für seine farbenfrohen und detailreichen Acrylmalereien bekannt. Er nennt diese «Modellwelten» und experimentiert darin mit virtuellen Realitäten, Gamingelementen, Science-Fiction und Märchenmotiven. In seinem Debütroman Kryonium erkundet er seine Modellwelten nun literarisch. Im Mittelpunkt steht dabei die Faszination des Spielens.

Von Judith Manon Rehmann
4. Mai 2020

Sie kennen das bestimmt aus ihrer eigenen Kindheit: Wenn wir spielen, treten wir für einen Moment aus unserem alltäglichen Leben heraus. Im Bann des Spiels vergessen wir schnell einmal alles, was um uns herum passiert. Die Freude am Spielen ist genauso spannungsvoll wie ernsthaft. Anfang und Ende des Spiels sind markiert, und für die Zeit dazwischen gehört die Monotonie des Alltags einer komplett anderen Realität an. Klingt ganz schön verheissungsvoll, oder?

Das findet auch die Heldin in Matthias A. K. Zimmermanns literarischen Erstlingswerk Kryonium. Und das, obwohl sie zu Beginn des Romans glaubt, in einem Spiel gefangen zu sein und aus diesem auszubrechen versucht: Sie plant ihre Flucht zurück in eine vage Erinnerung an einen Alltag. Doch sieht sie sich im entscheidenden Moment der Frage gegenüber, was Alltag und Spiel überhaupt trennt – und ist nicht eines von beidem hinreissender als das andere; das Spiel fantastischer als der öde Alltag?

Zum Autor

Matthias A. K. Zimmermann, geboren 1981 in Basel, aufgewachsen im Aargau. Er studierte Komposition/Musik (HKB), Kunst & Vermittlung (HSLU), Game Design und Art Education (ZHdK) sowie Pädagogik (EHB). Zimmermann ist als Maler, Medienkünstler und Autor tätig. Mit «Kryonium» legt er seinen Debütroman vor.

Damit wirft Matthias Zimmermann die Frage auf, wo die Grenze zwischen Spiel und Realität liegt. Was ist der Sinn des Spiels und welche Bedeutung hat dieses für den Alltag? Tatsächlich gibt es Theorien, die besagen, dass Alltag und Spiel gar nicht so verschieden sind: Kultur und Spiel seien nahe miteinander verwandt, wenn nicht untrennbar ineinander verwoben. Traditionen, Riten, Konventionen, Gebräuche und Gesetze – in gewisser Hinsicht alles nur Spielregeln, die wir befolgen, um als Gesellschaft halbwegs funktionieren zu können. Den Fragen nach Sinn und Wert des Spiels wohnt also ein kulturphilosophisches Potential inne. Darum ist es schade, dass es Zimmermann verpasst, dieses Potential auszuschöpfen.

Wie in seinem künstlerisch-multimedialen Schaffen experimentiert Zimmermann auch in seinem ersten Roman mit virtuellen Realitäten, Science-Fiction und Märchenmotiven. In Kryonium erkundet er solche Modellwelten sprachlich. Und genau darin mag das Problem des Künstlers liegen: Mit der Sprache verfehlt er sein Medium. Zimmermann denkt zu sehr in Bildern und Bewegung. Er beschreibt seine Vorstellungsbilder in seinem Roman minutiös, akribisch genau – zu genau.

Geradezu plakativ hält Zimmermann seinem Lesepublikum den Sinn seiner Erzählungen vor. Jedes Symbol, jede Metapher wird erklärt – in unübersehbarer Kursivschrift: «Etwa der Schneemann und Dr. Schreiber, die ihren Intellekt und ihre Reflexionsgabe repräsentierten; das Schaukeleinhorn und der riesige Frosch, die ihre Empathie und Hilfsbereitschaft wiedergaben; der Zauberer, der Sinnbild ihres Mutes und ihrer Entschlossenheit war» – das geht so weiter von den Wachen und Pflegern zur allwissenden grossen Eule, über das Schloss zur Psychiatrie. Dieses Übermass an Erklärungen verdirbt einem das Spiel. Zimmermanns Beschreibungen lassen keine Zwischentöne zu. Dem Lesepublikum überlässt der Autor fast nichts mehr zum Nachdenken: Er beantwortet alle Fragen, die sich im Verlaufe der Handlung stellen, prompt selbst – und wirkt dabei bestenfalls pseudophilosophisch.

Lieber Falschspieler als Spielverderber: Spielregeln zu brechen ist immer noch besser als dem Spiel seine Illusion zu nehmen. Dies aber passiert, wenn mehr Fokus auf der Ausformulierung der Regeln als dem Spielen selbst liegt. So versucht Zimmermann mit Kryonium zwar einen Roman über das Spiel und dessen Reiz zu schreiben, bleibt aber bei der Spielanleitung stehen. Und diese eliminiert nicht nur jeglichen Diskussions- und Interpretationsspielraum, sondern vernichtet auch jede Neugier und Lust auf die Entdeckung von Zimmermanns doch eigentlich lustvoll erdachten Welten.

Matthias A. K. Zimmermann: Kryonium. Die Experimente der Erinnerung. 324 Seiten. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2019, ca. 24 Franken.

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