Hommage an die vergessenen Held*innen einer stillen Revolution

Sagt Ihnen der Name Martin Disteli etwas? Könnten Sie Heinrich Zschokke in seinem historischen Kontext verorten? Oder wüssten Sie, weshalb Augustin Keller als Protagonist in einem der wichtigsten Fortschrittkämpfe der Schweiz gilt? Vielleicht beantworten Sie alle diese Fragen mit einem verlegenen Nein. Dann geht es Ihnen ähnlich wie mir vor der Veranstaltung Revue einer Revolution. Der thematische Rahmen dieser Veranstaltung bildet das 2021 erschienene Sachbuch Projekt Schweiz. Vierundvierzig Porträts aus Leidenschaft, das eben diese und 41 andere vergessene Akteur*innen der stillen Schweizer Revolution ins Rampenlicht stellt.

Die Schweiz als Schauplatz einer Revolution –  mittendrin ihre Revolutionär*innen, die alle auf ihre Art massgeblich zum Fortschritt beigetragen haben. Fragwürdigerweise sind so einige dieser Namen nicht im kollektiven Wissen des Schweizer Durchschnittbürgers vertreten. Diesem «Problem» haben sich Stefan Howald, Bettina Eichin, Hans-Ulrich Jost, Jo Lang, Lucien Leitess und Matthias Zschokke angenommen. Daraus entstand ein umfangreiches und ambitioniertes Projekt, das sie dem Publikum am Freitagabend vorgestellt haben. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Projekt Schweiz bildet 44 Schweizer Persönlichkeiten ab, die alle zur Entwicklung einer modernen und fortschrittlichen Schweiz beigetragen haben. Darin finden sich sowohl historische Analysen, Essays aber auch Illustrationen und zeitgenössische Porträts. Ein Anliegen des Projektes war es insbesondere auch – und das hebt Herausgeber Stefan Howald in seiner festlichen Vorrede hervor –, subjektive, persönlich gefärbte Porträts abbilden zu können, eben Porträts aus Leidenschaft, so der Titel. Gerade das ist es, was dem Buch seinen besonderen Charakter verleiht.

Nicht nur im Buch, sondern auch bei der Vorstellung des Projektes am Freitagabend kam diese persönliche Bindung zwischen Persönlichkeit und Porträtist besonders zum Tragen. Auf der Bühne in der Säulenhalle Solothurn stellten uns fünf von den insgesamt vierundvierzig Porträtisten ihre Beschäftigung mit ihren persönlichen Schweizer Held*innen vor. Einen Einblick boten die fünf nicht nur in ihre minutiöse wissenschaftliche Recherche, sondern liessen auch ihre emotionale Bindung zu den Figuren durchblicken. So wurde das Publikum mitgenommen auf eine bewegende Reise zwischen erster Berührung und totaler Hingabe für ihre Held*innen. Für den Glanzpunkt der Veranstaltung sorgte Bettina Eichin, die Leben und Wirken von Sibylle und Peter Ochs vorstellte – mit Blick auf die sozialen und politischen Errungenschaften, aber auch mit mahnendem Ton, diese Errungenschaften heute nicht zu vergessen. Die Revolution sei ein fortlaufender Prozess, der bis heute bestehe und nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart geschieht. Ein wenig Pathos und Moral waren hier genau am richtigen Platz.

Auch wenn an diesem Abend «nur» fünf der insgesamt vierundvierzig Porträts gezeigt werden konnten, wurde das verfolgte Ziel des Projektes erreicht. Wohl so manche*r Besucher*in verliess die Veranstaltung mit neuem (oder aufgefrischtem) Wissen zur Schweizer stillen «Revolution», die eben auch als Projekt verstanden werden kann. Eine moderne Schweiz, die sich öffnet und nicht gegen aussen abschliesst. Projekt Schweiz gibt diesen Errungenschaften richtigerweise seine Bühne, denn «was ist schon von einem Land zu halten», so der Herausgeber, «das so mit ihren grossen Figuren umgeht, die an dessen Wiege standen?»

Eine müde Revolution

Das Anliegen hätte definitiv seine Relevanz gehabt. So wollten vier Historiker und Autoren und eine Bildhauerin fünf Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte beleuchten und dabei zeigen, wie diese zu einer liberaleren, weltoffeneren Schweiz beigetragen und ihre heutige Existenz mitgeformt hatten. Doch erwischten sie einen denkbar schlechten Zeitpunkt, um dieses Anliegen dem Publikum vorzutragen – am Freitagabend war die Luft bei vielen draussen.

Aber von Anfang an: Letztes Jahr gab Stefan Howald, der ebenfalls der Moderator der Veranstaltung war, ein Buch heraus, das 44 Persönlichkeiten der Schweizer Geschichte näher betrachtete. 44 Autor:innen schrieben Porträts zu Personen, die einen wichtigen Einfluss auf eine liberale Schweiz hatten, die aber heute oft fast vergessen sind. Fünf davon wurden am Freitagabend unter dem Titel Revue einer Revolution vorgestellt, wobei alle einen Bezug zur Bundesverfassung von 1848 hatten. So erfuhr man etwas über den Maler Martin Disteli, der mit seinen Jahreskalendern politische Botschaften verteilte, oder über Ignaz Paul Vital Troxler, dessen Auseinandersetzung mit den USA massgeblich die Entwicklung des Schweizer Politsystems prägte.

Viele Leute schien all dies eher mässig zu interessieren. Vielleicht war es die Sonne, vielleicht ein erstes oder zweites Glas Wein, doch gerade in den hinteren Reihen wurde schon das ein oder andere Auge zugetan. Auch verliess eine nicht unerhebliche Menge die Veranstaltung eher früher als später, und sogar beim älteren Publikum scheint es mittlerweile salonfähig zu sein, kurz mal einen Anruf entgegenzunehmen, auch wenn man gerade an einer Lesung ist.

Ein Highlight gab es jedoch: Die Bildhauerin Bettina Eichin verzichtete in ihrem Teil auf eine nüchterne Wiedergabe dessen, was bereits im Buch steht, und lieferte stattdessen ein fulminantes Plädoyer gegen einen enthemmten Liberalismus, der sich von einem früheren Freiheitsbegriff völlig entfremdet hat. Dem entgegen stellte sie den Frieden, der für sie der Begriff sozialen Zusammenlebens ist und für den es alle Teile der Bevölkerung und daher massgeblich auch die Frauen braucht; denn «eine Revolution ist fällig, aber kein blutiger Umsturz.»