KW14

Immigration der fragmentierten Kadaver

Philippe Rahmys Avantgarde aus Fleisch und Blut gelingt mit einer so sensiblen wie eruptiv expressiven Sprache mehr als nur die Psychologie eines Rucksackbombers.

Von Severin Lanfranconi
4. April 2022

Allegra – Der Roman grüsst auf Rätoromanisch und fordert im wortwörtlichen Sinn dazu auf, glücklich zu sein. Will man sich beim Titel in den wohligen Heim- und Fernweh-Blues à la Camenisch-loopstation einschaukeln, ist man bereits aufs Glatteis geführt – durchaus kalkuliert: «Allegra» heisst in diesem Roman die neugeborene Tochter des jungen, algerisch-arabischen Ich-Erzählers Abel, einem nach London emigrierten Trader. Innerlich zerrissen und Alkohol-rückfällig würde er sich «am liebsten von einem Glücksgenerator neu zusammensetzen lassen.» Abels britische Freundin Lizzie hat sich den Namen «Allegra» für die gemeinsame Tochter gewünscht, weil er sie an ihre Zeit als Au-pair-Mädchen in der Schweiz erinnert, an den Gruss von «Menschen, die sich auf einem Bergweg unter freiem Himmel begegnen.» Das ist es aber bereits mit den Helvetika. Dennoch – oder gerade wegen dieser stilistischen, vermeintlich unscheinbar neutralen Enthaltung – hat der Roman, der nicht nur Islamismus, Terror und Islamophobie, sondern auch Migration, Rassismus und Ideologie im Allgemeinen reflektiert, mit der gegenwärtigen Schweiz zu tun.

Zum Autor

Philippe Rahmy, geb. 1965 in Genf, studierte Ägyptologie (Paris), Literaturwissenschaft und Philosophie (Lausanne). Er war Redaktor bei remue.net, einer Internetplattform für Literatur, experimentierte mit Formen des gemeinschaftlichen Schreibens und arbeitete in interdisziplinären Projekten. Sein literarisches Debüt «Mouvement par la fin» veröffentlichte er 2005. Rahmy publizierte international, so etwa in Frankreich, Italien, Amerika, China. Seine Gedichte und Romane wurden vielfach ausgezeichnet, darunter der Prix des Charmettes/Jean-Jacques Rousseau für «Mouvement par la fin» (2006). «Allegra» wurde mit dem Schweizer Literaturpreis (2017) und dem Prix Eugène-Rambert (2016) prämiert. Philippe Rahmy verstarb am 1. Oktober 2017.
Foto: © Yvonne Böhler

Zerbröckelnde Realität

Zumindest für Abel ist Lizzies Glück und Freiheit versprechende Idylle des Bündner Hochtals, der Mythos der Schweiz als Sehnsuchtsort ein ebenso verheissungsvolles wie brüchiges Inselfragment, das ihn stets kühl abweisend auf Distanz hält: Lizzie hat ihn aus der Wohnung geworfen und verweigert ihm strikt, Allegra in den Händen zu halten. Etwas Unverzeihliches, ahnt Abel, muss er Lizzie angetan haben; er versucht zu verstehen, sich zu erinnern, immer wieder vergeblich. Ausgelöst vom Grübeln vermengen sich Abels trümmerhafte Kindheitserinnerungen an bereits frühes und mehrfaches Ausgeschlossensein mit jenen an die Arbeit bei der Jagd und Metzgerei seiner Eltern. Schliesslich hatte auch Lizzie ihm seine Herkunft oft halb-ironisch vorgeworfen (« … lass die Finger von einem Araber!»). Die Erzählfetzen über Abels kriegstraumatisierten Vater, über den Grossvater, der gefoltert wurde (wahrscheinlich während den algerischen Bürgerkriegen 1991), zersetzen die blutigen Tag- und Nachtalbträume über misshandelte, sterbende, tote und gefrorene Tiere und Menschen: «Als bruchstückhafter Muslim trete ich immer wieder als Statist neben getöteten, ausgeweideten Tieren auf, deren Qualen ich nicht ergründen kann.» Abel selbst torkelt wie ein lebendiger Toter durch das London der Vorbereitungsphase für die Olympischen Spiele 2012: «Ich bin ein Muslim, wie Frankensteins Monster vielleicht ein Mensch war.» Das wahn- und rauschhafte Sich-selbst-Erzählen der diffus brutalen Herkunfts-«Legende», die Imagination und Phantasie überlagern Abels Wahrnehmungen der Alltagsrealität, bis man selbst als Leser*in in den letzten Kapiteln zusehends das Vertrauen in diesen Erzähler verliert. Abels Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit Lizzie und Allegra schwindet, aus der Juke-Box singen die Cranberries «Zombie … Zombie».

Écriture fragmentaire

Was in Allegra die Referenzen auf historische Realität aufreisst (zum Beispiel auf die Londoner Bus-Attentate 2005), sprengt sie zugleich nicht, sondern hält sie in der Spannung eines prä-detonativen Vakuums: Rahmys in den frühen lyrischen Bänden geschulte Sprache der écriture fragmentaire entfaltet hier ihre volle Wucht. Die bedrohliche Metaphorik der sich zersetzenden Körper, vom lebendigen Fleisch bis zur abgestorbenen Materie, ist der diffuse halbbewusste Untergrund, der Abel omnipräsent und unergründlich zugleich quält: Abels inexistente Herkunft, ein schreiender «Phantomschmerz», an den keine Zukunft anzusetzen vermag; als «Mörder ohne Motiv», fremdgelenkt und nur der «Mystik der willkürlichen Tat verfallen» betritt Abel die Olympiaden-Eröffnung, die Bombe mit im Gepäck.

Die Treue zum Bruch

Der Roman schärft seine poetische Kraft, je öfter man ihn liest, wird ganz zum literarischen Schmelztiegel der kriegstraumatischen Horrorszenarien von Orient, Okzident und Afrika. Für gewalt- und schmerzvolle Politika wie religiöser Fanatismus, Terror, Kolonialismus, Migration und westliche Dekadenz muss man den Durchgang durch Rahmys ebenso komplexe wie kompromisslose literarische Form der kühnen assoziativen Ähnlichkeiten und gebrochenen Sinnverbindungen wagen. Dies zeigt sich nur schon in der heterogenen Reihung der Schauplätze: Zoo, Schaufensterpassage, Muslim-Viertel, Million Mask March, Migrantenhotels usw. Was im Einzelnen zu Bilderscherben von Islamismus und Islamophobie gerinnt, löst sich im Grossen auf in der diffusen Bedrohung, der explosiven ideologischen Gewalt, der sozialen Paranoia vor fremder, unbestimmter Aggression. Die literarische Pointe, dies alles durchzustehen, um letztlich die Hoffnung auf das Verantwortungsbefreite, das Glück im Einfachen des Komplexen zu erfüllen, daran glaubt der Roman nicht und bleibt damit seiner entschieden gehaltvollen Ästhetik treu: Das alltägliche Klein-Klein und seine so oft unberechenbar kontingent erscheinenden Verknüpfungen mit dem Weltumspannenden entlasten Abel nicht, trotzdem eine Entscheidung treffen und Verantwortung übernehmen zu müssen. Er nämlich wählt zuletzt nach einem kurzen Moment unerhörter Selbst- und Welteinsicht – und das ebenso entschieden – den Selbstbetrug. Er redet sich ein: «Und schon hat mich der banale Alltag eingeholt.»

Philippe Rahmy: Allegra. 192 Seiten. Biel: verlag die brotsuppe 2022, ca. 29 Franken.

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