KW26

Class Of ’17

Lukas Bärfuss

Mit einem dreitägigen Literaturfestival feiert das Schweizer Literaturinstitut, für einmal in Bern statt in Biel, sein zehnjähriges Bestehen. Das «fESTIVAL Littéraire» wurde eröffnet von den frisch diplomierten Absolventinnen und Absolventen, die Auszüge aus ihren Abschlussarbeiten lasen.

Von Simon Leuthold
26. Juni 2017

Fest und Vorurteil

Was für Texte sind von jungen Menschen, die soeben einen Bachelorabschluss in literarischem Schreiben erworben haben, zu erwarten? Ist da die neue literarische Avantgarde am Werk? Wird wiedergekäut, was die Grossen schon vor Jahren erfolgreich zu Papier gebracht haben? Sind experimentelle Texte zu erwarten, oder doch eher solide Genreliteratur? Wird es ein Abend der anstrengenden, der angenehmen, der angestrengten oder der leichtfüssigen Texte werden?

Räumen wir zunächst ein grosses Vorurteil aus dem Weg. Es ist zwar richtig, dass die einzige Hochschule der Schweiz, die kreatives Schreiben lehrt, sich als Literaturinstitut bezeichnet und lediglich eine recht überschaubare Anzahl von gut etablierten Dozierenden beschäftigt. Die Gefahr, dass unter diesen Rahmenbedingungen Texte von immer ähnlichem Format produziert werden könnten, besteht durchaus. Doch schon nach der Hälfte der Lesungen an diesem Abend ist klar, dass dieser Schluss nicht zutrifft: Die Vielfalt der Stile und Textgattungen, die da präsentiert werden, ist fast eben so gross wie die Zahl der Vortragenden. Deutsche Romanausschnitte folgen auf französische Lyrik, eine humoristische Gebrauchsanweisung zu Genderfragen trifft auf einen Mix aus Epik und Drama zum drängenden Thema der Not. Von einem hohen Mass an Institutionalisierung kann keine Rede sein. Das zeigt sich auch am Ende der feierlichen, selbstverständlich bilingualen Zeugnisverleihung, als die gerade Diplomierten zaudern, ob nun zu sitzen oder zu stehen wäre. Einen schlechten Eindruck macht das aber keineswegs, ganz im Gegenteil. Das Publikum schmunzelt, und von allen fällt etwas von der Anspannung ab, die durch die Hitze und die sakrale Kulisse in der Kapelle des Burgerspitals noch verstärkt wurde.

Das Studium am Institut sei, so versichert mir ein früherer Abgänger, wohl mit der Bezeichnung «dreijähriges, wohlbehütetes Lektorat des ganzen eigenen Schaffens» nicht schlecht beschrieben.

Nach dem Apéro ist vor der Lesung

Im Anschluss an einen ausgiebigen Apéro lesen die jungen Literaturschaffenden jeweils aus ihren Diplomarbeiten vor. Die grosse Vielfalt an Texten nötigt dem Publikum ein hohes Mass an Aufmerksamkeit ab, dazu bietet die Zeitvorgabe von acht Minuten wenig Raum, um sich auf eine Autorin und ihren Text einzulassen – vor allem, wenn kurz darauf schon der nächste Autor auf der Bühne sitzt. Zum Glück gibt es nach der Hälfte der Lesungen eine längere Pause, in der man sich sammeln und versuchen kann, wie einen Überblick zu gewinnen.

Vor allem eine Tendenz zeichnet sich bei den Autorinnen und Autoren ab. Sie tönt zwar stark nach Klischee, ist aber doch auffällig: Die Texte der Herren dieses Jahrgangs hatten einen ausgeprägteren Hang zur Beobachtung, zur Nüchternheit. Die Phantasie, die hinter ihren Texten zweifelsohne auch steckt, trat in vielen Fällen weniger deutlich zutage als bei den Damen. Selbstverständlich gibt es auf beiden Seiten Ausnahmen. Als gemeinsames Thema wiederum kristallisierte sich, wie in der jungen deutschen Gegenwartsliteratur überhaupt, die Arbeit an Zukunftsvisionen heraus. Diese fielen allerdings nicht ganz so dystopisch aus wie bei den schon etablierten Kolleginnen und Kollegen.

Reinhören: Maschinistenlyrik, Drahtseilakte, Lust und Not

Nehmen wir es vorweg: In Biel wurde auch in diesem Jahrgang auf gutem Niveau viel geschrieben, aber nicht alles davon würde der Verfasser dieser Zeilen in extenso lesen wollen. Hören wir also, ganz subjektiv, in einige der Texte herein:

Ganz unterschiedliche Zukunftsszenarien entwarfen Colin Bottinelli mit seinen «Les sonates de la terre errante» und Lara Hajj Sleiman mit ihrem Prosaprojekt «Das elektronische Mädchen». Bottinelli schreibt Lyrik aus der Sicht von Ausserirdischen. Hier werden die irdischen Grenzen thematisiert und gesprengt; das Leben nach oder abseits unserer Welt rückt ins Zentrum, die machinistes, die eher funktionieren als leben. Das tönt ein wenig dystopisch, wird aber mit durchaus Exupéry’schem Charme zu einem angenehmen Hörerlebnis gestaltet. Hajj Sleimans Text hingegen ist ein Hybrid aus Science-Fiction- und Kriminalroman. In einer nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt, spielt er in einer Welt, die von Hologrammfernsehen und Verhaltensmodulationsgeräten geprägt ist. Mit viel Ironie und Anklängen an David Foster Wallaces «Infinite Jest» und die Serie «Black Mirror» wird nach einer Zukunft jenseits der Unterhaltungsgesellschaft gefragt. Nach einer solchen fragt auch Julia von Lucadous Roman «Stellen sie sich den Körper in seiner Unendlichkeit vor», der in einer zukünftigen Gesellschaft spielt, in der das Überleben von Leistungspunkten abhängt und ein Sprung vom Hochhaus den neuen Drahtseilakt darstellt.

Vom Drahtseilakt des Erzählen des Erzählens liessen sich neben vielen anderen Jennifer König und Baba Lussi inspirieren. Jennifer König wechselte in «Fäden» gleich dreimal die Perspektive. Dass die grossen Erzählstränge, in denen es u.a. um Kindesmissbrauch, Sex und Feuchtigkeit geht, irgendwo zusammenlaufen, steht zu vermuten. An diesem Abend mochten aber weder der publizierte Textausschnitt noch Königs schriftlicher Kommentar allzu viel darüber verraten. Baba Lussis «Abgang. Ein Anfang» gab sich als «eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte» aus und arbeitete ebenfalls mit Erzählsträngen, die ineinander übergehen und dabei die Unendlichkeit des Erzählens thematisieren. Mit deutlichen Anklängen an Kleist legt sie einen starken Fokus auf Rhythmik, obschon der gedruckte Text sich als Prosa tarnt. Einen wirklich überzeugenden Weg, vom Erzählen zu erzählen, ohne ständig vom Erzählen zu reden, findet Raphaël Schmid in «Tal/Berg/Fluss/Beton». Will der Ich-Erzähler zunächst von einem Mann namens Steiner erzählen, drängt sich zunehmend sein eigener Alltag dazwischen. Als Shifter zwischen den Erzählebenen fungieren gut komponierte Details, die als Erinnerungskeime dienen.

Eine weitere Gruppe von Texten lässt sich unter dem Titel von Marshall Maihofers «Erzählungen eines Lustlosen» betrachten. Neben Maihofers Verweigerer, der sein Haus nicht mehr verlässt und als Beobachter bissige Charakterportraits und detaillierte Beschreibungen der Szenerie liefert, fiel auch Gian Snozzis «Ein Buch über Hauser» positiv auf: In seinem Roman erzählt Snozzi die Geschichte eines Mannes, von der er erklärtermassen nicht weiss, was sie bedeutet, die zu erzählen ihn jedoch sein Interesse nötigt. Was dabei herauskommt, ist ein sorgfältig beobachteter Einblick in das Leben einer religiösen Schweizer Familie in den 1970er Jahren. Nüchtern erzählt, findet sich dennoch ein grosser Zorn auf die Religion, auf versagende Ärzte, die eigene Mutter und auch auf sich selbst. Lust- bis ratlose Gestalten finden sich auch Samuel Macherels «Chaoscratie», einem Text über eine anarchistische Wohngemeinschaft von Studenten, die sich entschlossen haben, keinen Gesetzen mehr zu folgen. Nur selten regiert eine Instanz in ihrem Haus: die Stille. Wenn das Buch fertig ist, könnte es sich lohnen, es zu lesen.

Dem immer aktuellen Thema der Interkulturalität widmete sich u.a. Elodie Masins Erzählung «Ecoute les oiseaux! Tu sais ce qu’ils disent?» über eine junge Französin und ihren muslimischen Freund Zemzem. Die dialogische, stark mündlich geprägte Form des Textes wird als Reflexion der Akzeptanz des Fremden und die damit möglicherweise verbundene Selbstaufgabe kenntlich, kommt über Allzubekanntes aber nicht immer hinaus. Kraftvolleres zum Thema findet sich dagegen in Manuel Andrea Naefs dreiteiligem Romanprojekt «Mulatt». Der Autor selbst bezeichnet ihn als «Hommage an die Ausgegrenzten, Minderheiten und Randständigen» und erzählt die Geschichten von drei Menschen, die alle eher unsicher im Leben stehen. Dieser Unsicherheit soll nun die Sprache als mächtiges Instrument entgegengestellt werden, wobei es der Autor mit seiner sprachlichen und szenischen Drastik gelegentlich übertreibt. Spuren des aktuellen Flüchtlingsdiskurses lassen sich ausserdem in Maria Ursprungs formal anspruchsvollem, zwischen Prosa und Drama changierenden Text «Not» ausfindig machen, der unter anderem von Hamed, einem Flüchtling mit hängigem Asylantrag und Menschen, die auf einem Schiff namens «Not» unterwegs sind, erzählt. Interessant, aber im Ausschnitt noch zu wenig zu überblicken. Was selbstredend auch für alle anderen der hier vorgestellten und mehr noch für die teils mit Freude, teils mit Irritation gehörten, aber hier nicht berücksichtigten Texte gilt. Schauen wir also, freudig gelassen, was von diesem durchaus aussichtsreichen Jahrgang in nächster Zeit seinen Weg in die Läden und vielleicht auch ins «Buchjahr» findet.